Oberstdorfer Sagen - (Teil 3)

von Alexander Rößle am 01.12.1997

III. VENEDIGERMÄNNLE

Venedigermännle holt Schlamm aus dem Christlessee

Der Christlessee in der Spielmannsau bei Oberstdorf ist berühmt wegen seines klaren Wassers und seiner schönen, bald grünen, bald blauen Farbe. Es heißt, dieser See friere nie zu.

Hierher kam in früheren Zeiten alle Jahre einmal ein kleines fremdes Männle in sonderbarer Tracht. Es ließ sich im nächsten Hause eine Schaufel geben und hob damit vom Seegrund feinen Schlamm aus, trocknete ihn und barg ihn dann in seinem Sacktüchlein. Wenn es die Schaufel zurückgab, sagte es gewöhnlich: „So, jetzt hab ich wieder auf ein Jahr genug zum Leben. ” Was das Männle mit dem Schlamm angefangen hat, weiß man nicht, aber man hielt dafür, daß er Goldstaub enthalte oder daß er sich in Goldsand verwandeln lasse

Nach allerlei gruseligen und dämonischen Sagen in den letzten beiden Artikeln wollen wir uns heute begreifbareren Themen widmen. Eine ganze Reihe unserer Allgäuer Sagen beschäftigen sich mit den „Venedigermännle”. Woher kamen sie? Was machten sie? Wie sahen sie aus?

Besonders zur letzten Frage finden wir leider nicht viele Antworten in unseren Sagen. Daß sie eine „sonderbare Tracht” tragen sollten, haben wir ja schon in der ersten Sage erfahren. In der Sage vom Venedigerspiegel werden wir hören, daß sie recht klein sein müßten. Eine Sage aus Ehrenbichl in Tirol gibt hierüber noch genauer Auskunft: Es waren . . kleinwinzige Männle, die kaum tischhoch waren und auf dem Kopfe einen großen Hut hatten, unter dem große Ohren sichtbar waren.

Sie steckten in einem langen, talarähnlichen Rocke, der ihnen bis zu den Knöcheln hinabreichte . . ,. In einem Artikel der Zeitschrift »Das schöne Allgäu« meint der mir unbekannte Verfasser: „Die Kleidung der seltsamen Fremden, der lange Rock mit Kapuze, erinnert sehr an den Lodenumhang, der den erfahrenen Berggänger verrät. Woher er seine Informationen erhalten hat, bleibt mir unbekannt.

Auf jeden Fall werden die Venedigermännle im Buch »Allgäuer Sagen« immer so dargestellt. Im Laufe der Abhandlung werden wir noch mehr über diese Männer erfahren und feststellen, daß es sich jedoch um ganz normale Menschen handeln mußte, die sich höchstens wegen ihrer fremdländischen Tracht und ihrer Sprache von unseren Vorfahren unterschieden.

Wenden wir uns der ersten Frage zu. Schon der Name deutet darauf hin, daß es sich um Männer aus Venedig handeln muß. Wir werden im folgenden sehen, daß diese Vermutung auch teilweise stimmt, jedoch nicht immer zutrifft. In anderen Sagen aus dem Alpenraum, aus dem Harz und aus Thüringen werden die Venedigermännle auch Welsche oder Walen genannt. Beide Begriffe wurden früher für romanisch sprechende Menschen verwendet. Wahrscheinlich engt der Begriff „Venedigermännle” zu stark ein, und unsere Venediger waren Menschen aus dem heutigen Italien, der italienisch sprechenden Schweiz, aus Frankreich und auch aus Rumänien. Da in der Zeit des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit Fernreisen nicht unbedingt zum Alltäglichen gehörten, waren fremdländische Menschen besonders bei uns im abgelegenen Allgäu schon etwas ganz Besonderes und ebenso Unheimliches.

Auch die zweite Frage ist aus unserer Eingangssage leicht zu beantworten: Der Venediger holte sich Schlamm aus dem Christlessee. Der enthielt etwas Wertvolles, das ihm zum Leben für ein ganzes Jahr reichte. Das war natürlich eine Sensation, und wer von unseren alten Oberstdorfern hätte nicht gerne erfahren, was das sein könnte. Unsere Venediger aber hielten dicht, egal ob sie am Hochvogel hämmerten und klopften oder kostbare Erze an der Mädelegabel schürften, wie in der folgenden Sage:

Fahrender Schüler holt Erze von der Mädelegabel

An der Mädelegabel, die von dem vielbesuchten kleinen Dörflein Einödsbach aus besonders mächtig und großartig zum Himmel aufragt, gab es zu alten Zeiten an einer Stelle kostbare Erze in großer Menge. Dahin kam alle Jahre ein „fahrender Schuelar” und holte sich davon reiche Schätze. Die Stelle aber, wo dies war, weiß man jetzt nicht mehr und auch nicht, ob noch Erze dort wären.

Hier wird die Sage schon deutlicher. Es sind wertvolle Erze, die an der Mädelegabel gesammelt wurden. Natürlich herrschte schon bald die Meinung vor, daß es nur Gold oder Edelsteine sein konnten. Was sonst ist so wertvoll, daß ein Rucksack mit etwa 20 kg Gestein zum Leben für ein ganzes Jahr reichen würde. Es verwundert ein wenig, daß in dieser Sage von einem fahrenden Scholaren, einem studierenden Menschen, die Rede ist. Dies läßt die Vermutung aufkommen, daß es auch deutsch sprechende Menschen sein konnten, die damals auf der Suche nach den Schätzen der Erde waren.

Es muß hier auch erwähnt werden, daß der Themenkreis „Fahrende Scholaren” eigentlich viel weitschichtiger und tiefergehend ist, hier jedoch nur unter dem Aspekt der Erzsucher abgehandelt und als Synonym für die Venediger steht. Wollen wir uns jetzt der Frage nach den Schätzen genauer widmen.

Natürlich liegt die Vermutung nahe, daß in unseren Bergen abbauwürdige Goldvorkommen zu finden seien. Diese Hypothese wird durch einen Briefwechsel des Bischofs Heinrich von Augsburg mit dem Rettenberger Landammann Alexander Straub aus den Jahren 1629 bis 1636 gestützt. Dem Landammann wurde befohlen, italienische Goldsucher zu suchen und zu verhaften, um herauszufinden, in welchen Bächen und Flüssen sich der Goldsand befände.

Der Bischof von Augsburg war sichtlich besorgt, daß die Goldwäscher an seiner Steuerschatulle vorbei Gold ins Ausland brächten. Aber schon die Untersuchungen des Landammannes und auch die späterer Jahrhunderte fanden in unserer Gegend keine nennenswerten Goldvorkommen. In der Iller kann man zwar Gold waschen, der Arbeitseinsatz lohnt jedoch nicht. Doch sind die Ängste des Bischofs nicht unbegründet, denn wir wissen heute zuverlässig, daß im 16. Jahrhundert Zigeuner aus den rumänischen Ostkarpaten und den siebenbürgischen Westkarpaten das Goldwaschen aus Bachsanden beherrschten.

Diese romanisch sprechenden Zigeuner wanderten Mitte des 16. Jahrhunderts bei uns ein und begannen heimlich in einsamen Gegenden Gold zu „seifen”, wie es in der Fachsprache heißt. Doch schon bald erfuhren die Landesherren von ihrem Tun und verboten dies durch hohe Strafen. Da Zigeuner zu diesem Zeitpunkt noch recht unbekannt waren, wurden sie auf Grund ihrer Sprache sicherlich mit Italienern verwechselt.

So endete diese Episode kurz und schmerzlos. Die Zigeuner hörten das Goldseifen einerseits aus Angst vor Strafe und andererseits wegen Erfolglosigkeit nach wenigen Jahren auf. Dieses Ereignis konnte demgemäß auch kaum die Gemüter der Menschen nachhaltig beschäftigen, daß sich die Sagen bis in unsere Zeit hielten.

Wenden wir uns wieder dem Begriff „Venedigermännle” zu. Er führt uns direkt in die Welthandelsstadt Venedig des Mittelalters. Bekannt war sie unter anderem wegen ihrer Glasmanufaktur auf der Insel Murano. Dort wurden zur Färbung der Gläser die verschiedensten Mineralien verwendet. Zum Blaufärben des Glases wurde Kobalt benötigt. Aus verschiedensten Quellen kann geschlossen werden, daß dieser „Blaustein” vom frühen Mittelalter an bis ins 15. Jahrhundert aus Deutschland bezogen wurde.

Gefunden wurde es beim Silberbergbau, wo es eher störte, und durch Mineraliensucher, welche die deutschen Gebirge durchsuchten. Da jedoch das „Geheimnis” des Blaufärbens in ganz Italien und Frankreich bekannt war, ist es sehr wahrscheinlich, daß die Mineraliensucher aus dem gesamten romanisch sprechenden Raum stammten.

Anders sieht es mit dem am strengsten gehüteten Geheimnis der Muranoer Glasbläser aus. Nur sie kannten über viele Jahrhunderte eine Technik, mit der das Glas „wasserklar” gemacht werden konnte. Hierzu wurde ein Mineral gebraucht, das heute unter dem Namen Mangan bekannt ist. In Deutschland war das Mineral lange gänzlich unbekannt. Erst im 16. Jahrhundert sickerte langsam durch, daß bei uns ein unbekannter Stoff ausgegraben wurde, der nach Venedig verfrachtet wurde und Glas weiß mach. Da von diesem „Braunstein” nur kleine Mengen benötigt wurden, waren auch sicher nicht sehr viele Venediger unterwegs, die unauffällig die Täler absuchten, hie und da etwas fanden und das Gefundene danach genauer untersuchten. Natürlich kamen sie zu dem mühsam erkundeten Fundort auch jährlich zurück. Diese Besuche könnten theoretisch noch bis ins 19. Jahrhundert angedauert haben, da es erst im letzten Jahrhundert gelang, manganhaltige Mineralien im Bergbau zu gewinnen. Belege hierfür sind laut Dr. Helmut Wilsdorf wenigstens aus dem 17. und 18. Jahrhundert vorhanden.

Im 15. Jahrhundert waren für wenige Jahre in unserer Region auch Alaunsucher unterwegs. Sie wurden von der päpstlichen Kassenverwaltung ausgeschickt, da die bisherigen Alaunvorkommen in Phokia (frühere Handelsstadt in der Türkei) 1453 von den Türken erobert worden waren. Natürlich wurde der Handel mit den Feinden der Christenheit verboten und die Alaungewinnung zum päpstlichen Monopol erklärt. Schon nach sehr kurzer Zeit, nämlich im Jahre 1559, wurde das riesige Alaunvorkommen von Tolfa im Kirchenstaat entdeckt und im bis dahin größten Bergwerksunternehmen der Christenheit von nicht weniger als 6.000 Bergleuten gefördert.

Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen: Über mehrere Jahrhunderte hinweg kamen Erzsucher auf ihren Wanderungen durch das Allgäu. Bis auf wenige Ausnahmen, den fahrenden Scholaren, waren es romanisch sprechende Männer. Sie verhielten sich einerseits sehr geheimnisvoll, da sie ja das Ziel ihrer Suche nicht verraten durften, waren aber auf der anderen Seite als Fremde im Ausland sehr freundlich zu den Einheimischen. Von diesem überaus guten Einvernehmen erzählt auch die folgende Sage, in der das Wissen und Können der „Venediger” bzw. der „fahrenden Scholaren” mystisch überhöht wird:

Venedigermännlein reitet einen Drachen

Von einem Drachen wird erzählt, er habe in der Gemeinde Oberstdorf von Zeit zu Zeit die Hälfte aller Einwohner aufgefressen. Man hat geglaubt, mit diesem Ungeheuer könne vielleicht sinnbildlich die Pest gemeint sein.

Die Sage berichtet, daß der ungebetene Höllengast im mittleren Trettachtal hauste und daß wegen seiner Unersättlichkeit viele alteingesessene Familien aus der Gegend fortgezogen sind, bis eines Tages ein besonders gelehrter Venediger in einer Oberstdorfer Wirtschaft den Bauern versprach, sie von diesem Drachen zu befreien. Er wolle es ihnen zu Dank tun, sagte er, denn die Oberstdorfer seien allzeit freundlich gegen seinesgleichen gewesen.

Sagen - Heft 31

Das war den Oberstdorfern nun freilich recht. Ob sie nicht von einem sicheren Ort aus Zusehen könnten, wie er mit dem Untier verfahre, fragten sie das Kapuzenmännle. Jenes meinte, das könne wohl sein, und bestellte die Bauern auf die Zwingbrücke in Dietersberg, wo die Straße nach Gerstruben die Trettach quert. Es war mitten im Sommer und der Fluß deswegen nur ein armseliges Rinnsal. Da, auf einmal, kam ein wahrer Hochwasserstoß in mächtigem, gelbbraunem Schwall, gerade als ob überm Kratzer ein Riesenunwetter niedergegangen wäre. Mit dem Wasser aber kam der Venediger im Flußbett auf dem Drachen dahergeritten. Wie ein Wurm schlängelte sich der durch alle Windungen des Flusses. Lammfromm gehorchte er den lauten Zurufen des winzigen Reiters, der in einer fremden Sprache dem Untier allerhand Vorwürfe und Beschimpfungen zu sagen schien. Die seltsame Reise soll die Iller hinuntergegangen sein. Aber niemand weiß, zu welchem Ziel und Ende.

Im 16. Jahrhundert dürfte jedoch der Höhepunkt der Wanderungen überschritten worden sein, und nur noch ganz vereinzelt kamen Erz- und Kristallsucher in unsere Heimat. Warum sich die Sagen trotzdem über dreihundert Jahre hielten, das lag wahrscheinlich an zwei Gegebenheiten, die zu Beginn der Neuzeit Einfluß auf die Gedankenwelt unserer Vorfahren nahmen.

Landauf, landab versuchten sich Alchemisten im Goldmachen. Jeder Landesherr, der etwas auf sich hielt, hatte mindestens einen dieser „Wissenschaftler” in seinen Diensten. Sicher nicht ohne Neid beobachteten diese, daß die Venediger schon lange alchemistische Verfahren nutzten, um Gläser zu färben und - konnten sie vielleicht nicht doch auch Gold herstellen? Waren die Venediger die besseren Alchemisten? In der Gedankenwelt der damaligen Menschen entstand geradewegs die Assoziation: Goldschatz - Venediger. In der Sagentradition wurde Venedig sogar zur Hohen Schule der Alchemie, in dessen Universität Vorlesungen über das Schatzheben abgehalten wurden. Dabei ist es direkt eine Ironie der Geschichte, daß Venedig gar keine Universität besaß. Aber das kümmert die Sage wenig.

Eine weitere Tatsache mit rationaler Ursache führte zu einer Verstärkung der oben genannten Verbindung. Natürlich waren die Erzsucher als Wissenschaftler des Schreibens mächtig und führten sicher genaue Tagebücher über Fundorte und ähnliches. Hin und wieder ging so ein Büchlein verloren und wurde von einem Ansässigen gefunden. Aber die Einheimischen konnten damit überhaupt nichts anfangen, denn sie waren einerseits des Schreibens nicht mächtig, und dazu waren die Bücher auch noch in italienisch geschrieben. Um das Ganze noch geheimnisvoller zu machen, benutzten die Venediger oft eine Art Geheimschrift, von denen ich hier drei Beispiele aus dem unten angegebenen Buch wiedergeben will:

Sagen - Heft 31

Links: Bei diesem Zeichen
findet man rote Körner,
die zur Hälfte aus Gold sind

Mitte: Dies zeigt einen Berg,
in dem sehr viel Gold

Rechts: Bei diesem Zeichen
findet man in sogenannten
Walengruben gediegenes Gold
und Goldstaub zum Seifen.

Vielleicht hat auch der Trudeser von der Ebnat im Birgsau ein solches Venedigerbüchlein gefunden. Hören wir ein wenig hinein in diese Sage:

Der Trudeser findet ein Zauberbüchlein

Eine der vielen Geschichten, die sich die Leute einst von aufgefundenen Zauberbüchern erzählten, hat Reiser von der Ebnat im Birgsau bei Oberstdorf erfahren. Der alte Trudeser sah einmal im Riedwald auf einem Tannenstock ein altes Büchlein liegen. Der Bauer, neugierig, was das wohl sein könne, begann im Weitergehen darin zu blättern und zu lesen. Aber er verstand von dem, was er da las, kein Wort. Die Sprache war ihm fremd. Wie nun der Trudeser buchstabierend weitergeht, merkt er mit einem Mal, daß sich die Tannenwipfel neigen und daß die Bäume ächzen und rauschen wie im ärgsten Sturm, und dies alles, obwohl sich nicht das leiseste Lüftchen regt.

Wahrscheinlicher ist jedoch, daß er einem der vielen Plagiate auf den Leim gegangen ist, die ab dem 16. Jahrhundert enstanden. Sie nutzten die Geld- und Neugier der Menschen aus und gaukelten dem Leser vor, er könne hiermit reich werden.

Diese Zauberbüchlein waren ausnahmslos in deutsch geschrieben, was aber keinen störte, und sie wurden gegen teures Geld gehandelt und verstärkten in den Köpfen der Bevölkerung die Überhöhung der Venediger. Deshalb wurden diese nicht nur nicht vergessen, sondern sogar mit besonderen Eigenschaften ausgestattet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß diese Eigenschaften in den Sagen aber meist eher rational erklärbar und weniger mystisch weitererzählt werden.

So nutzte der Venediger zur Vertreibung des Drachen zwar eine fremde Sprache, mit keinem Wort wird aber von teuflischem Handeln gesprochen. „Auffällig ist vor allem, daß mit offener Bewunderung diesen Fremden ein hohes Maß an Ausdauer und Geschick und dazu ein naturkundliches Wissen und ein technisches Können zugeschrieben worden ist, während die Sage sonst von geheimen und magischen Kräften fabelt, wenn Schätze gehoben werden.

Nur selten verirren sich deshalb Elemente aus anderen Sagentraditionen in die „Venedigersagen”. So enthält die folgende Sage, die meines Erachtens zu den schönsten unseres Heimatortes gehört, ein paar wichtige Motive, die eigentlich den Zwergensagen zuzuordnen sind. Aber lassen wir uns jetzt in die geheimnisvolle Welt des Venedigerkönigs entführen:

Der Venedigerspiegel

Einmal wanderte ein Oberstdorfer durch den Hölltobel hinauf zur Dietersbacher Alp. Hinter Gerstruben war damals der Weg recht beschwerlich. Der Mann stolperte über einen Brocken und kommt so auf den Boden zu liegen, daß es ihm unter dem Felsen hervor grell in die Augen „blitzget”. Er greift nach dem Ding und zieht einen Spiegel heraus. Der ist nicht größer als eine Kinderhand, wenig gewölbt und von einem Metallrahmen umgeben, der funkelt und in allen Farben blinkt. Dieses Leuchten ist so stark, daß der Mann Mühe hat, in den Spiegel zu schauen.

Wie er den Spiegel aber so hält, so daß die Sonne dahintersteht, erkennt er im Glas die Höfats. Aber sie ist nicht grau und grün, wie er sie vorher sah, sondern sie ist mit Millionen goldener und silberner Tannenzapfen behängt, von oben bis unten. Und wie er ganz genau hinschaut, sieht er ein zwergenhaftes Männlein zwischen all diesem Reichtum herumkrabbeln. Es bricht sich Zapfen ab und steckt sie in einen Sack, den es kaum mehr mitziehen kann. So groß ist schon die Last, daß der Bauer meint, jetzt müsse es den Kleinen in die Tiefe reißen.

Da dreht sich das Männle um; aber es fällt nicht, sondern es steht und ruft zornig: „Wirf meinen verlorenen Spiegel weg! Ich muß aus der Wand fallen, wenn du ihn weiter hältst; und dir bringt er kein Glück”. Das jedoch will dem Manne schwer fallen, denn das funkelnde Ding ist wunderschön. Da ruft das Zwerglein wie in höchster Not: „ Wirf den Spiegel weg! Ich will dich reich machen dafür!” Das hört der Bauer schon lieber. Er wirft den Spiegel in die Alpenrosenbüsche neben dem Weg. Und wie der Mann jetzt zur Höfats hinaufschaut, ist sie felsgrau und mattengrün, wie immer und weder Goldzapfen noch Zwerg sind zu sehen.

Schon reut ihn seine Nachgiebigkeit, und er will sich eben wieder nach dem Spiegel bücken. Da steht mit einem Male das Männlein leibhaftig neben ihm, hält ihn am Ärmel und spricht: „Laß, das gehört dir nicht. Es wär dir Tod und Hölle. Der Teufel hat dir eine Falle gestellt. Hättest du den Spiegel nicht weggeworfen, wären wir beide jetzt tot! ”

Und dann erzählt der Kleine dem Aufhorchenden, daß er ein Venediger sei, daß den Venedigern alle Gold- und Silberschätze der Alpen gehörten, daß sie niemand stören dürfe, wenn sie sammeln, und daß sich glücklich preisen könne, wer ihnen in der Not helfe. Dabei nimmt das Männle einen Tannenzapfen aus seinem Säckle und drückt ihn dem Oberstdorfer in die Hand. Und eh ’ der Beschenkte noch ein Wort herausbringt, ist das Männle verschwunden.

Sagen - Heft 31

Da rennt der Bauer heim zu Weib und Kind, berichtet atemlos das Erlebte, macht Zukunftspläne und zieht schließlich den Schatz aus der Tasche. Auch ein Nachbar ist herzugekommen. Aber anstatt des Goldzapfens fällt ein braunschwarzer Roßbollen aus dem Sacktuch auf den Tisch. Da sind Gelächter und Spott gar groß. Ob er auch immer wieder versichert, der Venediger habe ihm Wohlstand versprochen.

Die Gläubiger wollen keine Geduld mehr haben mit einem solchen Narren. So kommt des Bauern Gütlein auf die Gant, und er muß mit seiner Familie ins Armenhaus. Aber er kann noch immer nicht glauben, daß ihn das Männle so betrogen haben sollte. Deswegen packt er heimlich den Roßbollen ein und wandert über die Berge bis nach Venedig, wo es nicht lange dauert, bis er dem Kleinen begegnet. Aller Bitternis seines Herzens läßt der Bauer jetzt freien Lauf, schimpft auf gut Allgäuerisch, nennt den Venediger einen elenden Spitzbuben und Schwindler, der ihn betrogen, obwohl er ihm das Leben gerettet und den kostbaren Spiegel zurückgegeben habe. Und schließlich gibt er dem Männle auch noch die Schuld, daß er vergantet worden war. Da aber muß das Männle so fürchterlich lachen, daß ihm die Kapuze vom Kopf rutscht.

Der Allgäuer merkt dabei, daß der Venediger steinalt ist, katzgrau und zahnluckig obendrein. Von dem Gelächter aber scheinen die Häuser zu beben, daß es unserem Allgäuer unheimlich wird. Aber da hat ihn das alte Männlein gerade im rechten Augenblick noch am Arm gepackt und in einen Palast gezogen. Sprachlos folgt der Bauer durch winkelige Gänge, bis sie in einen herrlichen Saal kommen. Eine große Menge von Kapuzenmännlein scheint da auf den Kleinen gewartet zu haben. Sie legen ihm einen Goldmantel um und führen ihn zu einem Thronsitz. Da merkt der Bauer, daß er es mit dem Venedigerkönig zu tun hat und wartet still.

Der König erzählt der Versammlung von der Begegnung an der Höfats und wie er den Bauern lohnte. Und als er zum Schluß die Versammlung fragt, ob sie damit einverstanden seien, stimmen sie alle zu. Der Oberstdorfer aber schüttelt den Kopf und sagt, indem er sein Tüchle auspackt: „Lüeget her! Hintanocha isch es a Roßbolle gsi!” Aber was da auf den Marmortisch fällt, das klingt, wie gute Dukaten klingen, und ist eine Goldkugel. Der arme Mann juchzt vor Freude und schreit: „Annele, Annele, wenn de nu do wäresch! ” Denn seinem Weib hätte er den Anblick gar so gern gegönnt.

Der Venedigerkönig ist gerührt und sagt ihm, daß nie ein Weib in dieses Reich kommen dürfe, daß er dem Allgäuer aber die Seinen in einem Venedigerspiegel zeigen könne. Wie der Bauer zur Wand schaut, sieht er in einem Riesenspiegel die Stube im Armenhaus. Sein Weib teilt den Kindern gerade das Brot aus dem Bettelsack. Da hält es den Mann nicht länger. „I mueß hui!”, ruft er und wendet sich nach der Tür. Die Venediger aber weisen ihn in einen Gang, durch den soll er laufen, ohne die Augen zu öffnen, eine halbe Stunde lang. Und dabei stecken sie ihm etwas in die Taschen.

Er folgt getreulich und rennt und rennt über ebenen Boden und steht nach kurzer Zeit am Fuß der Höfats, gerade an dem Platz, wo er damals den Spiegel gefunden hat. Fröhlich wie noch nie ist er den Weg nach Oberstdorf gelaufen. In seinen Taschen aber ist so viel gutes Venedigergold gewesen, daß von da an alle Not der Familie ein Ende hatte.

Elemente aus Zwergensagen sind hier einerseits der König und andererseits der Lohn, der sich als Roßbollen entpuppt. Die uralten, vorchristlichen Zwergensagen sind jedoch in unserem Sagenschatz meines Erachtens eher in den Sagen von den Wilden Männle aufgegangen - hiervon aber in einem später folgenden Artikel. Kommen wir zurück zu den Venedigern. Ein besonders interessantes Motiv in der letzten Sage ist der Zauberspiegel, der den Bogen schließt. Wer sonst konnte in früherer Zeit ein Glas herstellen, mit dem man Dinge vergrößert anschauen konnte? Nur die Glasbläser aus Murano waren hierzu in der Lage, und dazu benötigten sie Mangan aus unseren Allgäuer Alpen. Basierend auf „Realgegebenheiten” entstanden diese Venedigersagen, die uns einiges über Wissenschaft und Technik im Mittelalter und auch über die mannigfaltigen Verknüpfungen in der Alpenregion erfahren lassen.

Fortsetzung folgt

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