Bergheuer im Laufbach

von Regina Zirkel-George am 01.06.1990

An den Spätsommernachmittagen, gegen sechs Uhr, geht ein Mann mit einer meterlangen Schalmei durch die Straßen Oberstdorfs. An den Straßenkreuzungen bleibt er stehen und bläst seinen Dreiklang, den die Kinder mitsummen: Lent Küh rüs! Laßt die Kühe raus! Und dann strömt die graubraune Schar aus den Ställen hervor, breit und behäbig. Mit würdiger, selbstbewußter Ruhe ziehen sie dem Dorfhirten nach, hinaus auf die Gemeindeweide, die seit Urzeiten bestehende Allmende Oberstdorfs, um während der heißesten Zeit im Nachtweidegang ihr Teil an Alpkräutern zu bekommen. Denn sie sind, während das übrige Vieh des Dorfes auf den hochgelegenen Alpen sommert, die alleinige Milchversorgung des Ortes, diese Gassenkühe.

Ja, im Sommer, da ist bei halbwegs günstiger Witterung die Ernährung des Viehstandes leicht sicher gestellt! Aber der Winter ist lang und das Wiesenband der Täler ist schmal. Die Berge liegen in nicht gar weitem Rund um das wachsende Dorf und Heu und Grummet müssen in gar viele Raufen gesteckt werden, bis wieder der Weidegang möglich ist. Der alte Bauer Schedler weiß den Ausweg, den seine Vorfahren seit Jahrhunderten nahmen: Man muß Heu holen auf Wiesen, wo selbst das Alpvieh nimmer hingelangen kann, hoch über der Waldgrenze, dort wo die Steilheit der Berghänge gerade noch eine Grasnarbe trägt. Bergheu einbringen ist mühsam und nicht ohne Gefahren, aber Bergheu ist das beste Futter, das der Allgäuer seinem Vieh reichen kann. Unser Bauer hat aus den Gemeindegründen ein Bergheubat gepachtet, den Löürugge im Laufbach, unter dem Laufbachereck. Seine Söhne aber rüsten sich zum Ausmarsch.

Es ist Ende Juli und der Sommerwind geht anderswo über reifende Getreidefelder. Um die Gipfel, die das Oytal abschließen aber, um das Himmelhorn, den Schneck und das Laufbachereck liegt der Frühling gebreitet. Bergfrühling ist dort
oben und die Wiesen stehen voll goldköpfiger Trollblumen und leuchtender Vergißmeinnicht, voll weißer Sterne doldenständiger Anemonen und wunderblauer Enzianbecher. So zart und doch so wohl entwickelt sind diese Blumenformen, so rein und doch so stark sind ihre Farben in das smaragdene Grün gezeichnet. Seltene Falter schwingen darüber hin, eine Hummel im goldbraunen Röckchen summt geschäftig. Die Felsgipfel, die sich grau über diese Pracht erheben, zeichnen sich wie friedlich weidende Tiere in den Sommerhimmel. Ein unendlich reiches, wundersames Märchen ist dieser Bergfrühling! Draußen im Tale aber dengelt ein junger Bursche die kurzmesserige Bergsense, die Seges.

Der Kumpf und der Wetzstein, der Dengelstock und der Hammer, Segesen und Rechen und Gabeln, Bergseil und Steigeisen, die Pfanne und der Mundvorrat für die Woche, all das muß mitgenommen werden. Ein Zelt, in dem die drei Burschen eng nebeneinander schlafen können, ist ein schnell zu erbauendes Haus und leichter zu tragen, als die Bretter zur Bergheuerhütte, die die Alten hinaufzutragen pflegten. Aber der Mundvorrat ist kaum ein anderer geworden: Ein Säckchen Mehl, ein Hafen Schmalz, Salz und ein Laibchen Bauernkäs, Brot und vielleicht auch noch Zwiebeln; denn Schnittlauch wächst ja wild dort oben und was braucht man mehr zu „Käsknöpfle” und „Kratzat”, den beiden hauptsächlichsten Allgäuer Gerichten? Noch liegt der Morgen bleigrau im Oberstdorfer Tal, da ziehen die drei jungen Menschen schwerbeladen die Oststraße hinauf.

Bergheuer im Laufbach - Heft 16

Regina Zirkel-George

Die ersten Bergwanderer streben fröstelnd dem Nebelhorn zu und blicken erstaunt auf die munteren Drei, die mit ihnen den schlafenden Weiler Faltenbach durchschreiten.

Dann aber wenden sich die Bergheuer zur Oytalstraße, die am Westabhang des Schattenberges nach Süden führt. Es schreitet sich gut in der Morgenkühle. Die Vorberge um den Oberstdorfer Kessel liegen blauschwarz im Kleide ihrer Wälder und im Schatten des erwachenden Tages. Aber im Westen drüben, auf den steilen Klippen des Hochifen, fängt jetzt ein zartes Leuchten an. Mählich färbt er sich rosa im Widerschein der hinter dem Nebelhorn aufsteigenden Sonne. Und diese Röte faßt die Südhänge aller höheren Gipfel und kündet denen im Schatten der Täler, daß der Tag dort oben gesiegt hat.

Unsere Drei schreiten tüchtig aus und singen dabei ein Lied mit einem langen „Johlar” als Kehrreim. Noch liegen Kratzer und Trettachspitze mit den zwischen ihnen gähnenden „Wilden Gräben” in der Richtung der Straße, aber wo sie den Oybach trifft, wendet sie sich nach Osten und die Landschaft erscheint mit einem Male verändert. Der Schattenberg liegt wohl weiter zur Linken, zur Rechten aber tritt die Riefenkopfkette mit ihren Wäldern und Alpen nahe an den Bach heran. Vom Rande des weiten Oberstdorfer Kessels steigt das Sträßlein sanft in das enge Oytal hinauf.

Unterm Riefenkopf im Blattners Gündle heuen sie schon und ein heller „Juchzgar” grüßt herab. Die Burschen überqueren die so oft von Hochwassern mitgenommene Brücke. Als winziges, glasklares Wässerlein zieht der Oybach heute drunter weg und niemand möchte glauben, daß er noch kürzlich, nach einem Gewitter, gelbbraune Wogen durch die ganze Breite des Tales stemmte. Am Ochsengehren, zur Linken, baut sich eine Felswand auf. Die Adlerwand heißt sie, weil sie seit Menschengedenken diesen königlichen Vögeln Horststätte bot. Die Schedlerbuben wissen von einem Adlerfang, zu dem nicht nur ganz Oberstdorf, sondern sogar die „Sünthofar” ins Oytal kamen. Über die „Seewände” herab stürzt sich der Abfluß des Seealpsees in turmhohem Falle. Sein Rauschen und der Schritt der Bergheuer sind die einzigen Geräusche in der morgendlichen Stille des kühlen Tales.

Bei der Oytalwirtschaft gibt es ein fröhliches Zurufen und Grüßen, denn die Menschen hier zu Lande kennen einander und wissen, daß sie um den anderen wissen müssen, wenn er seine Kraft mit den Bergriesen messen geht.

Hinterm Luegenalper Wald baut sich zur Rechten die Höfats mit steilen Flanken auf. Die Felshäupter des Himmeleck und des Schneck schließen das Tal, über ein Stieglein zur Linken aber geht es hinauf „ins Laufbach”, das sind die vom Gipfelrund sich senkenden Hänge, deren Überschneidung die Sohle eines Bachbettes bildet. Die Talrichtung krönt nun das Laufbachereck, von dem der Laufbach herabströmt, eine eiskalte, klare Quelle. Zur Linken, gegen den Schochen zu, liegt das gepachtete Heubat, unsere Bergheuer sind am Ziel.

Die Sonne steht über den „Wilden” und schickt ihre Strahlen unbarmherzig herüber, den Tau zum letzten Mal von lebendem Gras und leuchtenden Blumen zu trinken. Die Schedlerbuben werfen die Lasten unter herrzhaften Reden ab. Auf einem ziemlich ebenen Platz, dem unteren Ende des Heubat nahe, wird das Zelt aufgeschlagen. Seit ältester Zeit stand die Bergheuerhütte hier und die Steine, die schon so oft die Fuirstell gebildet haben, liegen noch beisammen. Auch der „Schober”, der hohe, runde Heuturm, wird hier errichtet werden, denn der Platz erscheint einigermaßen lawinensicher für den Winter.

Kurz wird aus dem Rucksack gemahlzeitet. Das Kochen darf keine große Rolle spielen im Leben der Bergheuer und heute, wo sie erst von Mutters Schüssel kommen, besteht auch wenig Lust dazu. Da lockt die duftende Bergwiese zum Schnitt.

Schnell hat sich jeder den Streifen zugemessen, den er hinaufmähen will, Breite um Breite. Es ist ein ander Arbeiten als auf den Wiesen im Tale drunten, wo man mit weitausholendem Zug des langen Sensenmessers saftige Gräser in breiten Schwaden niederlegt. Nur mit kurzem Messer kann man den steil aufsteigenden Hang angehen, mittels Steigeisen eingekrallt in den unsicheren Grund. Unebenmäßigkeit des Geländes und beschränkte Standsicherheit bemessen die Weite der Segesschwünge gar knapp. Dazu kommen die vielen, vielen Steine, die der Seges breite Scharten schlagen. Fast nach jeder Breite kehren die Heuer zu ihren Dengelstöcken zurück und der Schlag der Hämmer hallt von den Wänden wider, ehe ein neues Streifchen Bergwiese umgemäht wird. Langsam, aber stetig schieben sich drei Dengelstöcke dem Gipfel zu.

Wie gut die Drei in der Arbeit Schritt halten! Gleichmäßig wächst die gemähte Fläche dem Gipfel entgegen, schallen die Hämmer beim Dengeln. Da schweift wohl auch ein Blick talauswärts, hinüber zur Höfats, die sich majestätisch aus der Tiefe reckt. Grad zum Rauhenhalstobel hinüber fällt das Auge und der zieht es mit magischer Gewalt zur Höhe des viergespaltenen Gipfels empor. „Hermann! ” ruft der jüngste der Brüder aus der Tiefe seines Erlebnisses den nächsten an, „wenn der Herbst kommt! ” und seine Hand weist zur stolzen Königin der Allgäuer Berge hinüber. Ja, wenn der Herbst kommt, wenn alle Bauernarbeit getan ist und der Strom der fremden Bergfreunde verebbt, wenn die Tage zwar kurz, aber glasklar und hellsichtig sind, dann wollen sie die Höfats besteigen, denn dann gehört die Bergwelt ganz ihren eigenen Kindern.

„Gib obacht, Liese!” ruft nun der Bruder zurück. Und schon springt der Angerufene zur Seite: Prasselnd ergießt sich eine Menge von Steinen über die Felswand, unter der Liese gestanden. Der Höhenweg zum Laufbachereck führt dort oben dahin und die Blumenfülle verlockt die Wanderer vom Wege abzuweichen. Nicht selten sind da die Bergheuer in Gefahr, durch die losgetretenen Steine erschlagen zu werden.

Tagelang geht so die Arbeit, nur von den einfachen Mahlzeiten unterbrochen. Was gestern gemäht wurde, wird heute, nachdem es die Sonne recht getrocknet und es wohl auch gewendet worden ist, zum hohen „Schober”, dem Heuturm zusammengetragen. Große, wohl zentnerschwere Bündel werden da aus den einzelnen „Büscheln” zusammengebunden nach einem uraltbewährten System der Verschnürung mit Seilen und Holzringen. Ein „Kopfloch” wird in das Bündel gemacht und gegen den Hang gestemmt hebt der Bergheuer die Last auf seine Schultern, die mitsamt dem Kopfe fast im duftenden Heu versinken. Vorsichtig, doch mit unglaublich sicherem, berggewohntem Schritte geht es dann über den steilen Hang hinab, über manches Tobel, das nur für Gemsen überschreitbar scheint, zum Stapelplatz. So manchen mag die Bürde schon aus der Bahn gedrückt, über den Abhang hinuntergerissen haben - unsere Brüder arbeiten ruhig weiter. Sie kennen die Gefahren, sie wissen, daß Ruhe und Überlegtheit alles ist.

Einmal, in der Nacht, als die drei Buben in dem engen Zelt dicht nebeneinander liegen, schreit Ernst auf: „Ich glaub, mich hat eine Otter gstochen!” Aber es ist nur eine Geschwulst vom ständigen Steigeisentragen am Fuß, und der Traum hat den Schmerz mit den Bildern des Tages gedeutet.

Ja, die Otter! Wie sie sich durchs Gras windet, hin zu ihrer Wohnung unterm Stein, wie sie wollüstig auf der Felsplatte liegt, ihren schlanken glatten Leib zu sonnen! Sie ist ein geheimnisvolles Tier, das einem wohl Angst machen kann. Und die Brüder sprechen von den Tieren ihres Heubat in der dunklen Enge des Zeltes, über dem sich der weite, sternbesäte Sommerhimmel der Allgäuer Berge wölbt wie ein mächtiger Dom. Ja, die possierlichen Murmeltiere, die „Burmente”, die so scheu vor den Menschen fliehen, sind liebe Geschöpfe! Und sogar von den Gemsen weiß das Laufbach eine seltene Freundschaft zwischen einem Bock und einem Bergheuer zu berichten. Die beiden lebten tagelang nebeneinander her - es redet sich sanft in den Schlaf.

Der nächste Tag bringt dafür ein Erlebnis mit den Vögeln der Bergwelt: Die Schwester der Drei kommt aus dem Dorfe und bringt eine willkommene Küchenzettelabwechslung mit, Leberkäs, den sie gleich an der Herdstelle abröstet. Ehe sie die Mäher herabruft, stellt die Resl die Pfanne vom Feuer. Aber das Mädchen kommt nicht weit, da läßt sie ein lautes Kreischen umblicken: Durch den Duft angelockt, umflattern die Bergdohlen die heiße Pfanne mit heftigem Lärm. Die Brüder finden ihre Schwester dann, wie sie das Mahl gegen die Dohlen verteidigt.

Wenn endlich der letzte Wiesenstreifen am Löürugge gemäht ist und auch das letzte Bündel Heu zum Schober getürmt wurde, wenn die Brüder bereits Fuirstell und Zelt abbrechen, dann hat der eine um den andern einen Gang zu den Felstürmen, die sich steil in das Heubat herabsenken, zur „Kirche”. Dort haben die schwingenden Segesen einen Blumengruß verschont, den jeder nun heimwärts tragen will. Für wen? Ei, nun, für das Mädchen, an das der Bergheuer während der Woche im Laufbach gedacht hat.

Im Bergverlag Rudolf Rother, München, erschienen 1938 sechs Erzählungen von Regina Zirkel-George unter dem Titel: „Oberstdorfer Bilderbuch”. „Bergheuer im Laufbach” ist daraus entnommen.

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