Steine sprechen

von Christoph Vojkffy am 01.06.1991

Eine Gegend wird erst dann von Menschen besiedelt, wenn sie imstande ist, den Siedler aus dem Lande heraus zu ernähren. Für das obere Allgäu galt die Ansicht, daß es erst zur Alemannenzeit besiedelt wurde, wenn auch Funde aus Bronze- und Römerzeit Vorlagen.

Die letzte Eiszeit hatte ihre Gletscher weit ins Vorland der Alpen hinausgetrieben und überall, wo ihre Eismassen abzuschmelzen begannen, folgte lebenspendende Vegetation für Wildherden, denen der Mensch auf der Spur nachzog. Rückstände der Eiszeit sind unsere Seen im Alpenvorlande, an ihren Ufern mußte sich naturgemäß der erste Kulturniederschlag damaliger Siedler erhalten haben. Dem Tübinger Gelehrten Dr. Hans Reinerth war es beschieden gewesen, als erster die Kulturzeichen der nacheiszeitlichen Menschen für den württembergischen Federsee nachgewiesen zu haben. Gelegentlich einer Besprechung auf Schloß Zeil bei Leutkirch sprach Reinerth die Vermutung aus, dieselben steinzeitlichen Funde könnten sich auch an den Ufern der württembergischen und bayerischen Seen und Flüsse des Allgäus zeigen, eine Annahme, deren Richtigkeit ich bereits am nächsten Tage mit typischen Funden vom Aitrachufer, einem linken Illerzufluß, belegen konnte.

Auch zeigte es sich weiter, daß die Ufer der kleinen Seen dieser Gegend, besonders dort, wo sich Landzungen seewärts gebildet hatten, dieselben Besiedlungsrückstände aufweisen, das Gleiche konnte ich auch für das alte Illerufer bei Künersberg und Trunkelsberg östlich von Memmingen und weiter nördlich über Kellmünz bis Illertissen nachweisen. Das Material, das damals zur Herstellung der Werkzeuge verwendet wurde, besteht ausschließlich aus einheimischem Gestein, d. h. dem Hornsteine, den die Iller und die Eiszeiten aus unserem Allgäu herausgeschoben hatten.

Es war also anzunehmen, daß der Steinzeitmensch in eine Gegend stromaufwärts vorgerückt war, die ihm zwei seiner wichtigsten Existenzbedingungen sicherte, Fische im Flusse und Rohmaterial für seine Werkzeuge am Ufer. Logisch folgte aus dieser Beobachtung, daß die Niederlassungen dieser Menschen sich in unmittelbarer Nähe ihres lebenspendenden Wassers befinden mußten, also auf den niederen Hügeln der Iller, wo diese trocken und lawinensicher erschienen. In Verfolgung dieses Gedankens untersuchte ich die Quellflüsse der Iller und zwar besonders genau die Breitach, da gerade sie die härtesten und schönsten Hornsteinknollen in ihrem Rinnsal führt. Bei solchen Untersuchungen ist man lediglich auf Plätze angewiesen, an denen die Erdoberfläche beackert, von Maulwürfen aufgewühlt oder von Wegen durchzogen ist. Nur an solchen Plätzen besteht die Möglichkeit, daß einstmal bearbeitetes Steinmaterial, das heute durchschnittlich in einer Tiefe von 20 - 35 Zentimeter ruht, wieder ans Tageslicht gebracht wird.

Hat man nun an einer solchen siedlungsverdächtigen Stelle auch nur einen kleinen Hornsteinabspliß gefunden, dessen Beschaffenheit auf menschliche Beeinflussung schließen läßt, so kann man seiner Sache fast immer sicher sein. Ein kleiner Abspliß mit concaver oder convexer Buckelung, der einen kurz geführten Schlag eines Bearbeitungsinstrumentes vermuten läßt, ist erfreulicher als das schönste Steinwerkzeug, erfreulicher selbst als die feingearbeitete Pfeilspitze, denn ersteres mag seinem Besitzer auf der Wanderung verloren gegangen sein, die Pfeilspitze aber kann das verwundete Tier mit sich geführt haben, während ein Abspliß dort liegen blieb, wo gearbeitet wurde, d. h. auf dem Aufenthalts- oder Siedlungsplatze der steinzeitlichen Sippe.

An der Brücke über die Breitach, unmittelbar bevor sich die drei Quellflüsse zur Iller vereinigen, liegt am Ostufer der kleine Flachhügel „am Faulenbach”. Gegen Westen steil zur Breitach abfallend, zieht er sich östlich verlaufend in die heute noch sumpfige Stillachniederung hin und erschien dadurch als ein siedlungstechnisches Dorado für unsere steinzeitlichen Urahnen. Material für seine Geräte führte der nahe Fluß und in unmittelbarer Nähe beherbergte der Sumpf leicht zu erlegendes Wasserwild in Menge. Bereits die erste oberflächliche Probegrabung bestätigte meine Annahme. Leider war auf diesem kleinen Hügel vor 50 oder 80 Jahren ein Äckerchen angelegt worden, so daß die erste Fundschicht in ihrer Ursprünglichkeit gestört erschien, alles aber, das tiefer lag als dieser nicht sehr weit eingreifende Acker, erschien in primärer ungestörter Lage unter der Humusschicht direkt auf fettigem Lehmboden aufsitzend.

Erfreulicher Weise gelang es bald, an den Kernpunkt der einstigen Siedlung, an den Schlagplatz heranzurücken. In einem Radius von ungefähr 1 - 1 1/2 Metern lagen in einer Tiefe von 20 - 35 Zentimetern mehr als zweihundert kleine, vom Hornsteinknollen geschlagene Absplisse. Im weiteren Umkreise fanden sich gebrochene oder durch Gebrauch unverwendbar gewordene Werkzeuge, während sich gute, ganz erhaltene Artefakte außerhalb dieses Kreises zeigten. Gearbeitet wurde also am Schlagplatze vor dem Hütteneingange, gebrochene Instrumente wurden im Hüttenraume ausgewechselt und dort mit Absicht weggeworfen, während gute, noch zu gebrauchende Manufakte rings um die Hütte ohne Absicht verloren gingen.

Auf dem Kamme des Flachhügels wurde eine Fläche von 300 Metern ausgehoben und durch Markieren eines jeden einzelnen Fundes mittels eines kleinen, in die Erde gesteckten weißen Stabes die Umrisse von zwei primitiven Hütten in den gleichen Ausmaßen festgestellt, wie sie Dr. Reinerth an den alten Ufern des Federsees nachgewiesen hatte. Die Länge der Hüttenböden zeigte auch hier die gleichen Maße nämlich 3 1/2 Meter bei einer ungefähren Breite von 2 Metern. Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß es sich hier nicht um einen ganzjährigen Aufenthalt gehandelt hatte, sondern, daß die Hütten im Herbste, wenn der Fang der flußaufwärts strebenden Salmoniden beendet war, verlassen und erst wieder im nächsten Frühjahre nach der Schneeschmelze bezogen wurde, wenn die Jagd auf Land- und Wasserwild dazu einlud.

Die Station „am Faulenbach” ist bisher die einzige, die im oberen Allgäu wissenschaftlich genau untersucht wurde. An dieser Untersuchung nahmen zeitweise auch der Direktor der bayerischen prähistorischen Staatssammlung, München, Professor Dr. Ferdinand Birkner, und der Kreisheimatpfleger Dr. Eberl, Obergünzburg, teil. Aus der Feder von Professor Birkner erscheint im nächsten Hefte der „Bayerischen Vorgeschichts-Blätter” ein Aufsatz über diese steinzeitlichen Funde mit 64 Abbildungen im Texte.

Südlich der eben erwähnten Station ziehen sich überall dort, wo günstig gelegene Quellen liegen, gleiche Aufenthaltsplätze steinzeitlicher Menschen hin, doch sind diese Plätze nicht mehr flußgebunden und führen über Reute zum Wannenköpfle, wo sich „in der Wanne” ein mit besonders gut bearbeiteten Artefakten ausgezeichneter Platz gefunden hat, der durch einen kleinen Kartoffelacker der Frau Tannheimer erschlossen, an starker Quelle liegt. Weiters schneidet der Weg zum Hotel Schönblick zwei Fundplätze an „am obern und untern Schlattenbichl”, während der höchste bisher in Europa festgestellte mittelsteinzeitliche Fundplatz oberhalb des Hotels am Wege zur Sölleralpe an einer besonders starken und kalten Quelle liegt.

All diese hochgelegenen Plätze sind bisher nicht näher untersucht, so daß wir noch nicht sagen können, ob sie das gleiche Fundmaterial aufweisen wie die Uferplätze. Es wäre anzunehmen, daß sich in diesen Höhen nur zur Jagd verwendete Manufakte zeigen würden; allerdings läßt sich auch der Gedanke nicht ganz unterdrücken, daß diese frühen nacheiszeitlichen Siedler bereits ein Tier gezähmt hatten, oder es wenigstens in halbgezähmtem Zustande beherrschten wie unsere heutigen nordischen Wanderlappen. Bisher aber haben wir noch keinen Beweis, der zu dieser Annahme berechtigte. Nicht unerwähnt soll noch eine Hypothese bleiben, daß wir es hier mit einem steinzeitlichen Alpenpaß zu tun hätten.

Ich komme nun zur wichtigen Frage der Zeitstellung dieser Funde, von der absolut feststeht, daß sie nur „postglazial”, nacheiszeitlich, sein kann. Reinerth hat sich für die Besiedelung der Federseeufer mittels Pollenanalyse die Bestzeit der Haselstaude errechnet und diese ins 8. vorchristliche Jahrtausend gestellt. Wenn man bedenkt, daß die vorgeschobenen Gletscher der letzten Eiszeit in der Ebene des Federsees unverhältnismäßig früher abgeschmolzen sein müssen als die berggebundenen Eismassen am Söllereck und wenn wir die normale Abschmelzungsskala der Gletscher zu Grunde unserer Berechnung legen, so können wir schließen, daß die gleichen Siedlungsbedingungen um Oberstdorf erst 3 - 4000 Jahre später eintraten. Die mittelsteinzeitliche Bevölkerung des Federsees, dessen Hauptblüte also im achten oder siebten Jahrtausend lag, scheint von dort im vierten Jahrtausend durch eingewanderte Neusteinzeitler verdrängt worden zu sein, worauf die Funde hinweisen.

In unserer Gegend dürfte dies insofern ganz anders gewesen sein, als die viel später gekommenen Mittelsteinzeitler hier niemals von den Neusteinzeitlern mit ihren großen und geschliffenen Waffen verdrängt wurden, sondern sich solange in dem verhältnismäßig schwer zugänglichen Tale gehalten haben, bis der Stein durch Metall abgelöst erschien, und so muß die erste Völkerwelle, mit der unser Urallgäuer zusammengestoßen war, der Bronzezeitmensch gewesen sein, von dem wir den interessanten Bohlenweg im Goymoos besitzen und auf den auch die zwei Oberstdorfer Bronzebeile hinweisen. Diese Leute mit den Metallwaffen machten auch der Herrschaft der Jungsteinzeitler am Bodensee ein Ende, jedenfalls blieben von den dreiunddreißig steinzeitlichen Pfahldörfern dort nur fünf als bronzezeitlich erhalten. Langsam ging dann die Bronze in Eisen über. Dr. Eberl schreibt in seinem famosen Werk „Die bayerischen Ortsnamen als Grundlage der Siedlungsgeschichte”: „Als keltisch gelten nach fast einstimmigem Urteil die Namen der meisten unserer Flüsse: Argen, Donau, Günz, Glonn, Glött, Iller, Isar, Lech, Mindel usw.”

Um das fünfte vorchristliche Jahrhundert wird unsere Gegend von keltischen Stämmen bewohnt und neben den Flußnamen wird auch mancher Berg von ihnen benannt worden sein. So halte ich das Wort „Schratt” für keltisch und die Bezeichnung „Schrattenwang” für keltogermanisch, womit ein Berghang bezeichnet wird, auf dem noch „Schratten”, kleine, fremdstämmige Urbevölkerung haust oder einst gehaust hat. Professor Dr. Menghin, Direktor des urgeschichtlichen Instituts der Universität Wien, hatte lange schon vor mir den Gedanken ausgesprochen, daß die Mittelsteinzeitler, die „Leute von Tardenois”, klein gewachsen, pygmoid, waren. Menghin schrieb mir am 20. 12. 1933: „Es wird Sie interessieren, daß ich bezüglich des Tardenoisien eine eigene anthropoligsche Theorie aufgestellt habe und die Ansicht vertrete, daß seine Träger Pygmoide waren und eine sehr primitive Kultur hatten.

Sie haben auch bestimmt damit recht, wenn Sie annehmen, daß es sich in Oberstdorf um ein nachlebendes Tardenoisien handelt, ihr Gedanke, daß die Wildmännle- und andere Sagen damit Zusammenhängen, ist sehr gut möglich. Unsere deutschen Vorväter können sie von der romanischen Bevölkerung übernommen haben und diese wieder von der vorrömischen, es muß nicht eine direkte Anschauung der Zwerge vorhanden gewesen sein.” Soweit Menghin, einer der größten Fachgelehrten Europas.
In unserer Gegend wurde die keltische Herrschaft durch die römische abgelöst, in den letzten Jahrhunderten brauste aber schon mancher Germanensturm über das Gebiet, bis es endlich zur vollen Zurückdrängung der keltischen und romanisierten Bevölkerung kam. . .

Und wenn die Steine nun wirklich redeten, würden sie lächeln und sagen: „Einiges habt ihr Menschen uns ganz nett abgelesen, aber ganz stimmt es doch noch nicht.” Wir müssen also weiter forschen.

Die Ausgrabungen der letzten Monate wurden in unserem Heimatmuseum ausgestellt mit Ausnahme derjenigen Funde, die an die bayerische Staatssammlung München abgetreten wurden.

Vorstehender Beitrag des Grafen Vojkffy erschien erstmals im April 1934 im Oberstdorfer Gemeinde- und Fremdenblatt (Nr. 43, 14. Jg.). Die damalige Oberstdorfer Heimatzeitung stellte mit diesem Artikel an ihre Leser keine
 geringen Anforderungen, was bestimmte Namen und Begriffe angeht. Es erschien deshalb wünschenswert, bei diesem Neudruck einige Erklärungen in Form von Fußnoten anzubringen. Sie beschränken sich auf reine Sachangaben.
 Werturteile des Verfassers wurden nicht kommentiert oder gar geändert. Der Text ist so belassen, wie ihn Graf
 Vojkffy 1934 niedergeschrieben hat. Im Schlußabschnitt wurde eine geringfügige Kürzung vorgenommen. Die Abfassung der Fußnoten (mit Hilfe von Nachschlagewerken, z. B. Brockhaus Enzyklopädie, 1966 - 1976) und die
 Kürzung besorgte Dr. Kurt Eberhard.

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