Geschichten und Geschichte - was alte Häuser in Oberstdorf erzählen könnten .

von Eugen Thomma am 01.12.2001

Wer durch Oberstdorfs Straßen und Gassen geht, den Süden und den Ortsrand erwandert, stellt immer aufs neue fest: Schon wieder wurde ein Haus abgebrochen. Schon wieder ist ein Stück des alten um die Jahrhundertwende entstandenen Baubestandes verlorengegangen. Es tut ein bißchen weh, wenn an der Stelle von lieblichen, etwas verspielten, braunen Holzhäusern nackte, weiße Betonkästen entstehen, an deren Balkone oft kein einziges Blümchen zu sehen ist. Wenn man sich in Gedanken die alten Bauten und deren Bewohner zurückruft, ist das Nostalgie? Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, ich erinnere mich gerne an jene Häuser und die Menschen, die dann lebten. Es macht aber auch Spaß, einmal die Geschichte eines Hauses zu beleuchten, das erhalten geblieben ist, und das will ich heute versuchen.

Am. 14. Mai des Jahres 1900 beurkundete der Memminger Notariatsverweser Ludwig Weidhofer einen Grundstücksverkauf, der Oberstdorf betraf. Westlich der Stillach, im „Schlechten”, wechselten die Plannummern 1617 und 1618 ihren Besitzer. Der Oberstdorfer Bäckermeister Josef Limbacher und Ehefrau Eva, geb. Gosch, veräußerten ihre beiden 0,331 ha und 0,082 ha großen Acker an den Memminger Kaufmann und Inhaber mehrerer Käsereien Emil Gutermann. Der „Kaufschilling” für das mehr als ein Tagwerk große Grundstück betrug 15.730,- Mark. Der Maurermeister Max Brutscher erhielt 120,- Mark Provision als Vermittler des Geschäftes.

Der ganze Vertrag erscheint nicht nur dadurch etwas absonderlich daß er im Notariat in Memmingen abgeschlossen wurde, sondern daß er zwischen Herrn Gutermann und Frau Limbacher abgehandelt wurde. Es war doch vor 10 Jahren noch völlig ungewöhnlich, daß Frauen solche Rechtsgeschäfte tätigten. Eine Attestierung des kgl. bayer. Notars Georg Michael Bauer aus Sonthofen bringt etwas Licht in die Geschichte. Dieser Jurist hatte in Oberstdorf den Bäckermeister Josef Limbacher in seinem Haus in der Hauptstraße 182 aufgesucht und zwischen ihm und der Ehefrau, Eva Limbacher, eine General- und Spezialvollmacht beurkundet. Nachdem der Notar in der Niederschrift extra betonte, daß dieses Amtsgeschäft in Limbachers
Schlafzimmer erfolgte, ist anzunehmen, daß der gute Bäckermeister aus gesundheitlichen Gründen nicht ins Notariat kommen konnte.

Im Jahre 1900 fertigte Amtstechniker Schneider aus Sonthofen die Baupläne. Bevor jedoch der Oberstdorfer Maurermeister Max Brutscher und der Langenwanger Zimmermeister Müller das Holzhäuschen erstellen konnten, hatte der Bauherr noch 150.-Mark ein Wegerecht vom Nachbarn Joachim Berktold zu erkaufen. »Stillachhaus« wurde das schmucke Häuschen nach der Fertigstellung 1901 von seinem Besitzer getauft. Es erhielt von der Gemeinde die Hausnummer 242.

Häuser - Heft 39

Die Familie Gutermann im Jahre 1902 vor dem »Stillachhaus« in Oberstdorf, das damals noch allein in grüner Flur stand und einziges Wohnhaus zwischen Stillach und dem Ortsteil Reute war.

Von links: die Söhne Hellmuth, Walter, Hans, der Vater Emil Gutermann, Söhnchen Richard, die Mutter Emma, Hausmädchen Marie Rabus und die Söhne Armin und Rudolf.

Der Kaufmann Emil Gutermann führte über alle Ausgaben akribisch Buch. So erhielten der Maurermeister 2.478,36 Mark und der Zimmermeister 4.100,11 Mark für ihre Arbeiten. Ein gewisser Klein bekam 61,50 Mark für „Wasserleitung graben” und der „Mechaniker Geißler” 67,50 Mark für die „Brunnenleitung”. Ein „Abortsitz aus Ton” kostete 25,10 Mark. Der Bauherr vergaß weder die Fensterscheiben noch das geschmiedete Türchen für den Kachelofen zu notieren. Aus dem Gesamtgrundstück wurde der tatsächliche Baugrund mit 6.263,65 Mark berechnet, die dann in den 23.374,65 Mark Gesamtbaukosten enthalten sind. In den Baukosten waren auch das Glockentürmchen, welches das Haus bis heute ziert, und die Glocke enthalten.

Die Firma Keusch in Limburg an der Lahn hat das Glöckchen gegossen und mit folgendem Spruch verziert:

Töne für Gott, für Natur und Liebe
Töne für alles, was wahrhaftig beglückt
Töne für alle Häuslichkeit „Friede”
daß man dem Weltgetrieb wird entrückt
Gegossen für das Stillach-Heim der Familie Gutermann 1901

Zwischen den Zeilen ist herauszulesen, daß der vielgefragte Geschäftsmann in seinem neuen Häuschen hier in Oberstdorf Abstand von seiner Arbeit und den täglichen Sorgen suchte.

Nach Fertigstellung des Bauwerks, als es an die Einrichtung des Hauses ging, notierte Emil Gutermann auch fast jede Schraube extra: „Tisch 51,40 M.; 4 Stühle 42,- M.; Bänkl 19,- M.; Uhrkasten mit Uhr 60,- M.; Büfett 84,- Mark”, so ist in der Aufstellung zu lesen. Aber es kamen noch kleinere Beträge wie: „Waschtischchen 6,- M.; Schneeschaufel 4- M.; Fußschemel 2- Mark”. So ließe sich die Reihe noch lange fortsetzen, bis endlich die genaue Endsumme von 2.619,64 Mark erscheint.

Der am 26. Oktober 1857 in Ulm geborene Emil Gutermann, von Beruf aus eigentlich Landwirt, muß ein sehr gewandter Geschäftsmann gewesen sein. In den Urkunden ist seine Berufsbezeichnung meist als „Kaufmann und Fabrikant von Molkereiprodukten” angegeben. Seine erste Frau Maria, geb. Maas, verstarb 1891 wenige Tage nach der Geburt des dritten Sohnes Rudolf, der später einmal das Oberstdorfer Anwesen erben sollte. Mit seiner zweiten Ehefrau Emma, geb. Deuringer, hatte Emil Gutermann nochmals drei Söhne.

Als Dr. Saathoff 1908 sein Sanatorium nahe der alten Walserstraße baute, äußerte sich der Bauherr gegenüber Emil Gutermann, daß er für seine Krankenanstalt gerne den Namen »Stillachhaus« hätte. Man wurde sich einig, Dr. Saathoff bekam für sein großes Anwesen den Namen »Stillachhaus« und Emil Gutermann nannte seinen Besitz künftighin »Stillachhäusle«.

Die Söhne wuchsen heran, besuchten Schulen, studierten und stiegen ins Agrarfach und ins Molkereiwesen ein. Der Erste Weltkrieg sah alle sechs Söhne im „Rock des Kaisers”.
Emil Gutermann war nicht nur Geschäftsmann, er liebte auch die Natur und die Berge. In den Fragmenten eines Gipfelbuches vom Biberkopf findet sich folgender Eintrag:

„3. August 16,
Emil Gutermann, Rentner, Schachen b./Lindau, D.Ö.A.V. Sektion Lindau,
Abmarsch Rappenseehütte N.M. 2 Uhr, Ankunft N.M. 4 3/4 Uhr,
etwas bedeckt, Aussicht beschränkt
Hellmuth Gutermann 8/20. b Inf.Regt.
Richard Gutermann, DLEH Haubunta bei Hildburghausen, Thüringen,
Z.Zt. Oberstdorf

Häuser - Heft 39

»Landhaus Gutermann« auf dem
Schwesternberg in Schachen, dem heutigen Bad Schachen bei Lindau.

Emil Gutermann, der sich hier scherzhaft als Rentner bezeichnete, stand mit seinen gerade 59 Jahren noch voll im Geschäftsleben, zumal seine Söhne ja alle Soldaten bzw. in der Ausbildung waren. In Schachen, auf dem Schwesternberg, hatte sich der Geschäftsmann 1905 ein Landhaus erbauen lassen und lebte meist dort.

Hellmuth und Richard befanden sich im Urlaub zu Hause in Oberstdorf. Sohn Hans war bereits am 28. Juni 1916 bei Verdun gefallen. Der Krieg riß aber noch weitere Lücken in die Familie Gutermann. Hellmuth fiel am 24. April 1918 und Walter am 18. Juli 1918. Rudolf kehrte nach vier Jahren Westfront und zwei Jahren Kriegsgefangenschaft zurück.

Nach diesen harten Schicksalsschlägen hörte das Herz Emil Gutermanns am 11. August 1925 auf zu schlagen. Er verstarb auf dem Gutshof Romenthal am Ammersee, den er 1917 erworben hatte. Auf Grund eines Vertrages aus dem Jahr 1904 wurde Frau Emma in Oberstdorf Rechtsnachfolgerin ihres Mannes. Der Sohn Richard Gutermann, der Diplom-Landwirt war, hat sich hier in der Freibergstraße ein Wohnhaus erbauen lassen, das im Jahre 2001 der Spitzhacke zum Opfer fiel.

Längst hatte das schmucke »Stillachhäusle« Nachbarn bekommen. Franz Alois Schratt ließ 1903/04 die »Waldesruh« erbauen, die 1909 in den Besitz der Familie Brutscher überging. Dr. Saathoffs Sanatorium »Stillachhaus« und im Anschluß die »Stillachschule«, eine Internatsschule, folgten als nächste in der Reihe der Nachbarn. Brauereibesitzer Karl Richter ließ sich am „Schlechten” sein »Blockhäusl« errichten und ein Rehgehege erstellen. Es folgte das Anwesen des Kunstmalers Professor Hermann Hoyer und viele andere. Heute steht das Gutermannsche Anwesen mitten in dem Baugebiet Stillachstraße/Obere Stillachstraße.

Häuser - Heft 39

Das "Stillachhäusle" um 1925

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Rudolf Gutermann,
1890 - 1963, Landwirt, zuletzt Besitzer des »Kinderkurheims Gutermann« in Oberstdorf
(nach einer Zeichnung seines Nachbarn Hermann Hoyer).

Rudolf Gutermann, geb. am 21.Dezember 1890 zu Memmingen, folgte dem ursprünglichen Beruf des Vaters und wurde Landwirt. Am 22. Juli 1934 heiratete er an seinem Geburtsort die aus Winzer in Niederbayern stammende Korbwarenfabrikanten-Tochter Sophie Mosler. Als 1937 Emma Gutermann die Augen für immer schloß, übernahm Rudolf mit seiner Frau das »Stillachhäusle«, das nach verschiedenen Umbauten zum Kinderkurheim wurde.

Am 25. März 1963 ereilte mitten aus dem Leben, beim Skilaufen am Schönblick, Rudolf Gutermann der Herztod. Seither führen Frau Sophie (geb. 24. März 1904) und Tochter Bärbel das Haus, das heute der Gästebeherbergung dient. Die Gespräche mit der heute 97jährigen Sophie Gutermann, die über ein erstaunliches Gedächtnis verfügt, waren für mich fast geschichtliche Lehrstunden. Zum Abschluß wünsche ich dem »Stillachhäusle« zum 100. „Geburtstag” gute Zeiten und seiner fast gleichalterigen Besitzerin Glück und Gesundheit.

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»Kinderkurheim Gutermann« in Oberstdorf -
das alte »Stillachhäusle« mit dem Glockentürmle,
das im Zusammenhang mit dem Neubau
etwas umgebaut wurde, ist in seiner ursprünglichen Form weitgehend erhalten geblieben.

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1. Vorsitzender
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Brunnackerweg 5
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Tel. +49 8322 6759

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