Wer durch Oberstdorfs Straßen und Gassen geht, den Süden und den Ortsrand erwandert, stellt immer aufs neue fest: Schon wieder wurde ein Haus abgebrochen. Schon wieder ist ein Stück des alten um die Jahrhundertwende entstandenen Baubestandes verlorengegangen. Es tut ein bißchen weh, wenn an der Stelle von lieblichen, etwas verspielten, braunen Holzhäusern nackte, weiße Betonkästen entstehen, an deren Balkone oft kein einziges Blümchen zu sehen ist. Wenn man sich in Gedanken die alten Bauten und deren Bewohner zurückruft, ist das Nostalgie? Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, ich erinnere mich gerne an jene Häuser und die Menschen, die dann lebten. Es macht aber auch Spaß, einmal die Geschichte eines Hauses zu beleuchten, das erhalten geblieben ist, und das will ich heute versuchen.
Am. 14. Mai des Jahres 1900 beurkundete der Memminger Notariatsverweser Ludwig Weidhofer einen Grundstücksverkauf, der Oberstdorf betraf. Westlich der Stillach, im „Schlechten”, wechselten die Plannummern 1617 und 1618 ihren Besitzer. Der Oberstdorfer Bäckermeister Josef Limbacher und Ehefrau Eva, geb. Gosch, veräußerten ihre beiden 0,331 ha und 0,082 ha großen Acker an den Memminger Kaufmann und Inhaber mehrerer Käsereien Emil Gutermann. Der „Kaufschilling” für das mehr als ein Tagwerk große Grundstück betrug 15.730,- Mark. Der Maurermeister Max Brutscher erhielt 120,- Mark Provision als Vermittler des Geschäftes.
Der ganze Vertrag erscheint nicht nur dadurch etwas absonderlich daß er im Notariat in Memmingen abgeschlossen wurde, sondern daß er zwischen Herrn Gutermann und Frau Limbacher abgehandelt wurde. Es war doch vor 10 Jahren noch völlig ungewöhnlich, daß Frauen solche Rechtsgeschäfte tätigten. Eine Attestierung des kgl. bayer. Notars Georg Michael Bauer aus Sonthofen bringt etwas Licht in die Geschichte. Dieser Jurist hatte in Oberstdorf den Bäckermeister Josef Limbacher in seinem Haus in der Hauptstraße 182 aufgesucht und zwischen ihm und der Ehefrau, Eva Limbacher, eine General- und Spezialvollmacht beurkundet. Nachdem der Notar in der Niederschrift extra betonte, daß dieses Amtsgeschäft in Limbachers
Schlafzimmer erfolgte, ist anzunehmen, daß der gute Bäckermeister aus gesundheitlichen Gründen nicht ins Notariat kommen konnte.
Im Jahre 1900 fertigte Amtstechniker Schneider aus Sonthofen die Baupläne. Bevor jedoch der Oberstdorfer Maurermeister Max Brutscher und der Langenwanger Zimmermeister Müller das Holzhäuschen erstellen konnten, hatte der Bauherr noch 150.-Mark ein Wegerecht vom Nachbarn Joachim Berktold zu erkaufen. »Stillachhaus« wurde das schmucke Häuschen nach der Fertigstellung 1901 von seinem Besitzer getauft. Es erhielt von der Gemeinde die Hausnummer 242.