Der umgeworfene Wilde-Mändles-Tanz oder das Zitronenattentat

von Anton Köcheler am 01.06.2012

Man schrieb das Jahr 1938, wieder ein „Wilde-Mändles-Jahr”. Das für die Aufführungen vom Trachtenverein errichtete Festzelt stand auf „Klöusars Ackar”, da wo sich heute der Parkplatz am Fuggerpark befindet. In diesem Zelt wurden nicht nur die Wilde-Mändles-Tänze aufgeführt, sondern auch sonstige Festabende, Boxkämpfe und Ausstellungen. Vor dem Zelt, zur Fuggerstraße hin, hingen zwei Hakenkreuzfahnen und in der Mitte die Fahne mit den Gemeindefarben Rot und Weiß.

Es war ein Samstagabend und da sollte der Wilde-Mändles-Tanz aufgeführt werden. Den wollten wir uns – Boms Done, Braxmairs Ludwig und ich – auch einmal ansehen. Das aber war mit einer Schwierigkeit verbunden, denn uns fehlte das Geld für die Eintrittskarten. Am Haupteingang standen neben der Kasse zwei Trachtler, die mit weißen Armbinden als Ordner gekennzeichnet waren. Die beiden hätten wir schon irgendwie umgehen können; aber da waren auch noch drei stramme Mannsbilder in der Uniform des SS-Reitersturms mit gewichsten Stiefeln, Koppel- und Schulterriemen und dem obligatorischen Braunhemd. Diese Männer waren bekannt als Schlägertruppe der Nazis. Ich kannte sie alle, den Appolt, den Feuerlein, ein großer Kopfschlächter beim Herberg, und den Glaner Sepp, ein Kfz-Mechaniker. Diese waren im ganzen Dorf als Grobiane bekannt.

Auf der Suche nach einer „Eintrittsmöglichkeit“ schlichen wir um das Zelt. Bei einem Zeltbahnspalt fanden wir die Möglichkeit. Es war gerade niemand in Sichtweite, als ich den Spalt aufknüpfte und schon waren wir drin. Aber es war nicht der richtige Ort, denn wir waren hinter der Bühne inmitten der Wilde Mändle gelandet, die sich gerade ihr Gewand anzogen. Weiter vorne, auf einem erhöhten Podest, saß die Musikkapelle in voller Stärke. Dorthin wollten wir eigentlich, denn unter der Musikerbühne hätten wir genug gesehen und niemand gestört.

Doch es kam anders, als wir uns diesem Ziel näherten. Ich habe sofort eine Watschen bekommen, dass ich gleich in eine Ecke flog, dem Done ging es genauso und wir sind dann schnell wieder aus dem Zelt hinaus. Mein Kamerad „hodd bleared”, denn ihn hatte es stärker erwischt. So saßen wir nun draußen auf einem Ladenstumpen und warteten auf den Luggi, der aber nicht erschien. Denjenigen, der dem Done die Watschen gab, hatte ich erkannt, das war der Seeweg Josef. Der mir eine verpasst hat, kam mir bekannt vor, aber ich wusste momentan nicht, wo ich ihn einordnen sollte. Als ich als Zuhirte bei der Kalbelesherde half, da hatte ich den im oberen Markt gesehen, da um den Sonnenkeller herum haben die ihr Vieh zugebracht.

Wilde-Mändles-Tanz - Heft 60

Blick vom Turm der katholischen Pfarrkirche in Richtung Westen. In der Bildmitte die evangelische Kirche und dahinter der Fuggerpark; rechts davon, auf der freien Wiese, stand 1938 das Festzelt.

Nach einer Weile spitzten wir wieder in das Zelt hinein und da sah ich den Luggi unter der Tanzbühne, zusammengekauert hat er seinen Bauch gehalten. Ich habe ihm dann gepfiffen und da sprang er auf und war mit einigen Sätzen beim Zeltloch hinaus. Auf unsere Frage, was los gewesen sei, meinte er, noch mit nassen Augen, dass ihm so ein kleines Wilde Mändle mit dem Schuh direkt in den Bauch getreten habe. Ihm sei es ganz schwarz vor den Augen gewesen und es sei ihm schlecht geworden. Dann kam es aus ihm heraus: „Dea dearf bloaß warte, ih wir öu amol groaß und des düred numma lang, abr no köuf ih mir dean Hoseschiessar.” Auf meine Frage, ob er ihn erkannt habe, meinte er: „Ih ho dean schu oft gseache, des müeß a Ündrmärtlar sing, abr des krieg e schu no rüs, mei, des müeß der biesse.”

Luggi wohnte im Martin-Jäger-Haus bei seinem Opa, drei Häuser weiter als ich. Am frühen Sonntagmorgen schon habe ich ihn besucht und geschaut, wie es ihm geht. Dabei verkündete er, dass wir Drei heute ganz offiziell zum Wilde-Mändles-Tanz gehen werden. Er habe gestern seinem Vater unser Erlebnis geschildert, worauf der ihm das Eintrittsgeld gegeben habe, für ihn, den Done und mich. Ich musste nur noch den Done verständigen und dann trafen wir uns vor dem Zelt. Luggi hat drei Kinderbilettle gekauft und wir haben uns dann ganz vorne hingehockt.

Mitgebracht hatte Luggi eine Pergamenttüte und ich war schon neugierig, was da wohl drin sei. Als wir dann direkt vor der Musikkapelle saßen, hat er uns aufgeklärt. Am Vormittag sei sein Onkel Leonhard (viele Jahre Hüttenwirt im Waltenbergerhaus und dann Wirt im Freibergsee-Strandcafé) dagewesen und da habe der Vater ihm erzählt, was uns gestern passiert ist. Da ist dem Onkel, der selbst Musiker war und gelegentlich an der Trompete oder der Posaune ausgeholfen hat, ein Possen eingefallen, den man den Musikern des Wilde-Mändle-Tanzes spielen könnte. Mit einem deutlich sicht- und hörbaren Biss in eine Zitronenhälfte könne man, unter Garantie, eine Musikkapelle „umwerfen”.

Wilde-Mändles-Tanz - Heft 60

Der „Anstifter” des Attentats, der Bergführer und Hüttenwirt Leonhard Braxmair.

Im Bild Leonhard mit seiner Ventilposaune vor dem Waltenbergerhaus, als er einem aufsteigenden Bekannten einen melodischen Gruß entgegenschickt.

Mit Neugier habe ich dann in den „Scharmitzel” hinein geschaut und tatsächlich waren da sechs halbe Zitronen, große und dicke Früchte. Die vorausgesagte Wirkung konnten der Done und ich nicht so recht glauben. Doch Luggi meinte: „Ihr weared schu seache, dr Onkel Leonhard hodd gseidt, des dei sichr fünktioniere. Mier miessed bloaß mitanond khereg schmatzge, abr iez no it, erscht em zweite odr dritte Andante.” Dann hat er uns noch etwas von einem Andante und Allegro erzählt, aber wir hatten trotzdem keine Ahnung, was das sein sollte. Ich wusste nur, dass es etwas mit der Musik zu tun hatte.

Endlich war alles für den Tanz bereit und es konnte losgehen. Wir waren schon ganz gespannt, wie das alles so ablaufen sollte. Da kam ein Trachtler auf die Bühne, sagte ein paar Grußworte und gab eine kurze Erklärung ab, was der Tanz bedeute. Nach ihm kam noch der Bürgermeister Fink auf die Bühne und begrüßte im Namen der Gemeinde alle Besucher, verbunden mit einigen heroischen Worten, wie es damals üblich war. Am Schluss betonte er, dass man dem Führer Adolf Hitler dankbar sein müsse, dass so ein alter Tanz gefördert wird und dass das Brauchtum hochzuheben sei. Dann kam sein strammes „Heil Hitler” und ein dreifaches „Sieg heil” auf „unseren geliebten Führer” und viele Leute schrien mit. Mit einem strammen Zusammenschlagen seiner Hacken verließ er die Bühne.

Wilde-Mändles-Tanz - Heft 60

Wilde Mändle mit den Tafeln bei einer Aufführung in den 1930er Jahren.

Nun wurde das Zeltlicht abgedämmt und an der Bühnenfront erschien mehrmals ein rot-grün-weißer Lichterstreifen. Dazu spielte die Musikkapelle einen flotten Marsch. Nun hob Dirigent Josef Scharrer die Hände zum Zeichen für den Musikeinsatz und der Tanz konnte beginnen.

Nach dem zweiten Allegro gab uns der Luggi je zwei halbe Zitronen mit dem Bemerken: „Abr warted no, es isch no z’frei.” Doch dann kam die Szene, wo alle Wilde Mändle aus den Boxen heraus kommen und sich mehr oder weniger voll zeigen. Als die ersten vier auf der Bühne waren, sagte Luggi: „Woll, iez und khereg schmatzge!” Wir taten, wie uns geheißen und die vorausgesagte Wirkung trat tatsächlich ein. Die Musiker wurden auf uns aufmerksam und die ersten kamen ins Stottern. Das setzte sich fort durch die Kapelle und fast alle starrten zu uns her. Ein Instrument nach dem anderen fiel aus, ja es klang am Ende genauso wie eine „Güggemuseg” an Fasnacht. Dirigent Scharrer, der uns den Rücken zukehrte und somit den Grund für diese musikalische Katastrophe nicht erkennen konnte, blieb nichts anderes übrig, als das Zeichen zum Abbruch zu geben. Auch die Wilde Mändle wussten gar nicht mehr, was da los war, ob sie herauskommen sollen oder wie man springen müsse.

Da kam vom Vogler Hubert ein „Urschrei”. Er stellte sein Instrument auf den Boden, sprang durch seine Musikerkameraden noch vorn und übers Geländer auf uns zu. Doch wir waren vorbereitet und befanden uns schon im Mittelgang auf der Flucht. Erwischt hat er uns nicht, denn wir waren schneller. Es hat uns auch niemand aufgehalten, denn keiner wusste, was da vorne passiert war. Selbst der Ordner am Zeltausgang meinte, als wir an ihm vorbeiwischten: „Ja, was isch denn do voana loas, do schdimmt nammas id.” Wir sind dann bis zur evangelischen Kirche rauf und von dort zur Volksschule zu Pflugers Stadel. Mit Verwunderung stellten wir fest, dass uns niemand nachgerannt ist. So sind wir beisammen gestanden und haben uns den Bauch gehalten vor lachen. Dass der „Zitronenanschlag” so gut funktionierte, hätte ich vorher nicht geglaubt.

Doch jetzt, was tun? Wir wollten doch den Wilde-Mändles-Tanz sehen, aber jetzt gleich wieder hinein gehen, das wäre zu riskant gewesen. Da habe ich meinen Kameraden den Vorschlag gemacht: „Mir warted bis zur Pause, do kummed viel Lidd zum Fieß vrdappe rüs und wenn die wiedr rum isch, no dixled mir mid ning. Mir stonded halt hinda an Rand hii.” Wir warteten hinter einem Haselnussboschen im Fuggerpark bis die Pause kam, dann sind wir wieder auf die Straße gegangen. Als die Leute wieder in das Zelt drängten, waren wir auch dabei. Die Bilettle haben wir sichtbar in unseren Trachtenkitteln ins obere Täschle gesteckt und tatsächlich hat uns niemand aufgehalten. So standen wir am Zeltrand auf der Südseite, wo wir den Tanz gut sehen konnten.

Wie wir so unschuldig dastanden, sagte plötzlich ein Oberstdorfer zu uns: „He Büebe, hocked doch do hea, mir rucked a wink zämed, no hendr schu öu Blatz.” Es war Kiefar Dunelars Josef und bei ihm der Liese. Die haben mich ja gut gekannt, denn zu denen haben wir immer die Schuhe zum Flicken hingebracht. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich aber nicht, dass deren Neffe, der auch bei den Wilde Mändle war, mir am Vortag eine saubere Watschen geschmiert hatte. Ich habe das erst einige Tage später erfahren, als ich ihn wiedersah und mich erkundigte, wer das sei.

Nach der Vorstellung sind wir schnell aus dem Zelt, denn unser Gewissen war nicht so rein. Ich musste sowieso bald heim, um später die Sommerkühe einzutreiben und zu stallen. Am Tennisplatz vorbeikommend ,sah ich,dass da ein paar Ballbuben fehlten. Da bin ich schnell rein zum Tauscher und habe gesagt, dass ich auf dem Dreier-Platz gerne Bälle aufheben würde. Der Tauscher war froh und die Spieler habe ich schon gekannt, die zahlten gut.

Vom Tennisplatz aus sah ich, wie mein Vater sich mit Klöusars Wilhelm unterhielt. Au weh, dachte ich, der wird’s dem Vater erzählen, was heute passiert ist, denn der ist ja auch bei den Wilde Mändle. Da bin ich östlich vom Doktorhaus hinüber zur Weststraße, dort runter, hinterm Scheagglar zu uns rüber und beim Holzschopf hinein. Schnell das alte Häs angelegt, auf’s Rad und die Kühe geholt. An den beiden musste ich vorbei, aber keiner hat etwas gesagt. Es wäre wir aber lieber gewesen, wenn die Schimpfkanonade, die ich erwartet habe, gleich gekommen wäre. Dann hätte ich es hinter mir gehabt; aber nichts ist gekommen. Auch im Stall und am Abend hat der Vater kein Wort darüber gesagt, obwohl er gewiss längst erfahren hatte, was wir da gemacht haben. Auch in den nächsten Tagen kam diesbezüglich nichts von ihm. Den Wilde-Mändles-Tänzern und den Musikern, die mich kannten, bin ich einige Zeit tunlichst aus dem Weg gegangen.

Einige Tage später stand der Vater von Luggi, Braxmairs Liese, vor unserem Haus beim Vater und beide haben mehrmals lauthals gelacht. Dann kam noch der Leonhard, Luggis Onkel, hinzu und der hat auch mitgelacht. Demnach muss die Unterhaltung der drei ganz schön lustig gewesen sein. Plötzlich rief mir der Vater, ich solle mal herkommen. So, jetzt wird das Donnerwetter kommen, dachte ich.

Nachdem ich mich nur zögernd näherte, sagte der Leonhard zu mir: „Kumm nu hea, du bruchschd kuin Kummr hong, des hod a so gonz güet hii khöue.” Er hatte durch Luggi von unserem Streich erfahren und sich echt darüber gefreut, er war es schließlich, der uns zum „Zitronenattentat” ermuntert hatte. Grund dafür war folgendes: Mändlars Hans und Petre Leo, die beiden Tanzmeister der Wilde Mändle hatten mit der Musikkapelle seit einiger Zeit einen Streit und es herrschte eine arge Spannung zwischen beiden Parteien. Diesen Zustand hatte der Leonhard, der ein lustiger aber auch boshafter Mensch war, im Auge, als er uns den Rat mit dem Zitronenbiss gab. Letzendlich teilten sich Musiker und Tänzer Freud’ und Leid. Die einen hat es gefreut, dass die Musik total umgeworfen hat, die anderen, weil die Tänzer nicht mehr aus und ein wussten und konfus herumgestanden sind wie die Hennen.

Mein Vater hat übrigens noch am selben Tag von Braxmair Liese von unserer Tat erfahren, der ihn aber bat, von einer Bestrafung abzusehen, da sein Bruder Leonhard der eigentliche Urheber gewesen sei. So ist die Angelegenheit für Luggi, Done und mich doch noch ganz gut ausgegangen.

Einige Tage später saßen der Luggi und ich vor unserem Haus auf der Bretterbeige und schnipfelten an einer Spreidel herum. Da kam ein Radler, ein kleiner Mann in Tracht, und als er vorbei war, fragte Luggi mich, ob ich den kenne, denn der sei ihm mit dem Schuh in den „Ronze” gesprungen. Dazu sagte er voll Zorn: „Abr wart nu, ih wir öu amol groaß, no zahl ih deam denn fümffach huim, dem Schiessar.” „Belder kenn ih dean”, gab ich ihm Auskunft, „desch dr Fronz vum Bürar, i deam olte Hüs hindr de Lippars Fehla, do dünd bu mina Bäsa.” „Dea wird no amol gugge”, schwor Luggi, „ deam rieß e d’ Oahre weck, deam Sühund.”

Leider ist es dazu nicht mehr gekommen, der Luggi (Jahrgang 1926) ist im Krieg, mit knapp 18 Jahren, am Plattensee in Ungarn gefallen.

Anmerkungen:

Im Jahr 1938 fanden vom 26. Juni bis 4. September insgesamt neun Aufführungen des Wilde-Mändles-Tanzes statt.

Mitwirkende Wilde-Mändles-Tänzer im Jahr 1938:

NameHausnameBeruf
Berktold Hans (1.Tanzmeister)MändlarZimmermann
Schratt Leo (2.Tanzmeister)PetrarBergführer
Menz WilliSkilehrer
Seeweg Josef (König)Landwirt
Käufler AntonNeaßlarLandwirt
Huber ThaddäKadeasslarMaurer
Blattner RudolfFelixarFuhrhalter
Tauscher JosefFränzlarMaurer
Zobel ClementHoldarSchreiner
Zobel FranzBürarZimmermann
Zobel WilliBürarMaurer
Berktold WilliMändlarLandwirt u. Zimmermann
Vogler HansMillnudlarPostangestellter
Jäger HansFärbarLandwirt
Vogler IgnazNennarBergführer
Schöll WilhelmKlöusarBierdepot-Angestellter



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