Einheit in der Vielfalt - zum malerischen Werk von Maximilian Rueß

von Karl Ruhrberg am 01.12.1990

Maximilian Rueß, 1925 in Oberstdorf geboren, im Februar dieses Jahres, noch
 nicht 65jährig, in einer Münchner Klinik einem schweren Leiden erlegen, war 
sicherlich der wichtigste und substantiellste Künstler des Allgäus in unserer Zeit.
 Kennzeichen seiner künstlerischen Arbeit und seiner Persönlichkeit war eine unbe
stechliche Integrität. Er war ein leidenschaftlich empfindender und zugleich stiller, in sich gekehrter Mann, sein Wesen freundlich und weltzugewandt, aber auch
 melancholisch und Schwermutschatten werfend.

An seinen Freuden ließ er seine
 Umgebung teilnehmen, seine Traurigkeiten behielt er für sich. Allein in seinen 
Bildern und seinen Skulpturen, sofern diese in freier schöpferischer Entfaltung
 und ohne Einspruch von außen entstanden sind, teilte er sich auf künstlerisch chif
frierte, vielfältige Weise in der ganzen Fülle seiner Existenz mit, gab er seinem
 schöpferischen Leben auf einprägsame, unverwechselbare Weise Gestalt und Form.

Dieses Leben war reich, aber auch geprägt von Verzichten, ein Künstlerleben auf
 dem Lande, fernab vom urbanen Kunstbetrieb mit seinen Erfolgszwängen und sei
nem mitunter bedrückenden Automatismus. In Bolsterlang hatte er, der auch ein
 vorzüglicher Architekt geworden wäre, sich mit eigener Hände Arbeit ein Haus
 geschaffen, in dem von der Raumdisposition über die Balkendecke bis hin zur
 Struktur des Putzes alles stimmte. Diese schönen Wohnräume ließen schon auf
 den ersten Blick die gleichen Eigenschaften erkennen, die das künstlerische Werk 
von Maximilian Rueß auszeichnen: Präzision und technisch-handwerkliche Per
fektion auf der einen, Phantasie und Sensibilität auf der anderen Seite. Kunstwer
ke und Gegenstände des täglichen Gebrauchs wurden mit der gleichen Sorgfalt
 auf der Basis genauer Materialkenntnis produziert. Das frühe Studium des Inge
nieurwesens und die Praxis als Flieger waren dafür die besten Voraussetzungen.

Weder im Umgang mit der Farbe noch mit der Bronze, mit dem Kupfer oder dem
 Stein gab es für den Maler-Bildhauer Probleme bei der Umsetzung seiner inhaltlichen oder formalen Vorstellungen in die sichtbare bildnerische Realität, ob gegenständlich oder abstrakt. „Es geht um Farben, Flächen und Formen, die zueinander in Beziehung gesetzt werden”, sagte Rueß. „Deswegen ist es nicht sehr bedeutsam, ob das in gegenständlicher oder naturferner Umgebung geschieht.” Natürlich 
nicht. Denn wenn nicht die formale Qualität über den Rang eines Bildes entschiede, wäre das Motiv allein das Entscheidende, und eine Raffael-Madonna oder Leo
nardos Abendmahl wären nicht viel mehr wert als die Arbeit eines beliebigen Votiv
malers, Defregger wäre so wichtig wie Goya und Makart so gut wie Velazquez.

Im Werk von Maximilian Rueß gibt es eine beträchtliche Spannung vom expressiv - manchmal auch depressiv - grundierten Gegenständlichen bis hin zum fast
 völlig Abstrakten, dem freilich immer ein konkretes Erlebnis von Landschaft, Figur 
oder Physiognomie zugrunde liegt. Jedes Bild, jede Plastik ist aus der lebendigen 
Anschauung entstanden und wird in eine mehr oder weniger freie Formensprache übersetzt. Der Maler Rueß, von dem hier hauptsächlich die Rede ist, abstrahiert
 im wörtlichen Sinne, daß heißt: er zieht die Form von den Gegenständen ab und
 verdichtet sie wieder zum bildnerischen Zeichen. Diese Art des künstlerischen 
Prozesses verbindet, über alles scheinbar so Gegensätzliche der malerischen Arbeiten hinweg, das farbenfrohe, gegenstandsorientierte Frühwerk mit den dunklen 
Visionen der mittleren Schaffenszeit ebenso wie mit den abstrakten Variationen
der späten Jahre.

So hat die Arbeit des Künstlers wie jede Kunst, die diesen Namen verdient, immer 
mit Wirklichkeit zu tun. Sie ist Echo und Antwort auf die Realität. In diesem
 Zusammenhang ist vielleicht der Hinweis auf die Feststellung des großen Baseler
 Kunsthistorikers und Museumsmanns Georg Schmidt erlaubt, für ihn sei kein anderer als der große niederländische Konstruktivist Piet Mondrian mit seinen recht
winkligen Formulierungen einer „universellen Harmonie” in Wahrheit der bedeutendste Realist.

Die Realität des Bildes schließt die des eigenen Ichs mit ein, und so ist für die,
 welche Max Rueß gekannt haben, viel von seiner komplexen Persönlichkeit aus
 dem Werk ablesbar. Seine Bilder sind unsensationell und ohne dramatische Gesten,
 nicht von spektakulären Ereignissen, sondern von nachdenklicher Stille und medi
tativer Zuständlichkeit geprägt. Moll heißt das Tongeschlecht, das ihren Klängen
 zugrundeliegt. Das gilt auch schon für die frühen Arbeiten mit ihrer leuchtenden
 Farbigkeit: Landschaften und Stilleben, in denen sich nichts bewegt und in denen 
der Mensch nicht erscheint. Die Freude an der Schönheit der Erscheinung ist von 
ruhiger Verhaltenheit. Der Maler nimmt sich als Person völlig zurück, und über 
dem Zauber alltäglicher einfacher Dinge - Tisch, Krug, Flasche, Schuhleiste oder 
Bügeleisen - liegt auch im farbigen Abglanz ein Hauch von Melancholie.

Erst recht tritt das Bewußtsein, in einer späten Zeit zu leben, gezeichnet zu sein
 von „alter Völker Müdigkeiten”, in dem teils gespenstischen, teils tragisch grundierten, dunkel-tonigen Reigen lemurenhafter „Endspielfiguren aus dem Geist 
Samuel Becketts in Erscheinung („Kinder des Sisyphos”, „Harlekin”), auch in 
den freien malerischen Formulierungen zum Thema der Erde, ihrer Gestalt und
 ihrer Geschichte. Keine Frage, daß die nie auftrumpfende und darum glaubwürdige Christlichkeit des Künstlers von dem gleichen Geist getragen ist. Bilder wie 
die »Pieta«, mit dem ausgezehrten, liegenden Corpus Christi, oder »Der Geburtstag«, als bewegende Darstellung menschlicher Einsamkeit, belegen es. Sie doku
mentieren eine Haltung, die nicht von Zynismus, sondern von Teilnahme und von
 „compassion” künden, ohne sich ins Sentimentale zu verirren. Solche Bilder gehen 
bis an die Grenze zum nicht mehr Sagbaren, nicht mehr Formulierbaren, zum
 Schweigen und zum Verlöschen.

Maximilian Rueß hat sich gleichwohl dem schmerzlich Resignativen nicht über lassen und sich auf einer anderen Drehung der Spirale wieder den freundlicheren 
Visionen der frühen Jahre zugewandt, diesmal mit einem höheren Grad an entschiedener Abstraktion, ohne die Balance zwischen malerisch freier formaler 
Gestaltung und gegenständlicher „Erinnerung” zu verlieren. Dies zeigen nicht 
zuletzt die spätesten Bilder, die er hinterlassen hat (»Küste«, »Komposition«): Die
 Palette wird wieder heiterer und leuchtender unter Verzicht auf pure dekorative Effekte, vor denen ihn seine Gewissenhaftigkeit und sein künstlerischer Ernst stets
bewahrten. Die Sicherheit in der Handhabung der technischen Mittel ermöglichte
 eine bemerkenswerte Variabilität zwischen konstruktiv orientierter Strenge (»Tro
janisches Pferd«) und malerischer Lockerheit (einige seiner schönen Porträts). Wie
 jeder gute Künstler war er in der Lage, Vor- und Rückgriffe auf verschiedene 
Stilphasen zu praktizieren und sie manchmal auch miteinander zu vermischen, ohne
 die kompositorische Einheit zu gefährden. Am Ende verfügte er mit großer Frei
heit über seine formalen und malerischen Mittel, unbelastet von thematischen Vor
gaben, räumlichen oder finanziellen Limitierungen.

Es gibt, wie jedermann weiß, keinen verbindlichen Stil mehr, kein für alle ver
bindliches Wollen, keine Normen und kein erkennbares Ziel. Die Zuversicht transzendentaler Wertsetzungen ist unwiderruflich dahin. Die Kluft zwischen irdischem 
Paradies und irdischer Hölle, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, die sich im vorigen Jahrhundert auftat, hat sich in dem 
unsrigen nicht geschlossen. Sie hat sich stattdessen vertieft. Alle Kunst ist heute
 dialektisch, und das unverbindliche „anything goes - alles ist möglich” der gän
gigen Postmoderne gewiß keine Lösung des Problems. Daher gibt es auch - Picasso ist das große Beispiel in unsrer Zeit - im Werk des einzelnen Künstlers keine
 ruhig fortschreitende Kontinuität mehr, vielmehr Risse und Sprünge, Bruchlinien
 ohne gleitenden Übergang.

Das gilt auch für Maximilian Rueß. Es spricht für seine Aufrichtigkeit, daß er
 sich dieser Bewußtseinslage nicht entzogen hat. Auch sein Werk trägt die Spuren
 des Suchens und des Experimentierens, wobei an dieser Stelle nicht die Zwänge
 des öffentlichen Auftrags gemeint sind, von deren oft die Imagination behindernden Bedingungen in erster Linie der Bildhauer betroffen war. Doch im Rückblick 
verbinden sich die verschiedenen, scheinbar so widersprüchlichen, kontrastreichen Stufen des malerischen Werks zur Einheit jenseits der wechselvollen künstlerischen Tendenzen des Tages, der Jahre und der Jahrzehnte, von denen auch
 Max Rueß mit seinen offenen Augen und seinem wachen Verstand nicht unbe
rührt geblieben ist, und mit denen er sich intensiv auseinandergesetzt hat. Was 
zunächst unvereinbar erschien, wird zum Kennzeichen der differenzierten Vielfalt einer künstlerischen Begabung, die nicht auf einen einfachen Nenner zu reduzieren ist.

Zur Person des Verfassers.
Prof. Karl Ruhrberg, geb. 1924 in Wuppertal. Nach Tätigkeit als Kunstkritiker Direktor der Düsseldorfer Kunsthalle (1965 - 72), des Berliner Künstlerprogramms/DAAD (1972 - 78) und des Museums
 Ludwig (1978 - 84). Seither tätig als Kunsthistoriker und Kunstpublizist. Lebt in Oberstdorf (Kornau) 
und Köln.

Vielfalt - Rueß - Heft 17

Stilleben mit Bügeleisen - 1950

Vielfalt - Rueß - Heft 17

Rummelplatz - 1952

Vielfalt - Rueß - Heft 17

Bildnis U. - 1960

Vielfalt - Rueß - Heft 17

Landschaft - 1964

Vielfalt - Rueß - Heft 17

Trojanische Pferd
1968 - 1971

Vielfalt - Rueß - Heft 17

Der Geburtstag - 1978

Kunstpreis der Diözese Augsburg
1978

Vielfalt - Rueß - Heft 17

Küste - 1989

Vielfalt - Rueß - Heft 17

Komposition - 1989

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