Ein wilder Klöüs
Das „Klöuse-gong“ oder Klausenlaufen dürfte aus einem der ältesten Kultbräuche der heidnischen Zeit stammen. Bei Kelten und Alamannen, ja bei allen Stämmen vor der Christianisierung, glaubte man an eine Vielzahl von Dämonen und Göttern. Für jede gute oder böse Sache war irgend ein Gott oder Geist zuständig, der auch dementsprechend verehrt oder gefürchtet wurde. Mit Opfern und Beschwörungen versuchte man, die Götter gnädig zu stimmen.
In den Hainen, den Thingplätzen und Kultstätten wurden diesen Göttern und Dämonen Pferde, Ochsen und Schafe geopfert; sogar Menschenopfer waren zu verzeichnen. Um die Götter zu ehren, wurde Met und bierähnliches Gebräu gereicht, dazu aus Teig hergestellte Brote, die der Gestalt der verschiedenen Götter, wie man sie sich vorgestellt hatte, ähnlich waren. In diesen Broten sehen wir den Ursprung der bis auf den heutigen Tag erhaltenen Formen der Klausenbrote und Klöusemändle, ja auch der Klöüseleakar (-lebkuchen) mit den Aufklebe-Klausen.
Der wilde Klöüs kann nicht mit dem hl. Nikolaus gleichgesetzt werden, obwohl eine gewisse Verbindung besteht.
In einer Veröffentlichung eines Kunstverlages entdeckt man eine Abbildung des Oberstdorfer Klausen mit dem Text: „Ein Oberstdorfer »Nikolaus«“. Er hat allerdings wenig Änlichkeit mit St. Nikolaus, eher gleicht er jenem steinzeitlichen Magier aus der Höhle Trois-Freres. Im Buch von Wendt: „Ich suchte Adam“, können wir lesen : „Es wäre denkbar, daß die Oberstdorfer Klausen in Hirschgestalt der letzte Rest eines vorzeitlichen Kultes zu Ehren des keltischen Gottes Cemunnos sind. Dieser trug ein Hirschgeweih. Noch im Mittelalter mußte die christliche Kriche gegen das heidnische Hirschen-Spielen mit geistlichen und weltlichen Strafen vorgehen“.
Andere Volkskundler wollten in den wilden Klausen die Götter Wodan und Thor fortleben sehen. Dies scheint mir aber unwahrscheinlich zu sein, da es nicht zum Wesen eines germanischen Gottes gehörte, als schellenbehangener Krawallmacher sich darzustellen.
Die Überlieferung berichtet von einem Kult zur Geister- und Dämonenvertreibung. Die Alamannen hatten „sprechende“ Amulette aus Bergkristallwirteln und Glasringen (aus fränkischem Glas) in derselben Funktion wie die „Donarskeulen“ aus Bein und Teilen von Kettenpanzern, welche an Lederriemen am Gürtel getragen wurden und durch das scheppernde Geräusch und Gerassel als Abwehr des Bösen diente.
Hier finden wir die Merkmale der damaligen Zeit bei den wilden Klausen versinnbildlicht und übertragen. So deuten die heutigen Klausen nur auf diesen Brauch hin, als einstmals in vorchristlicher Zeit die dämonenverscheuchenden Lärmumzüge vor den zwölf Rauhnächten stattfanden. Man erkennt den Zusammenhang auch darin, daß der damalige Dämonenverscheucher mit viel Lärm und Krawall seine Aufgabe erledigte.
Dieser Lärm hatte einst denselben Zweck wie der Lärm am Polterabend vor einer Hochzeit. Auch dieser Brauch sollte die bösen Geister und Hexen aus der Nähe der Menschen und von den Brautpaaren fernhalten.
Nach der Christianisierung pflegte man diese heidnischen Kultbräuche weiter. So erfahren wir, daß zu Beginn des Wintermonds (Adventszeit) bis zur Wintersonnenwende (Weihnachten), die Zeit bevor die Rauhnächte begannen, von jungen Burschen die Dämonenvertreibung vorgenommen wurde. Mit Schellen und Rasseln, mit Trommeln und Klappern rannten sie krakeelend durch die engen Gassen der Ansiedlungen. Nur mit möglichst viel Lärm konnte man die Druden und Schratten, Mondgeister und Totengeister, und was es sonst noch alles an Bösem gab, aus den letzten Winkeln vertreiben.
Vielleicht wollte man sich selbst auch etwas mehr Mut machen mit dem Lärm und Gerassel, um die dunklen Wintermonate in dieser abergläubischen, mystischen Vorzeit besser zu überbrücken. Es ist schwer für uns heute, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, als es kein Licht und keine Laternen in den schmalen Gassen und den eng zusammengebauten Häusern und Hütten gab, als die Nächte ohne Mond nicht den geringsten Schimmer einer Helligkeit hatten.
Im 7. und 8. Jahrhundert war die Christianisierung in den Ebenen und an den zugänglichen Flüssen und Seen so gut wie abgeschlossen. Doch der Glaube an die Geister und Dämonen war so schnell nicht aus einem Volk herauszutreiben. So mußten die irischen Mönche, Columban, Gallus und Magnus und wie sie alle geheißen haben, doch viele Zugeständnisse machen. Die Bekehrer waren bereit, heidnische Götter und Dämonen in ihre Lehre mit einfließen zu lassen. Die Kirche bemächtigte sich gerne der alemannischen Kultstätten, Haine und Hügel, ja sogar der römischen Trümmerstätten zum Bau von Kirchen und Kapellen. Es war so leichter, die Menschen zu bekehren; denn sie hielten doch lange am hergebrachten Kult fest.
In den von den Bauern gerodeten Tälern hielt sich das gewohnte Brauchtum besonders lang. Die Bergdörfer, die kaum Kontakt mit der Außenwelt hatten, überlieferten diese Kultbräuche und Tänze fast unverfälscht.
ln Gegenden wie Oberstdorf, im Mittelalter im ganzen Allgäu, erscheinen wilde Klausen in ganzen Rudeln. Diese Horden von Rumpelklausen sind wohl die unmittelbaren Nachfolger der alten heidnischen Gesellen. Auch in anderen Gegenden hat sich der Klausenbrauch erhalten, zwar in veränderter Form, doch mit denselben Hintergründen und Zielen. Wir kennen den Butzenmandl im Rupertiwinkel, das Tiroler Perchtenlaufen, das Schemenlaufen in Telfs und Imst und den Graubündner Tannemutze. Diese Aufzählung ließe sich noch erweitern.
Die Kirche stand den wilden Gesellen stets mißtrauisch, ja feindlich gegenüber. In Predigten des Mittelalters wurde das Klausentreiben als heidnischer Greuel bezeichnet. Damit war aber keinesfalls der hl. Nikolaus gemeint. Auch weltliche Stellen hatten das Klausentreiben öfters aufs Korn genommen und zum Teil auch mit Erlassen eingeschränkt.
Doch allen Verboten und Beschränkungen zum Trotz konnte dieser Brauch nicht ausgerottet werden. Die „Sündhaftigkeit“ des Klausenlaufens ist dem Volke nie ganz bewußt geworden, wie es die Prediger gerne gehabt hätten.
Auch in der Kleidung und Aufmachung der Klausen sieht man heute noch die Merkmale der heidnischen Überlieferung. Man war damals mit Jacken, Hosen und Umhängen (Mänteln) aus verarbeitetem Leder oder Fellen bekleidet. Für die Klausen hat sich in den vielen Jahrhunderten hierbei wenig gändert. Zur alamannischen Geistervertreibung trugen die Burschen Fellmasken, um von den Dämonen und Geistern nicht erkannt zu werden. Auch die Klausen von heute wollen sich mit diesen Gesichtsfellen unkenntlich machen.
In verschiedenen Aufzeichnungen lesen wir von der Gewandung der Klausen. Eine der interessantesten dürfte die aus dem Jahre 1646 sein, welche die Formulierung enthält: „... einen buzenmann, so in einem lezen beiz und schellen herumlaufend, alß für St. Clausen, die kinder zue verschröcken,... (zit. nach: Birlinger, Alemannia, Bd. 3). Nicht nur die Beschreibung des Pelzes und der Schellen scheint mir interessant zu sein, mehr noch der Beweis, daß die Lebenskraft eines alten Brauchtums sogar in den schrecklichen Wirren des Dreißigjährigen Krieges nicht unterzukriegen war und weitergelebt hat.
Zur Fell- und Pelzbekleidung der Klausen gehörte der selbstgebastelte „Klöüsegrind“. Ob bei den vorchristlichen Hirschespielen, beim Treiben im Mittelalter und in der Neuzeit immer schon Gehörne dabei waren, läßt sich nicht genau ergründen. Wahrscheinlich war es so; denn in den Sagen und Beschreibungen werden Bocksgehörne aufgeführt. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts wird ebenfalls von Hörnern bei den Klausen berichtet, und bis heute haben sich die phantasiereichsten Klausenköpfe entwickelt. So lassen sich Bärenköpfe, präparierte Marder und Iltisse, Vögel- und Wildköpfe neben den Hörnern der heimischen Wild- und Haustierarten entdecken. Von harmlosen Fellkappen bis zu den furchterregendsten, batteriebetriebenen Blinkaugen kann man allerhand Grotesken erleben.
Doch die schönsten Klausenköpfe und Felle waren nie das Wichtigste des Klausenbrauches, vorrangig war der Lärm, den sie verursachten, damit die Dämonen vertrieben werden konnten.
Wenn in frühester Zeit die Klausen oder die vorzeitlichen Dämonenvertreiber immer am Anfang des Wintermonds, d.h. zu Beginn des Winters vor den Rauhnächten, ihr (Un-) Wesen trieben, so hat sich seit dem Mittelalter das Klausenlaufen auf den 5. Dezember eingespielt gehabt, also auf den Vorabend des Nikolaustages.
Erst seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts wurde das Klausenlaufen auf den 6. Dezember festgelegt. Eine Begründung dafür läßt sich nicht finden.
In der Zusammenlegung der Termine finden wir die direkte Beziehung zwischen den wilden Klausen und dem braven St. Nikolaus. Der wilde Klaus wird mancherorts auch als Knecht Ruprecht oder, wie eine mittelalterliche Bezeichnung festhielt, als Krampus bezeichnet.
Daß St. Nikolaus mit dem wilden Klausen identisch sein könnte, ist schon deshalb nicht möglich, weil der keltisch-germanische Brauch wesentlich älter ist als der christliche Nikolaus.
Erst nach der Seligsprechung des hl. Nikolaus und nach Einführung des Gregorianischen Kalenders wurde der Patronstag auf den 6. Dezember festgelegt.
Der hl. Nikolaus war der große Freund der Armen und der Kinder. Er geht zurück auf zwei historische Persönlichkeiten: auf den Bischof Nikolaus von Myra, Anfang 4. Jahrhundert, und auf den Abt Nikolaus von Sion, gest. 10.12.564 als Bischof von Pinara-Lykien. Zuerst wurde Nikolaus nur als Heiliger in Myra verehrt, dann im 6. Jahrhundert auch in Byzanz. Im 9. Jahrhundert kam der Kult nach Italien und im 10. Jahrhundert nach Deutschland. Nikolaus ist der Schutzpatron für alle Fahrenden, Kaufleute, Studenten, Schiffer, Gaukler, ja auch der Diebe und Räuber. Allgemein gilt er als Nothelfer. Es sind viele Kirchen und Kapellen ihm zu Ehren geweiht.
Als Schulpatron wurde er zuerst in den Klosterschulen genannt, und ab dem 16. Jahrhundert galt er als der Heilige, der alle braven Kinder beschenkt; den bösen wurde auch damals schon mit der Rute und dem Sack gedroht, in den sie gesteckt würden, falls keine Besserung eintritt.
In neuerer Zeit übernimmt nun auch der „wilde Klaus“ einige Funktionen des hl. Nikolaus. So sind Hausbesuche und Bescherungen durch wilde Klausen heute üblich. Der große Kinderschreck hat seinen Nimbus als Geister- und Dämonenvertreiber fast gänzlich verloren.
Wenn in früheren Jahren sich am Klausentag niemand auf die Straße wagte, ohne Schaden zu nehmen, so ist der alte Brauch heute zu einem Schauspiel geworden, der die Massen anzieht und viele in der größten Kälte ausharren läßt, bis die Klausenrudel auftauchen. Leider geht hier ein Stück Überlieferung, echter Brauch, in eine verwässerte Form über. Doch hoffen wir, daß uns das „Klöüse-gong“ auch in der Zukunft erhalten bleibt und daß sie noch lange „wiescht tind, wie de wilde Klöüse“.
Literaturhinweis: Wendt - Ich suchte Adam. Bierlinger - Alemannia, Bd. 3. Das schöne Allgäu, Nr. 23, 1940; Dr. Weitnauer. Rainer Christlein - Die Alamannen.