Der Tiefenbacher See,
ca 9000 Jahre v. Chr.
Die besondere Schönheit Oberstdorfs besteht darin, daß es inmitten der Allgäuer Alpen, in einem weiten Talkessel liegt. Seine Wiesenmatten im Sommer und das große weiße Schneefeld im Winter, zwischen den beiden Quellbächen der Iller, der Trettach und der Stillach, waren in der Nacheiszeit bis weit über den Beginn unserer Zeitrechnung hinein, wie allgemein bekannt ist, überflutet. Der große See, von geringer Tiefe, der erst allmählich verschwand, hat bewirkt, daß der Ort Oberstdorf erst verhältnismäßig spät entstehen konnte. Am Ufer dieses Sees, mit reichem Fischbestand, hatten schon in der Mittelsteinzeit, dem Mesolithikum, von 10 000 bis 3 000 v. Chr., Jäger und Fischer, zumindest in der Sommerzeit, ihr Wohnlagen. Dies hat Graf Christoph Vojkffy durch seine Ausgrabungen, beginnend ab 1935, im Oberstdorfer Gebiet nachgewiesen.
Mit seiner selbstlosen und idealistischen Einstellung hat er, soweit ich feststellen konnte, hier die frühesten Spuren menschlichen Wirkens in Bayern gefunden. Er hat dann seine prähistorischen Forschungen im oberschwäbischen Raum, am Federsee-Moor und zwischen Nibel und Ach unterhalb Schloß Zeil fortgesetzt. Mit vorgerücktem Alter war er Gast der mit ihm befreundeten Familie von Waldburg- Zeil, und hier ist er auch 1970, 91 Jahre alt, gestorben.
Er war Sproß eines alten ungarischen Adelsgeschlechtes, welches seine Abstammung vom Gründer des ungarischen Reiches, von Stefan I., herleiten konnte. Seine Mutter war Franziska, geb. Fugger von Babenhausen. Er lebte viele Jahre bei seiner Schwester Janka im Fuggerhaus im Fuggerpark von Oberstdorf. Park und Haus gingen 1935 gegen eine jährliche Lebensrente von 9200,- M in den Besitz des Verkehrs- und Kurvereins über. Rentenempfängerin war die Vorbesitzerin des Anwesens, Gräfin Janka Vojkffy, und nach deren Ableben, etwas gekürzt, ihr Bruder Christoph. Dieser Betrag wurde von 1935 an vom VKV und ab 1959 bis 1970 von der Kur- und Verkehrsbetriebe AG. geleistet. Dem Patriziergeschlecht der Fugger ist durch die Benennung der Fuggerstraße in Oberstdorf eine besondere Ehrung zuteil geworden. Nach Christoph Graf Vojkffy, dem erfolgreichen Vorgeschichtsforscher, ist ein im untem Teil neu erstellter Fußsteig von der Pfarrkirche Tiefenbach über die Ausgrabungsstelle unter dem Jehlefels zur Judenkirche benannt.
Die Prospektortätigkeit des Grafen Vojkffy, wie er sie selbst bezeichnte, war angeregt durch die „Wilde-Männle-Sagen“, wie sie in vielfältiger Art im ganzen Alpenraum Vorkommen. Hier aber, und zwar für das Gebiet um den Ochsenkopf, war in einer überlieferten Erzählung, die auch von Reiser übernommen worden ist, von zahmen Gemsen die Rede, welche also von Menschen, wohl den „Wildlütli“ gehalten worden sind. Diese Sage regte ihn, der ein richtiger Waldläufer und Naturfreund war, dazu an, im Jahre 1934 unter den Schrattenkalkfelsen oberhalb des Jehleschen Anwesens nach Spuren dieser „Wilden Männle“ zu suchen. Er fand anscheinend einige Steinstücke, welche möglicherweise künstlich behauen worden sind, also Artefakte, deren Definition oder gar Eingliederung ihm kaum möglich war. Man hielt es damals nämlich für gänzlich ausgeschlossen, daß in dieser Steinzeit schon menschliche Wesen in unser Gebiet gelangt sein könnten.
Sein Zögern bei der Feststellung, daß es sich wirklich um Spuren menschlichen Wirkens handeln könnte, wich, als im Jahre 1935 bei der Anlage eines Promenadeweges in der Senke zwischen dem Burgbichel und dem Klingenbichel eine Kulturschicht mit stellenweise starker Anreicherung von Holzkohle angeschnitten wurde. In dieser Schicht befanden sich viele kleine Steinwerkzeuge in Form von Kratzern, Schabern und Messerchen besonders aus Radiolarit und verkieseltem Kalk. Sie gehörten zum Typ der Tardenoisien. Damit war klar, daß schon in der Mittelsteinzeit, zumindest zeitweise, hier Menschen gelebt haben. Diese Feststellung hat Graf Vojkffy mühsam erarbeitet.
Er ist, obwohl viel belächelt, tagtäglich vom 21. März bis 7. Juni 1935 an der Grabungsstelle gewesen und hat auch deren Umgebung abgesucht und über seine Funde peinlichst genau ein Tagebuch mit Skizzen, wie er das auch bei seinen späteren Ausgrabungsstellen gehalten hat, geführt. Damit erwarb er sich noch ein zusätzliches Verdienst; denn bis auf wenige Stücke, welche im Heimatmuseum von Oberstdorf zu sehen sind, gingen alle 1354 Artefakte in der Prähistorischen Staatssammlung in München durch Bombeneinwirkung während des Krieges verloren. Prof. Dr. Hans Reinerth konnte mit Hilfe der Protokolle des Grafen Vojkffy sein Buch: „Die älteste Besiedlung des Allgäus“ abfassen, von welchem mir ein Fragment vorliegt.
Der Erfolg bei der Ermittlung eines mittelsteinzeitlichen Wohnlagers zwischen Burgbichel und Klingenbichel war dann für Graf Vojkffy der Anlaß, auch an anderen Stellen im Oberstdorfer Raum nach Spuren der Frühzeit zu suchen. Er hatte Erfolg nahe der Stillachschleife, am jetzigen Hochufer der Breitach, am nordwestlichen Rande des Oberstdorfer Sees, auf der östlichen Gegenseite des Sees, am Hochufer der Trettach unter dem Breitenberg und bei der Einmündung des Faltenbaches, insgesamt an 6 Stellen. Aus der Lage der Fundstellen ergibt sich auch die Begrenzung des Oberstdorfer Sees zu dieser Zeit.
Diese großen Erfolge ermutigten ihn nun auch dazu, sich dem Ausgangspunkt seiner prähistorischen Forschungen, den „Wildlütli“ unterm Ochsenberg, zu widmen. Er grub, mit Studenten als Mitarbeitern, im Frühjahr 1936, vor allem aber vom 5. Januar bis 16. Mai 1937, mit Längs- und Querschnitt zur Wand. Die Grabung wurde vom 19. Mai bis 7. Juni von Ed. Peters fortgesetzt. Das Ergebnis war großartig; denn mit 683 Artefakten und der Aufnahme der Schichtenfolge konnte einwandfrei nachgewiesen werden, daß sich hier ein Wohnlager aus der Mittelsteinzeit befand. Die erstmalige Benützung erfolgte etwa kurz nach 10 000 v. Chr. und es wurde, wie auch die zuvor am Oberstdorfer See ermittelten, vermutlich jahrhundertelang bewohnt. Die Wohnlager wurden höchstwahrscheinlich in der Warmzeit nach Würm 3 angelegt und zwar zeitlich früher als die Wohnplätze an der Aitrach und an den Unterallgäuer Seen. Das Fehlen von Tonscherben ist der Nachweis dafür, daß diese frühen Menschen noch keine Tongefäße hatten.
Als ich diese Dinge durch Nachforschungen und Veröffentlichungen erfahren hatte, war ich oftmals an der früheren Grabungsstelle und versuchte mich in diese frühere Zeit zurückzuversetzen. Zuerst stellte ich fest, daß die jetzt am unteren Rand des Jehlefelsens vorhandene Höhlung nicht die sein kann, in welcher die Steinzeitmenschen hausten. Dieselbe lag weiter rechts und da sie nicht mehr auszumachen ist, hatte ich nichts dagegen, daß die Erinnerungstafel und das Sonnenbänkchen zur Meditation über die Menschheitsentwicklung an der neuen Höhlung angebracht worden sind, als im Jahre 1980 der Graf-Vojkffy-Weg angelegt wurde.
Der Platz des Wohnlagers unter der Wand ist ganztägig in der Sonne, also warm, von oben nicht einsehbar und auch nicht erreichbar, also sicher. Ich fragte mich aber immer wieder, warum diese Menschen diesen so hoch liegenden Ort gewählt haben. Sie benötigten doch eine gute Ernährungsbasis, welche hier nicht erkenntlich war. Meine Erkundigungen beim Geologischen Landesamt erbrachte für mich die Lösung dieser Frage. Das Wohnlager befand sich an einem See, welcher zu dieser Zeit das ganze Gebiet von Tiefenbach erfüllte, etwa ähnlich, wie dies die Skizze zeigt. Nachgewiesen durch Gesteinsfunde vom Widderstein, wo die Breitach entspringt, im Gebiet des Grundbaches bei Obermaiselstein, floß die Breitach früher durch die Engstelle, welche jetzt als „Hirschsprung“ bezeichnet wird.
Der Abfluß wurde dann durch einen Bergsturz versperrt und es entstand der Tiefenbacher See, an dessen Ufer die mittelsteinzeitlichen Fischer ihr Wohnlager errichteten. Der neue Abfluß, an der tiefsten Stelle zwischen der Sulzburg und dem Höhenrücken, wo nun Jauchen liegt, grub sich in den folgenden Jahrtausenden immer tiefer ein; damit verkleinerte sich der See und dies ist die Erklärung dafür, daß der Wohnplatz etwa ab 8 000 v. Chr. nicht mehr benützt worden ist. Die Oib von Tiefenbach ist der Tiefgrund des ehedem so großen Sees.
Der Graf-Vojkffy-Weg beginnt beim Kirchlein von Tiefenbach. Er steigt an zum Wohnlager und führt dann direkt an der glatten Wand aus Schrattenkalk entlang aufwärts bis zum sog. Kapf. Die Fortsetzung des Weges zum Jägersberg, mit dem umfassenden Blick über Oberstdorf, führt entweder durch die Senke oder nach links über die interessante sog. Judenkirche, ein natürliches Felstor. Den kurzen Umweg sollte man nicht scheuen. (Über diese geologische Besonderheit habe ich im Heft 1/80 von „Das schöne Allgäu“ berichtet.)