„I waiß schu, daß i it viel ka.“ Dies war der Leitspruch des Heimatdichters Otto Hengge. Mit der Neuauflage seines Büchleins „D’Huimat“ drückt der Verschönerungsverein Oberstdorf seine Hochachtung für meinen bescheidenen Vorgänger an der Schulleitung der Volksschule in Oberstdorf aus.
Mitten in „Bayerns Goldenem Zeitalter“ erblickte Otto Hengge am 23. Mai 1870 in Oberstdorf das Licht der Welt. Seine Eltern Ludwig Hengge und Genovefa Kappeler hatten im Jahr zuvor geheiratet. Seine Mutter entstammte einem alteingesessenen Oberstdorfer Bauerngeschlecht. Sein Vater, ein Wertacher, stand zu diesem Zeitpunkt als Jagdgehilfe in den Diensten des Prinzen Luitpold von Bayern. Im Laufe der Jahre stieg er zum Jagdaufseher auf. Otto wohnte zusammen mit seinen Eltern und seinen 5 Schwestern am damaligen Ortsrand im Haus Nr. 129 (heute Obere Bahnhofstr.3, siehe Bild).
Nicht nur für Familie Hengge war der Prinzregent ein Glücksfall. Oberstdorf erfuhr besonders in seiner schwersten Zeit, dass die Volksnähe des Prinzregenten ungekünstelt war: Als im Mai 1865 unser Ort halb abbrannte, spendete er spontan eine große Geldsumme und stellte sein Jagdhaus als Notquartier zur Verfügung. Sicher war Otto auch einer der Nutznießer, wenn der Prinzregent alljährlich an seinem Geburtstag allen Schulkindern einen freien Schultag, eine Wurstsemmel und ab der dritten Klasse auch einen Schoppen Bier spendierte.
Doch für Otto sollte das Wohlwollen des Landesherren noch weitreichendere Folgen haben. Als sein Lehrer Lochbrunner in der Schule merkte, dass Otto Talent zu Größerem besaß, ermöglichte ihm der Prinzregent nach seinem Volksschulabschluss 1882 eine weitere schulische Laufbahn. Zuerst durfte er die Vorbereitungsschule für das Lehrerseminar, die sogenannte Präparandenschule besuchen. Danach kam er in das Lehrerseminar in Dillingen.
Leider hatte diese Unterstützung einen kleinen Haken. Nach dem Ende seines Studiums wurde er weit weg von seiner Heimat im schwäbischen Unterland als Lehrer eingesetzt. 1908 kam er schließlich nach Schwangau und war somit wenigstens in Gebirgsnähe. Erst 1925 in seinem 55. Lebensjahr erreichte er die Rückversetzung in seine geliebte Heimat, als Oberlehrer Scheller in Ruhestand trat. Er übernahm die Schulleitung und unterrichtete von da an die Klassen 5 mit 7 der katholischen Knabenschule. Fast alle Oberstdorfer Buben von den Jahrgängen 1913 bis 1923 durften bei ihm in die Schule gehen. Ludwig Müller, ein ehemaliger Schüler, beschrieb ihn treffend in einem Jahrgängerheft mit folgenden Worten: „Er hat sich … als Jugenderzieher und Mensch Achtung und Liebe erworben.“
Daneben stürzte sich Otto Hengge in das gesellschaftliche und kulturelle Leben des Ortes. U.a. war er Mitglied im Obstbau- und Bienenzüchter-, Realschul- und Gesangsverein, dem er übrigens schon 1888 als Bariton beigetreten war. Bei den in dieser Zeit besonders beliebten Fastnachtsbällen wurde er ins „Kostüm-Preisgericht“ gerufen. Politisch war er für die Gruppe Fremdenverkehr im Gemeinderat aktiv und setzte sich damals unermüdlich für das Museum ein.
All dies hätte den Oberlehrer Hengge in Vergessenheit geraten lassen, wie dies mit vielen seinen engagierten Kollegen und Kolleginnen geschah. Doch ein kleines Büchlein machte ihn für Oberstdorf unsterblich.
„D’Huimat“ – Dichtungen in Oberstdorfer Mundart – so heißt dieses Werk, mit dem er Pionierarbeit leistete. Es ist wohl der allererste Oberstdorfer Gedichtband, der in Mundart und trotzdem verständlich und lesbar geschrieben wurde. „Was er in seine Verse hineinlegte, war der Landschaft, war seinen lieben Oberstdorfern abgeguckt und abgelauscht. Nachdenkliches, Humor und mitunter einen leisen Spott wusste er treffsicher anzubringen.“ (Ludwig Müller) In seinen kreativ gestalteten Gedichten beschrieb er liebevoll das Leben in „Alt-Oberstdorf“ und erhielt diese damit für die Nachwelt. Dass er dabei mit „Us israr Zit“ auch die aktuelle Politik aufgriff und die unendlichen Debatten des "Viermächte-Kontrollrates" in der Nachkriegszeit persiflierte, erzählte mir Eugen Thomma.
Noch heute werden seine Verse gerne bei verschiedenen Gelegenheiten rezitiert. So finden sich in der Grundschule immer wieder bereitwillig Kinder, die „Isa Mueddr“ für den Muttertag auswendig lernen. Einige seiner Gedichte wurden vertont – teils auch von ihm selbst – und sind Bestandteil des Oberstdorfer Liedgutes geworden.
Otto Hengge war ein langes und gesegnetes Leben beschieden. Am 1. April 1960 verstarb er mit beinahe 90 Jahren, doch mit seinem Lebenswerk bewies er, dass er „bigobladd doch viel ka“!
Alex Rößle