Johanna Vogler (* 4. 10. 1891)
Johanna Vogler (* 4. 10. 1891) – so lautete ihr richtiger Name – war eine der wenigen Originale, die Oberstdorf vor Jahrzehnten noch zu bieten hatte. Wo der Name „Hüeddare” herkommt, entzieht sich meiner Kenntnis, vielleicht war einer ihrer Vorfahren ein Hutmacher.
Mitte der 1940er Jahre hat mich, auf einem Kofferwägele mit eisernen Rädchen sitzend, meine Mutter mitgenommen in den Dietersberg. Mir waren auf dieser Fahrt, halb sitzend niedergekauert, die Füße eingeschlafen auf der Strecke von der Bannholzsiedlung hinauf zur Hüeddare. Es war Heuerntezeit und meine Mutter half ihr, da sie allein war, das Heu unter Dach und Fach zu bringen. Ein Liter Milch war die Entlohnung für meine Mutter, mehr konnte sie nicht erwarten von ihr, die ja selbst nicht viel hatte. Auch ihre Katzen, an die zehn oder manchmal auch mehr, wussten ja die Milch zu schätzen, hatten sie doch nicht nur Mäuse auf ihrem Speiseplan – nebenbei erwähnt, mausfrei war es in dem alten Bauernhaus bestimmt. Zudem lieferte sie auch in guten Zeiten mit ihrem „antiken” Fahrrad einmal am Tag an die 20 Liter Milch auf dem Gepäckträger in die Sennküche in Oberstdorf. In ihrer „rüstigen” Zeit fuhr sie noch, später ging es nur noch mit Schieben.
Diese tägliche Fahrt bzw. dieser Gang ins Dorf bot für sie die einzige Möglichkeit, mit Leuten, die sie dabei traf, Gespräche zu führen. Ihr allgemein bekannter Ausspruch war dann stets: „So, so, ja des ischd g’wieß, ja, ja.”
Nur zweimal im Jahr ging ihr Weg über den Burgstall. Einmal wenn es auf Schlappold ging mit ihrer Kuh, wobei ich ihr als Treiber ein paar Mal half bis zur Viehsammelstelle im Ried. Das andere Mal war es zum Viehscheid am 13. September. Dabei empfing sie beim Ausscheiden nur ihr Rind, um es noch zur selben Stunde wenn möglich zu verkaufen, denn sie musste ja mit ihren Milchkühen über den Winter kommen. Da floss dann bei ihr schon manch heimliche Träne.
Auf der Alpe Schlappold hatte Johanna einmal eine einzige Milchkuh, die aber unter 80 bis 100 Kühen die beste von allen war. Demnach hätte diese den Kranz bekommen müssen. Doch die Hirten erhofften sich von ihr aber, wenn überhaupt, nur wenig Kranzgeld und so ergab es sich, dass eine andere Kuh den Kranz erhielt. Irgendwie ist es die Hüeddare doch inne geworden und hat daraufhin den Schlappoldern einen Hunderter vor die Nase gehalten, mit der Bemerkung: „Bei mir hätted d’r öü a Krônzgeald kriet”. Da haben die Hirten schön dumm geschaut, den von dem anderen, dem bevorzugten Kranzbauern, haben sie nicht annähernd soviel bekommen.
Zu meiner Alpzeit auf der Sölleralpe hatten wir u. a. fünf Bauern, die zufällig auch drei Kühe auf der Alpe hatten. Wiederum waren es die drei Kühe der Hüeddare, die dabei die besten waren. Wenn ich mich recht erinnere, hat es aber in diesem Sommer nicht für einen Kranz gereicht wegen Absturz eines Jungrindes.
Behandelt hat sie ihre Kühe immer gut, was die Tiere nicht vergessen haben. Wenn die Herde, es waren insgesamt 33 Kühe, sich im Dorf aufgelöst hat zur Heimkehr in die Ställe, so hat sie die ihren mit Namen gerufen – eine „Minka” ist mir noch in Erinnerung geblieben –, dann liefen sie ihr nach wie Hunde. Sie kannten eben die Stimme ihrer Besitzerin, sodass ich als Treiber überflüssiger Weise hinterher lief bis in den Dietersberg.
Das Heuen war so eine Sache bei Johanna. Als einziges Fahrzeug hatte sie einen uralten Wiesenkarren, den sie beladen vom Feld über die Auffahrt in die Tenne zog. Die Steilhalde Richtung oberer Dietersberg – heute total zugewachsen – bestiegen wir zur Heuernte mit Sense, Gabel und Axt. Axt? – ja, die brauchten wir, um Äste von einer Buche abzuhacken. Diese waren unser Transportmittel, auf das wir das Heu luden. Auf dem steilen Hang brauchten wir dabei nicht stark ziehen, sondern eher voranspringen, damit es einen nicht „nudelte”.
In späteren Jahren habe ich Hüeddars Johann (so sagte man auch) im Winter gelegentlich besucht. Da saßen fast ein Dutzend Katzen – es waren auch Invalide darunter – auf dem Herd beim Schifflesdeckel, wo es so schön warm war. Die bewegten sich erst, wenn es für sie etwas zu fressen gab. Schnurstracks saßen dann alle auf dem Tisch und schleckten aus einem Teller, zusammen mit der Hüeddare, die allerdings einen Löffel hatte. Wenn die Katzen zu aufdringlich wurden, schob sie den ganzen Verein unwirsch zur Seiten, mit den Worten: „Ei, ietz sind doch id so a’deer und lem’r öü no nammas”. Es war für mich imposant, diesem Katzenmahlzeit-Treiben zuzuschauen.
Bewegte man sich in der Küche, bekam man von ihr strenge Anweisungen wo man laufen durfte, um nicht in den Keller zu stürzen. Der Boden „gämpfte” und knirschte, es war nicht sehr vertrauenerweckend. Einmal ging ich mit ihr in den Stall. Da standen sechs Stück Vieh, was man aber nur erahnen konnte wegen der Dunkelheit, trotz hellichtem Tag. Im Stall waren zwar zwei Fenster, wobei von vier Fensterabteilungen drei mit Streue zugestopft waren wegen fehlender Glasscheiben. Das eine Fensterteil, durch das hätte Tageslicht einfallen können, war aber voll Mist und Spinnweben. Da war es gut, dass die Tränke wenige Meter vom Stall im Freien unter einem Ahorn war, sodass die Tiere wenigsten hin und wieder Frischluft schnuppern konnten. Es war aber nur ein Wasserloch, da gab es schon ein Drängeln bei der vierbeinigen Gesellschaft. Es kam sogar vor, so erzählte man sich, dass das Vieh einmal reißaus genommen hat und bis nach Oberstdorf galoppiert ist. Wie sie es wieder eingefangen hat, „fern der Heimat”, ist mir nicht bekannt geworden.
Das Dach ihres uralten Bauernhauses hatte eine Zeitlang ein Loch von ca. einem Quadratmeter. Passanten, die am Haus vorbei gingen, fragten sie: „Ja, hast du keine Angst, dass jemand übers Dach einsteigen könnte?” Ihre Antwort darauf: „Nui, nui, wo nuiz ischd, ka’ba nuiz hole!” Da hatte sie schon recht, was hätte man bei ihr schon holen können? Eingedrungen ist bei ihr lediglich der Regen.
Es gab auch besorgte Leute, die fragten: „Ja was tust du, wenn du krank bist und Haus und Vieh versorgt werden müssen?” Die Antwort darauf: „Do ho i kui Zidd d’rfier.” Einmal sah Schwester M. Felana vom Ambulanten Krankenverein dennoch nach ihr. Was sie da mit der Hüeddare erlebt hat, schilderte sie folgendermaßen: „Meine bisher berühmteste Patientin möchte ich noch vorstellen, die sogar auf einem Kalenderblatt erschienen ist. Von ... bis zu ihr marschierte ich mit einem Eimer warmem Wassers; sie hatte weder Wasser noch Strom im Haus, dafür umso mehr Katzen.” Bei einem späteren Besuch wurde sie empfangen mit den Worten: „Khut se schu wiidr, die Beatnoggl. Hoschte z Oberstdoarf gar khui Arbat mea?” Die notwendige Körperreinigung wurde kommentiert mit: „Fr was sott iezt des Wäsche güet sing?”. Dass sie aber trotzdem nicht hinter dem Mond lebte, beweist, dass sie täglich die Zeitung las und deshalb auch informiert war, was über den Dietersberg hinausging.
Irgendwann musste Johanna Vogler doch ihr trautes Heim verlassen nach sieben Jahrzehnten. Sie kam ins Krankenhaus, denn man wollte es nicht verantworten, dass man sie eines Tages am Boden liegend fände. Tragisch war, dass man ihr einen Fuß amputieren musste, was ihr Lebensende bedeutete – Gott hab sie selig.
Diese Geschichte von Hüeddars Johann möchte ich schließen mit den von ihr oft gebrauchten Worten: „So, so, ja des ischd g’wieß, ja, ja!”