...ein unbekannter Mensch in der Maske des Bösen ...” Amalie Zuckmayer und Eva Noack-Mosse (Teil 1)

von Angelika Patel am 01.06.2006

....zwei Jüdinnen und ein Bürgermeister in Oberstdorf während des Dritten Reiches.

Ein Brief aus Oberstdorf

Im Oktober 1945 erhielt Carl Zuckmayer, der bedeutende deutsche Dramatiker, aus Oberstdorf den wichtigsten Brief seines Lebens. Captain John. F. Purdum, Chef der amerikanischen Militärregierung in Oberstdorf, teilte ihm darin folgendes mit:

Dear Sir;
I have this morning received a visit from your parents, Herr and Frau Zuckmayer who have taken refuge here in Oberstdorf these past three years. They are most anxious to hear from you and it has been explained to me that thru various channels they have tried to forward letters to you but have had no word from you since August last year. ... I might add that your parents appear to be quite well and are living under favourable conditions ...

Fast sechs Monate hatte es seit dem Ende des Krieges gedauert, bis der von den Nationalsozialisten ausgebürgerte Zuckmayer ein Lebenszeichen seiner Eltern erhielt. Was das für ihn bedeutete, beschrieb er Jahre später in seiner Autobiographie, „Als wär’s ein Stück von mir”: ... vielleicht das größte und gnadenvollste, das mir in meinem ganzen Leben beschieden war:

Nicht hassen zu müssen!

Ich weiß nicht, wie ich empfunden hätte, wäre mir die Mutter ermordet worden, wäre mein Vater, der, fast erblindet, nicht ohne sie hätte weiterleben können und wollen, in Kummer und Not zugrunde gegangen. Aber sie lebten, ich konnte sie Wiedersehen und meine Mutter hatte sogar von einem „Nazi" - auch das kam vor! - Gutes erfahren, dem Ortsgruppenleiter von Oberstdorf, der ihre „nichtarische" Abkunft, als sie sich nach der Mainzer Ausbombung hier anmelden mußte, in den Papieren vertuschte, um sie vor einer möglichen Verfolgung oder Demütigung zu bewahren. Ein unbekannter Mensch, in der Maske des Bösen Feindes, hatte meinen Eltern Gutes getan, und meine Freunde, die von Deutschlands Henkern Gehänkten, waren für eine gute Sache in den Tod gegangen, hatten ein großes Beispiel gesetzt.
Ich brauchte nicht zu hassen

Wer war dieser „Unbekannte in der Maske des Bösen”? Was brachte ihn dazu, Zuckmayers Mutter zu schützen? Wie war es überhaupt möglich, ihr die Gestapo vom Leib zu halten? Wie kamen die Eltern Zuckmayer nach Oberstdorf? Wie erging es ihnen und anderen „rassisch Verfolgten” in Oberstdorf während des Dritten Reiches?

Diese und ähnliche Fragen bewogen mich, Carl Zuckmayers Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach zu durchstöbern, mit Zeitzeugen in Oberstdorf zu sprechen sowie in der Wiener Library in London nachzuforschen.

Aus den Dokumenten und Gesprächen entsteht ein aufschlußreiches, differenziertes und interessantes Bild von Oberstdorf während des Dritten Reiches und in den ersten Jahren danach. Die verschiedenen Aspekte des Naziterrors zeigen sich darin ebenso wie die Tatsache, daß es Menschen gab, die auch in dieser Zeit die Menschlichkeit nicht verloren.

Vorgeschichte

Carl Zuckmayers Vater hatte sich als Flaschenkapselfabrikant mit seiner Frau Amalie in Mainz bereits zur Ruhe gesetzt, als die Nationalsozialisten an die Macht gewählt wurden.

Sohn Carl hatte mit der etwas derben Komödie »Der fröhliche Weinberg« den größten deutschen Theatererfolg der 20er Jahre geschrieben, gefolgt von dem Drehbuch zu »Der blaue Engel«, dem Film, der Marlene Dietrich weltberühmt machen sollte. Nach dem »Schinderhannes« war dann auch »Der Hauptmann von Köpenick« ein Erfolgsstück, das die deutschen Bühnen dominierte.

1933 verschwanden Zuckmayers Stücke aber wegen ihrer sozialkritischen, antimilitaristischen und antibürokratischen Aussagen von den deutschen Bühnen. Nach seiner Ausbürgerung und der Beschlagnahmung seines Hauses in Österreich wanderte Carl Zuckmayer über die Schweiz und Kuba in die USA aus. Angewidert von dem Leben in Hollywood, das ihm als Erfolgsautor durchaus offenstand, zog er sich mit Frau und Töchtern nach Vermont zurück, lebte dort als Bauer und verdiente den Lebensunterhalt für sich und seine Familie unter anderem mit dem Züchten von Gänsen.

Carls Bruder, der Musikpädagoge Eduard Zuckmayer, war 1936 in die Türkei emigriert.

Während in Deutschland jüdische und regimekritische Wissenschaftler und Hochschullehrer ihre Stellen verloren, baute die junge türkische Republik unter Atatürk ein modernes Universitätssystem auf. So fanden in den Jahren 1933 bis 1946 etwa 800 deutsche Akademiker Zuflucht und einen neuen Wirkungsbereich in der Türkei.

Eduard Zuckmayer war auf Empfehlung von Paul Hindemith nach Ankara gekommen und hatte dort das Musikinstitut der Gazi-Universität gegründet, das noch heute seinen Namen trägt.

Zuckmayers Eltern, Carl sen. und Amalie, kannten das Allgäu von einem Urlaub, den sie 1938 in Hindelang verbracht hatten. Nach der Bombardierung ihrer Heimatstadt Mainz waren sie 1942 durch die Vermittlung der Freunde ihres Sohnes, Moritz Noack und Eva Noack-Mosse, nach Oberstdorf gekommen, wo sie sich in der damaligen »Villa Heimat« in der Gartenstraße eingemietet hatten. Auch das Ehepaar Noack war 1941 von Berlin nach Oberstdorf gezogen, um dem Schrecken des Krieges so weit wie möglich zu entkommen.

Amalie Zuckmayer und Eva Noack-Mosse hatten aber einen weiteren Grund, warum sie weit weg vom Schuß leben wollten: Sie waren Jüdinnen, denen die sog. „Mischehe” mit ihren „arischen” Männern immer weniger Schutz bot vor der Deportation
durch die Gestapo.

Eva Noack-Mosse schreibt:
Wir hatten nur ein Ziel: das Dritte Reich lebendig zu überstehen. In den Großstädten waren die offiziellen und inoffiziellen Ausschreitungen gegen Juden, Mischehen und Mischlinge immer unerträglicher geworden. Unerwartete Razzien fanden statt. Wir hatten die Erfahrung gemacht, daß solche von den Behörden eingeleiteten Aktionen Goebbels sich zuerst immer in den Großstädten austobten und dann langsam abflauten.

Die erste Hürde für ein sichereres Leben in Oberstdorf war die polizeiliche Anmeldung, denn ...es war bei Strafe verboten, bei der polizeilichen Anmeldung nicht anzugeben, wenn man jüdisch war. Ich mußte also meinen zweiten, mir zwangsweise zugefügten Vornamen Sara angeben

Eva Noack-Mosse entschied sich, die Vorschrift zu ignorieren und den aufgezwungenen Namen nicht anzugeben. Sie beschreibt weiter:
Nachdem wir auf diese Weise fast neun Monate lang in Ruhe und Frieden lebten, bekamen wir mit den Mitmietern des Hauses Streitigkeiten wegen unseres entzückenden aber leider etwas bissigen Drahthaarterriers. In der Zwischenzeit hatte ich öfters von den Behörden Briefe bekommen, in denen ich „Eva Sara N" tituliert war. Dieses war bisher stillschweigend übersehen worden. Nun wollten unsere Mitmieter unsere Wirte zwingen, mich hinauszuwerfen. Sie benahmen sich dabei so unanständig, daß unsere sehr rechtlich denkenden Wirtsleute vor Ärger über die erbärmliche Gesinnung dieser Mitmieter diesen kündigten und nicht uns.

Aus der Meldekarte Amalie Zuckmayers allein ist allerdings nicht ersichtlich, warum sie vor einer Deportation bewahrt wurde. Im Gegensatz zu Eva Noack-Mosse hatte sie nämlich den aufgezwungenen Namen „Sara” angegeben, in der Rubrik „Religion” steht allerdings „ev”.

Zuckmayer - Heft 48

Meldekarte von Carl und Amalie Zuckmayer.

Es ist heute wohl nicht mehr nachzuvollziehen, wer oder was genau Amalie Zuckmayer rettete. Auf jeden Fall hat die Person des Oberstdorfer Bürgermeisters Ludwig Fink dabei eine große Rolle gespielt.

Der Bürgermeister

Hier kommen nun die mündlichen Überlieferungen und persönlichen Erinnerungen zu Wort, die ihrer Natur nach meist anekdotisch und nicht sehr präzise sind. Trotzdem bildet sich aus der Vielzahl der Beschreibungen ein menschlich nachvollziehbares Portrait eines Mannes dieser Zeit heraus..

Ludwig Fink war Bezirkskaminkehrermeister und überzeugter Nationalsozialist. Als solcher wurde er von der NSDAP 1934 von Sonthofen nach Oberstdorf geschickt, um den dortigen Ersten Bürgermeister, Zollinspektor Ernst Zettler abzulösen.

Der Nachfolger Fink war ein attraktiver, kompetenter Mann, dem die Frauenherzen mehr zuflogen, als seiner eigenen Frau wohl lieb war. Diese war sehr religiös und verbrachte ihre freie Zeit normalerweise bei der weisen Oberin Biunda und ihren Klosterfrauen im »Haus Johanna« im Mühlenweg. Bei den Klosterfrauen trafen sich die Frauen Oberstdorfs zum Nähen und Handarbeiten. Es war aber auch einer der wenigen Orte, wo man sich kritisch über die religionsfeindlichen Nazis äußern konnte, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Mehrere Zeitzeuginnen berichteten, dass Frau Fink häufig an diesen nachmittäglichen Treffen teilnahm, ohne je als Bedrohung oder potentielle Denunziantin empfunden zu werden.

Zuckmayer - Heft 48

Ludwig Fink,
1. Bürgermeister von 1934 -1945

Ein regelmäßiger Gast bei den Klosterfrauen war auch „Wernerle”, der geistig behinderte Sohn Ludwig Finks, der seine Mutter als Kind stets begleitete. Was die Eltern dazu bewog, den 15jährigen 1939 in die von Franziskanerinnen geführte Behindertenanstalt Ursberg zu schicken, kann heute niemand mehr sagen. Genausowenig ist bekannt, warum Werner Fink nicht unter den 379 Kranken war, die zwischen September 1940 und August 1941 gegen den Willen der Ursberger Anstaltsleitung abtransportiert und in den Tod geschickt wurden.

Tatsache ist, daß die Eltern Fink ihren Sohn 1942 wieder nach Oberstdorf brachten, wo er mit ihnen lebte, bis er 1949 nach Ursberg zurückkehrte und dort 1978 starb.

Werner hatte einen jüngeren Bruder, Erich, der seinem Vater sehr ähnelte. Erich absolvierte eine Ausbildung als Fotograf, bevor er 1943 zuerst zum Arbeitsdienst und dann zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er ist bald darauf gefallen.

Das private Leben Ludwig Finks wird hier so ausführlich beschrieben, weil es vielleicht ein Schlüssel dafür ist, warum der „Erznazi”, der flammende Reden für den Führer und seinen Krieg hielt, in konkreten Konfliktsituationen die Naziideologie wiederholt hintanstellte und sich in erster Linie als Mensch verhielt. Vielleicht haben ihn die privaten Schicksalsschläge, die Liebe zu seinem behinderten Sohn oder der Einfluß seiner Frau dazu veranlaßt, seinen anständigen, menschlichen Instinkten mehr zu trauen als dem Gedankengut, das er amtlich vertrat.

So wird berichtet, wie er eine Gemeindeangestellte, die sich systemkritisch geäußert hatte, öffentlich scharf zurechtwies, ihr später unter vier Augen aber sagte: „Das nächste Mal überlegen Sie sich besser, in wessen Gegenwart Sie was sagen”.
Mit Respekt wird noch heute in Oberstdorfer Familien berichtet, daß sich Ludwig Fink seiner Verantwortung als Bürgermeister nicht entzog, wenn andere das gleiche Leid traf wie ihn selbst: Während des Krieges überbrachte er den Angehörigen persönlich die Nachricht vom Tod der Söhne, Brüder, Väter.

Auch soll er dafür gesorgt haben, daß der jüdische Witwer Emil Schnell mehr als das übliche „Judenkontingent” an Brennstoff erhielt. „Dint deam Schnelle-Mändle a Fuhr Holz nüs und Schluß”, soll er gesagt haben. Eine Zeitzeugin, die neben Emil Schnell wohnte, berichtet sogar, Ludwig Fink habe diesen im Herbst 1944 besucht, um ihn vor der bevorstehenden Deportation zu warnen. Emil Schnell, der auf diese Situation vorbereitet und dank der Hilfe zweier Oberstdorfer Ärzte ausreichend mit Schlaftabletten versorgt war, beging in derselben Nacht Selbstmord. Der Naziterror hatte auch weit weg vom Schuß vor Unschuldigen nicht halt gemacht.

Lebenszeichen

Das Ehepaar Zuckmayer lebte in Oberstdorf zwar in der Angst vor einem der gefürchteten blauen Einschreibebriefe der Augsburger Gestapo, war in seinem täglichen Leben jedoch unbehelligt.

Zuckmayer - Heft 48

Der erste "Rotkreuzbrief" aus Oberstdorf.

Den Kontakt zu ihrem Sohn Carl konnten sie durch „Rotkreuzbriefe” halten. In den kurzen Nachrichten konnte das Wichtigste gesagt werden, wenn auch nur in großen Zeitabständen:

28. 12. 42     Weihnachten bei Noacks bleiben weiter hier in herrlicher Winterluft hoffen Euch festlich zusammen.
23. 3. 43       Euren Julibericht erhalten hoffen Euch noch ebenso wohl wir gesund im schönen Oberstdorf mit guter                      Post von Ded.
5. 4. 43         sind gesund bleiben gerne weiter hier Ded erhofft Eure Post selbst gesund.
5. 5. 43         hatten gute Eduardspost Eure immer noch erwartend Noacks stehen uns liebevoll bei.
1. 9. 43         beglückt durch Rückantwort 10. März auch uns und Noacks geht es unverändert.
27. 2. 44       schöner Wintermonat vorüber leider noch ohne Eure Nachricht seit September hoffen Euch gesund                      wir alle sind es.
28. 1 .45       Beglückt endlich Gutes durch treuen Aeschli von Euch zu erfahren erfreulichst Deine erfolgreiche                      Arbeit Studium der Kinder Verbindung mit Ded sind gesund.

Die Noacks

Eine Woche nach der letzten Nachricht der Zuckmayer-Eltern an ihren Sohn erhielt Eva Noack-Mosse aus Augsburg die Aufforderung... sich zur Verwendung im vordringlichen Arbeitseinsatz ... bei der Geheimen Staatspolizei - Staatspolizeistelle - Augsburg, Prinzregentenstrasse 11 (Elofraum) einzufinden.

In einer heute kaum mehr nachvollziehbaren Kombination von Schrecken und Alltäglichkeit hatte Eva Noack-Mosse mehrere Tage Zeit, sich auf ihre Abreise vorzubereiten. Sie schreibt: Vorbereitungen, Vorbereitungen. Der ganze Ort wußte bereits; daß ich fort mußte. Jeder kam und fragte; ob ich einen Wunsch hätte.

Das Ehepaar Noack hatte bereits im Januar 1945 Erfahrungen mit der Gestapo gemacht, denn... Im Herbst 1944 kamen dann die ersten Berichte aus dem Rheinland über Aktionen gegen Mischehen. Die Mischehenpartner wurden getrennt fortgeschleppt, man hörte nichts mehr von ihnen, man wußte nicht, wo sie geblieben waren. ...Im November 1944 begann dann die sogenannte Aktion „O.T", das heißt die Einziehung zur Zwangsarbeit in die Lager der Organisation Todt. Alle christlichen Ehemänner von jüdischen Frauen und alle Mischlinge ... wurden zur Zwangsarbeit eingezogen. Wir zitterten vor jeder Post. Wir warteten. ... Am 25. Januar 1945 kam dann der eingeschriebene blaue Brief von der Gestapo auch in unser Haus.

Moritz Noack hatte Glück im Unglück. Wegen einer schweren Erkrankung wurde er für untauglich erklärt und konnte bereits nach einem Tag nach Oberstdorf zurückkehren... Die Gestapo hatte ihn sofort zurückgeschickt, nachdem sie sein ärztliches Zeugnis sah. Der Gestapo-Beamte hatte meinem Mann nur die Frage gestellt, ob er es denn durchaus nötig gehabt hätte, eine Jüdin zu heiraten.

Aber nun, nur wenige Tage nach der Rückkehr ihres Mannes, erhielt Eva Noack-Mosse die Aufforderung der Augsburger Gestapo. Warum nur sie?

In meinem Dorf war ich die einzige der sogenannten die eine solche Aufforderung bekommen hatte. Es gab noch 4 andere solcher darunter die Eltern des Dichters Carl Zuckmayer und den Hutfabrikanten Mayser, dessen Tochter sofort nach dem Mai 1945 den Flieger Karl Trautloft heiratete. Ich war die jüngste. War dies der Grund; würden die anderen später darankommen?

Ein Hoffnungsschimmer blieb zunächst:
Zur gleichen Zeit bekam ich aber aus Berlin einen Bericht, daß Anfang Februar dort eine Aktion gegen Mischehen eingesetzt hätte, aber nach drei Tagen von den Behörden wieder abgestoppt worden sei. Es war offenkundig, daß bei dem Wirrwarr und dem Durcheinander, welches infolge der furchtbaren Luftangriffe dort herrschte, solche Gestapomaßnahmen nicht mehr durchgeführt werden konnten.

Auch eine Gallen- und Leberentzündung, die sie gerade überstanden hatte, hätte eine rettende Zurückstellung rechtfertigen können, aber:
Unser Amtsarzt war ein typischer Naziarzt: jung, kalt, gefühllos, grausam, sadistisch. ...Ich wußte, daß ich bei diesem Amtsarzt keinerlei Mitleid zu erwarten hatte. Wenn er einen Funken Mitleid gehabt hätte, hätte er mich mit dem besten Gewissen zurückstellen können. Ich hatte ja einen Infektionsherd im Körper. Ich bat ihn bei der Untersuchung einmal mit leiser Stimme darum. Er lehnte ab. Dann bat ich nicht mehr. Er schrieb mich arbeitsfähig.

Der Abreisetermin näherte sich unaufhaltsam und Eva Noack-Mosse beschreibt, wie sie sich in den letzten Tagen noch eine Dauerwelle machen ließ. ...Es klingt lächerlich, daß man in einer solchen Situation an Derartiges dachte. Ich fand aber, daß es wichtig sei, auf jeden Fall einigermaßen ordentlich auszusehen. Auch Behördliches mußte erledigt werden. ...Im Rathaus der Marktgemeinde Oberstdorf achtete man darauf, daß ich meine Lebensmittelkarte abgäbe und prüfte, ob auch die noch nicht gültigen Abschnitte etwa vorher abgeschnitten worden seien. Aber sie geht kaum noch auf die Straße ... weil ich es nicht mehr ertragen konnte, immer dieselben mitleidigen Worte zu hören.

Eine letzte Hoffnung ist eine Zahnentzündung: Mein treuer und zuverlässiger Zahnarzt, ein Russe, der 1918 aus Rußland geflüchtet war, überlegt mit mir hin und her. 48 Stunden vor der Abreise machte er mir eine Einspritzung. Programmgemäß schwoll die Backe dick an.

Aber auch die Hoffnung, deswegen zurückgestellt zu werden, zerschlug sich, und am 22. Februar 1945 verließ Eva Noack-Mosse Augsburg, um mit 52 Männern und Frauen im Transport 11/34 eine tagelange Fahrt anzutreten, die schließlich in Theresienstadt endete.

Die Stadt war im späten 18. Jahrhundert von Joseph II. als Garnisonsstadt für etwa 7.000 Einwohner gebaut worden. 1941 war sie von den Nationalsozialisten in ein Ghetto umfunktioniert worden, in dem zeitweise bis zu 60.000 Menschen lebten.

Vom November 1941 bis Mai 1945 waren fast 140.000 Menschen nach Theresienstadt deportiert worden, mehr als 33.000 starben im Ghetto an den Folgen von Unterernährung und fehlenden sanitären Einrichtungen, an verschiedenen Krankheiten und Seuchen. 88.000 waren weitertransportiert worden in die Vernichtungslager im Osten. Das tägliche Leben im Lager hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Propagandafilm, den die Nazis über die „jüdische Mustersiedlung” gedreht hatten!

Als Eva Noack-Mosse Ende Februar 1945 dort ankam, waren die gefürchteten Deportationen in die Vernichtungslager bereits eingestellt und es lebten „nur” 17.000 Menschen im Ghetto. Auf 140 Seiten, die eine gesonderte Veröffentlichung verdienen, beschreibt Eva Noack-Mosse ihre Erfahrungen in Theresienstadt. Verglichen mit den Vernichtungslagern war das Leben in dem Ghetto zu diesem Zeitpunkt fast human.

Eva Noack-Mosse arbeitete in der Verwaltung. In einem Brief vom Dezember 1945 schrieb sie an Carl Zuckmayer aus der Distanz der Überlebenden im typischen Berliner Schnodderstil:
Ich habe Stoff gesammelt, und was hättest Du draus gemacht!!!! Komödie und Tragödie in Einem. ... Ich sass am Tisch mit ca 8 Mädchen täglich 10 Stunden lang tippenderweise zusammen, und da hatten wir reichlich Zeit, bei der unerhört blöden Listentipperei zu plauschen.

Zuckmayer - Heft 48

Carl Zuckmayer und
Eva Noack-Mosse, vermutlich
Oberstdorf, November 1946.

Doch das Tagebuch berichtet von dem Hunger und den Krankheiten, den Gedemütigten und den Toten. Es berichtet auch von der dramatischen Verschlechterung der Zustände in Theresienstadt zu dem Zeitpunkt, als man eigentlich täglich auf Befreiung und Erlösung hoffte.

Am 20. April 1945 kamen zunächst 1.700 Menschen zu Fuß in dem Ghetto an. In den nächsten Tagen wuchs die Zahl der Neuankömmlinge auf 12.000. Es waren Häftlinge, die von der SS aus verschiedenen Konzentrationslagern auf Todesmärschen nach Theresienstadt geschickt worden waren.

Es sind keine Menschen, es sind Geschöpfe auf zwei Beinen, in Lumpen gehüllt. ...Es strömt und strömt durch alle Tore, durch alle Straßen ... Die Neuankömmlinge kommen zu Tausenden. In aller Eile werden Massenunterkünfte in leergemachten Kasernen notdürftigst hergerichtet, dorthin kommen diese Elenden. ... Alle trugen sie die weiß-blau gestreiften Anzüge, das Zeichen, daß sie aus KZs kommen. Teilweise sind sie Hunderte von Kilometern gelaufen. ... Sie waren unter der Bewachung der SS über die Landstraßen marschiert. Wer hinfiel und nicht weiter konnte, wurde erschossen oder erschlagen.

Die Schädel waren so abgemagert, daß sie die Größe von Kinderköpfchen hatten. Es waren Knochen mit darübergespannter Haut, ihre Hautfarbe war grünlich, gelblich. ... Die Neuankömmlinge bekamen sofort doppelte Rationen. Aber ihre Mägen vertrugen zuerst fast gar nichts, schon gar nicht die ewigen braunen Graupen- und Kartoffelsuppen. Tausende lagen nach einigen Tagen an ruhrartigen Darmerkrankungen darnieder.

Am 22. April 1945 wurde Theresienstadt offiziell unter den Schutz des Internationalen Roten Kreuzes gestellt. Der letzte SS-Mann verließ das Lager allerdings erst am 5. Mai.

Der Mensch reagiert auf gewisse Dinge oft ganz anders, wie man vorher erwartet hat. Anstatt daß wir Freudentänze aufführten und Gott dankten, daß wir, aller menschlichen Voraussicht nach nun endgültig gerettet waren, nahmen alle dies ganz einfach ruhig zur Kenntnis. Nur unser Verstand registrierte diese Tatsache. Unser Gemüt, unser Gefühl war durch die 12.000 Jammergestalten, die neu angekommen waren, zu erschüttert, als daß wir daneben ein Freudengefühl haben konnten. Wir, die Insassen von Theresienstadt, finden plötzlich, daß wir es in den letzten Wochen im Vergleich zu diesen Menschen geradezu wunderbar gehabt haben.

Doch durch die Neuankömmlinge kam erneut Tod und Gefahr nach Theresienstadt, diesmal in Form des sich immer weiter ausbreitenden Fleckfiebers. Während wir, wie aus weitester Ferne, hören, daß zwei Drittel von Berlin bereits von den Alliierten besetzt ist, fangen wir an, den Kampf gegen Seuchen und Tod aufzunehmen. ... große Aufrufe an den Schwarzen Brettern, wie man sich am besten und sichersten vor den Läusen, den Überträgern des Flecktyphus schützen kann ... blieb größtenteils Theorie, da es nicht genug Platz gab, um die Kranken zu isolieren. Und die Neuankömmlinge hielten sich nicht an die Quarantänevorschriften, da sie es satt hatten, nun wieder hinter Stacheldraht zu sein.

Am 2. Mai wurde die Nachricht von Hitlers Tod offiziell bekanntgegeben.

Es ist grotesk, kaum glaublich: die Hakenkreuzfahne anläßlich Hitlers Tod auf Halbmast im Ghetto von Theresienstadt wehend ... Selbst die größten Pessimisten träumen an diesem Tag vor sich hin und fangen an, Zukunftspläne zu machen ... Unsere Arbeitszeit wird von 10 auf 8 Stunden herabgesetzt, für uns die erste unmittelbare Folge von Hitlers Tod. Immer noch sehen wir einige SS-Uniformen. Stündlich wird die Nachricht vom Waffenstillstand erwartet. Noch ein letzter Luftalarm. Die Absperrungen um die Stadt lockern sich bereits unmerklich. Einige „arische" Ehemänner erscheinen plötzlich und suchen nach ihren verschleppten Frauen. Sie werden versteckt und bekommen sofort einen Judenstern angesteckt, um nicht aufzufallen. ... Und dies habe ich immer wieder erlebt in diesen und den nächsten Tagen, Wochen und Monaten: wenn zwei Menschen sich wiederfanden, weinten beide. Keiner konnte lachen.

Von nun an überschlagen sich die Ereignisse: Plötzlich sehen wir Frauen mit hohen Absätzen und modernen Hüten in den Straßen. Wir wußten sogleich: die ersten „auswärtigen" Ehefrauen aus der Tschechoslowakei waren angekommen. (5. Mai) Der letzte SS-Mann ist verschwunden. (6. Mai)

Jeder bekommt einen kleinen Riegel Schokolade, richtige Schokolade. Herr Dunant verkündet in deutscher und französischer Sprache die bedingungslose Kapitulation ... Martha und ich kochen uns zur Feier den vom Roten Kreuz gespendeten Reis ... 1.500 Menschen kommen heute Nacht noch an, Insassen des Konzentrationslager Oranienburg bei Berlin. (7. Mai)

Von der Ferne hören wir schwere Artillerie ... in der Stadt mehren sich die Fleckfieberfälle, wir werden zum Quarantänegebiet erklärt ... am Abend ziehen die ersten Russen vorbei. (8. Mai)

Für 24 Stunden haben wir einen Trupp englischer Gefangener, die jetzt zu ihren Truppenteilen befördert werden, bei uns wir schmücken sie mit Flieder, der gerade erblüht ist. Am Abend wird ein gefangener blasser SS-Mann an uns vorübergeführt. Er hat die Hände erhoben. Die Leute johlen und schimpfen. Mir wird etwas übel bei diesem Anblick ... (9. Mai) Wir schreiben die ersten Postkarten ... aber von den 25 Postkarten, die ich nach Oberstdorf schrieb, kamen nur zwei an, lange, nachdem ich gesund zu Hause angekommen war. (10. Mai)

Die Sterblichkeitsrate bei den erkrankten Frauen ist 6%, bei den Männern 18%. (14. Mai)

Ab heute gibt es erhöhte Lebensmittelrationen. Wir werden immer satt. ... Trotz der bevorstehenden Abreisen mußte eine Reihe von Betrieben bis zum letzten Augenblick reibungslos funktionieren, die Küchen und Krankenhäuser, einige Reparaturwerkstätten und die Büros ... (15. Mai)

Die Zahl der seit dem 20. April Gestorbenen ist auf 1.039 gestiegen. Abends höre ich zum ersten Mal wieder englisches Radio. (20. Mai)

1.800 Tote, darunter 400 an Flecktyphus Gestorbene seit dem 20. 4. 1945. Aufhebung der Quarantäne wird heute verkündet. (5. Juni)

Endlich, am 1. Juli 1945, kam ein Auto, das Eva Noack-Mosse und andere Befreite nach Augsburg brachte.

An eine Weiterbeförderung nach Oberstdorf war bei den damaligen Verkehrsverhältnissen vor mindestens vier Tagen nicht zu denken. Mit meinem Mann konnte ich nicht telefonieren, da das Telefon nur für die Besatzungsmacht in Betrieb war. Mein Mann wußte, daß ich bald heimkehren würde. Durch mehrere Boten war ihm mitgeteilt worden, daß ich gesund sei ... Zuerst ging ich zum Friseur ... genoß die Wonnen der Zivilisation: Seife, warmes Wasser, den Heissluftapparat...

Am vierten Tage stand ein uraltes, klappriges, graues, fensterloses Auto vor der Türe, das nur eine sogenannte „Grüne Minna", ein Gefangenentransportauto, gewesen sein konnte. ... Die stundenlange Fahrerei begann. Kreuz und quer fuhr das Auto, um alle nacheinander und noch viele andere Menschen, die sich diese Fahrgelegenheit nicht entgehen lassen wollten, heimzufahren. In diesen Tagen wurde die französische Besatzung gegen amerikanische Truppen ausgetauscht.

Die Franzosen, fast alle Marokkaner, sahen in ihren blitzblanken bunten Uniformen, roten Fezen und bunten Jacken gegen die grünen bayerischen Wiesen und die Bauernhäuser wie überlebensgroße Spielzeuge aus. ... Als ich vor unserem Haus vorfuhr, war es Punkt fünf Uhr. Ich hörte die Kirchturmuhr schlagen. Es war der 7. Juli 1945. Ich klingelte anhaltend und heftig. Nach kaum zwei Sekunden erschien der Kopf meines Mannes am geöffneten Fenster des ersten Stockes ...

Eine der ersten Besucherinnen, die Eva Noack-Mosse willkommen hießen, war Carl Zuckmayers Mutter, Amalie.

Und schon klingelte es. Im blauweiß gepunkteten Musselinkleid stand Amalie Zuckmayer vor der Haustür. Wie fast täglich machte sie einen kleinen Spaziergang von der „Villa Heimat", wo sie mit ihrem fast erblindeten Mann seit der Zerstörung ihres Hauses in Mainz durch Bandbomben lebte, zu uns. Sie wollte hören, ob man Nachrichten von mir erhalten hätte ... Sie konnte es kaum fassen, daß ich nun da war. Sie blickte die Menschen stets liebevoll an. Aber die Zärtlichkeit, mit der sie mich an diesem Tag anblickte, strahlte ihr nicht nur aus den Augen.

Fortsetzung folgt

Kontakt

Verschönerungsverein Oberstdorf e.V.
1. Vorsitzender
Peter Titzler
Brunnackerweg 5
87561 Oberstdorf
DEUTSCHLAND
Tel. +49 8322 6759

Der Verein

Unser gemeinnütziger Verein unterstützt und fördert den Erhalt und Pflege von Landschaft, Umwelt, Geschichte, Mundart und Brauchtum in Oberstdorf. Mehr

Unser Oberstdorf

Seit Februar 1982 werden die Hefte der Reihe "Unser Oberstdorf" zweimal im Jahr vom Verschönerungsverein Oberstdorf herausgegeben und brachten seit dem ersten Erscheinen einen wirklichen Schub für die Heimatforschung. Mehr

Wir verwenden Cookies
Wir und unsere Partner verwenden Cookies und vergleichbare Technologien, um unsere Webseite optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern. Dabei können personenbezogene Daten wie Browserinformationen erfasst und analysiert werden. Durch Klicken auf „Alle akzeptieren“ stimmen Sie der Verwendung zu. Durch Klicken auf „Einstellungen“ können Sie eine individuelle Auswahl treffen und erteilte Einwilligungen für die Zukunft widerrufen. Weitere Informationen erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Einstellungen  ·  Datenschutzerklärung  ·  Impressum
zurück
Cookie-Einstellungen
Cookies die für den Betrieb der Webseite unbedingt notwendig sind. weitere Details
Website
Verwendungszweck:

Unbedingt erforderliche Cookies gewährleisten Funktionen, ohne die Sie unsere Webseite nicht wie vorgesehen nutzen können. Das Cookie »TraminoCartSession« dient zur Speicherung des Warenkorbs und der Gefällt-mir Angaben auf dieser Website. Das Cookie »TraminoSession« dient zur Speicherung einer Usersitzung, falls eine vorhanden ist. Das Cookie »Consent« dient zur Speicherung Ihrer Entscheidung hinsichtlich der Verwendung der Cookies. Diese Cookies werden von Verschönerungsverein Oberstdorf auf Basis des eingestezten Redaktionssystems angeboten. Die Cookies werden bis zu 1 Jahr gespeichert.

Cookies die wir benötigen um den Aufenthalt auf unserer Seite noch besser zugestalten. weitere Details
Google Analytics
Verwendungszweck:

Cookies von Google für die Generierung statischer Daten zur Analyse des Website-Verhaltens.

Anbieter: Google LLC (Vereinigte Staaten von Amerika)

Verwendete Technologien: Cookies

verwendete Cookies: ga, _gat, gid, _ga, _gat, _gid,

Ablaufzeit: Die Cookies werden bis zu 730 Tage gespeichert.

Datenschutzhinweise: https://policies.google.com/privacy?fg=1

Externe Videodienste
Verwendungszweck:

Cookies die benötigt werden um YouTube Videos auf der Webseite zu integrieren und vom Benutzer abgespielt werden können.
Anbieter: Google LLC
Verwendte Technologien: Cookies
Ablaufzeit: Die Cookies werden bis zu 179 Tage gespeichert.
Datenschutzerklärung: https://policies.google.com/privacy?hl=de&gl=de

Cookies die benötigt werden um Vimeo Videos auf der Webseite zu integrieren und vom Benutzer abgespielt werden können.
Anbieter: Vimeo LLC
Verwendte Technologien: Cookies
Ablaufzeit: Die Cookies werden bis zu 1 Jahr gespeichert.

Datenschutzerklärung: https://vimeo.com/privacy