Die Talstation im Rohbau
Als es auf die Jahrhundertmitte zuging, lasteten die Folgen und Auswirkungen des zweiten Weltkrieges schwer auf der Fremdenverkehrswirtschaft unseres Kurortes. Führende Hotels waren noch von der amerikanischen Besatzungstruppe beansprucht und zahlreiche Gästehäuser anderweitig belegt. Mehr als zweitausend Bet ten waren zweckentfremdet. Die Kureinrichtungen waren allenthalben vernachlässigt. Die Aufgaben, die auf die Gemeinde einstürmten, waren hundertmal größer als die bescheidenen Mittel, die nach dem Währungsschnitt von 1948 zur Verfü gung standen.
Der Fremdenverkehr lag auf breiter Front darnieder.
Diese Notsituation zwang den damaligen Gemeinderat nicht nur zur größten Anstrengung, den Beherbergungsraum wieder freizubekommen, sondern auch dazu, dem Fremdenverkehr neue Impulse zu geben. Skisportkreise gehörten zu den ersten, die auf wirksame Maßnahmen drängten. Durch die Entwicklung im bayerischen Skisport und durch das erfolgreiche Springertrio Weiler, Klopfer, Brutscher veranlaßt, tat Oberstdorf den Griff nach der Deutschen Skiflugschanze. Die erste Skiflugwoche im Monat März 1950 war das große Ereignis dieses Jahres.
Ihm folgte dann am 23. Juli die Einweihung der Sesselbahn nach Schrattenwang.
Das Skigebiet zwischen Walserbrücke und Söllereck lag als kostbares Gut sozusagen vor unserer Haustüre. Es verlangte zwingend nach der verkehrsmäßigen Erschlie ßung. Auf Anregung des Skiclubvorstandes und Gemeinderatsmitgliedes Gustl Seeweg entschloß sich 1948 der Gemeinderat unter Bürgermeister Otto Kerle zur Gründung eines Ausschusses, der sich mit dieser Aufgabenstellung befassen sollte.
Nach Erkundung mehrerer Möglichkeiten u.a. waren die Strecken Karatsbichl- Wanne sowie Ziegelbach-Söllereck in der Diskussion, einigte man sich schließlich auf den Abschnitt Wanne-Schrattenwang. Mitentscheidend hierfür war die Tatsa che, daß die Zufahrt auf der Walserstraße und die Anlage eines Parkplatzes direkt daneben gegeben waren. Die große Zahl der Abfahrten stellte ein echtes Angebot für die breite Masse der Skiläufer dar. Außerdem waren die Wandermöglichkeiten von Schrattenwang aus im Sommer sowie die naheliegenden Alpbetriebe als starker Werbefaktor zu werten. Nicht leicht war es, zwanzig Grundstücksbesitzer, deren Boden von der Trasse berührt war, unter einen Hut zu bringen. Daß dies aber gelungen ist, verdanken wir der geschickten Verhandlungstaktik von Gemeinderat Gustl Seeweg.
Bei der Wahl der Transporteinrichtung hatte man sich zwischen einer einfachen, billigeren, Sesselliftanlage und der kuppel-
baren Sesselbahn der Schweizer Firma
von Roll zu entscheiden. Das von Rollsche System bot den großen Vorteil, daß man
die ruhenden bedachten Doppelsessel gefahrlos besteigen konnte, was vor allem
auch für den Sommerbetrieb als sehr wesentlich angesehen wurde. Der Bauauftrag
für die Bahn wurde an die Firma ABIG Oberstdorf vergeben. Die Bahnanlage hat
eine Länge von 2050 m und überwindet eine Höhendifferenz von 350 m. Für den
Antrieb wurde ein Ward-Leonard-Satz verwendet, der elektrisch mit einer Leistung
von 103 kW angetrieben wird. Das Seil liegt auf insgesamt 22 Stützen; der höchste
Bodenabstand beträgt 15 m.
Als Gesellschaftsform wurde die Aktiengesellschaft gewählt, die am 14. Januar 1950
gegründet werden konnte. Der Eintrag-
ung beim Handelsregister am Amtsgericht
Kempten ist zu entnehmen:
„Das Gründungskapital beträgt 160 000 DM und ist eingeteilt in 1600 Aktien zu je
100 DM, die zum Nennwert ausgegeben werden. Die Gründer haben sämtliche
Aktien übernommen.
Die Gründer sind:
1. Die Marktgemeinde Oberstdorf,
2. der Verkehrs- und Kurverein Oberstdorf e.V.,
3. die Nebelhornbahn-Aktiengesellschaft in Oberstdorf,
4. der Breitachklammverein, eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Hafttung, in Tiefenbach,
5. August Seeweg, Geschäftsinhaber in Oberstdorf,
6. die Allgäuer Bergbahn- und Ingenieurbüro GmbH in Oberstdorf,
7. Hans Gschwender, Sägewerksbesitzer in Oberstdorf,
8. Karl Hofmann, Buchdruckereibesitzer in Oberstdorf,
9. Emst Merkel, vereidigter Bücherrevisor und Steuerberater in Oberstdorf,
10. Walter Böhle, Kaufmann in Oberstdorf.
Zu Mitgliedern des ersten Aufsichtsrates wurden bestellt:
1. Moritz Noack, Direktor in Oberstdorf,
2. Thomas Neidhart, Bäckermeister und zweiter Bürgermeister,
3. Otto Kerle, Bürgermeister in Oberstdorf
4. Emst Merkel, Oberstdorf
5. August Seeweg, Oberstdorf
6. Walter Böhle, Oberstdorf
7. Carry Groß, Oberstdorf.
Hauptkapitalgeber bei der Eintragung waren der Verkehrs- und Kurverein e. V., die
Nebelhornbahn AG und die Marktgemeinde Oberstdorf. Der Verkehrs- und Kur
verein e.V. hatte das zur Zeichnung notwendige Geld (75 000 DM) als Darlehen
aufge-
nommen. 79 Mitglieder sind hierfür als Bürgen gutgestanden. Noch im Gründungsjahr erfolgte eine Erhöhung des Grund-
kapitals um 140 000 DM, wovon die
Bau- und die Lieferfirmen einen Teilbetrag von 96 000 DM zeichneten.
Bei der Einweihung übergab Abteilungspräsident Lippel vom Bayerischen Verkehrsministerium die Bahn dem Verkehr.
Die Oberstdorfer Musikkapelle unter ihrem Dirigenten Joseph Walter setzte an das Ende der Feier einen heiteren Schlußpunkt mit dem damals beliebten Schlager: „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt?“
Daß man bei der Kalkulation vorsichtig vorgegangen war, beweist die Tatsache, daß man mit einer Jahresfrequenz von 75 000 Bergfahrten rechnete, daß aber im ersten vollen Geschäftsjahr 1951 bereits 128 213 Bergfahrten registriert werden konnten und dazu zusätzlich noch 55 674 Talfahrten. Die Bahn florierte also. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß schon für das Geschäftsjahr 1953 eine Dividende von 4 % ausgeschüttet werden konnte, die bis 1958 auf 6 % anstieg.
Trotz dieser zusätzlichen Belastung für die Bahn hat man versucht, das Skigebiet Söllereck-Schrattenwang immer attraktiver zu machen. Der im November 1957 von Georg Joas erworbene Schrattenwang-Sessellift wurde 1959 in einen Schlepplift umgewandelt, dann im Jahre 1969 verlängert und als völlige Neuanlage erstellt. 1964/65 konnte der Ochsenhöfle-Lift in Betrieb genommen werden.
Durch die ständige Verbreiterung und Verbesserung der Abfahrtsstrecken und eine vorbildliche Pistenpflege mit zwei eigenen Geräten ist das Skigebiet Söllereck-Schrattenwang heute bei der Skiläuferwelt ein fester Begriff. Dazu hat auch die in den Jahren 1967/69 durchgeführte umfangreiche technische Verbesserung der Bahnanlage beigetragen, wodurch die Beförderungskapazität von 360 auf 560 Personen in der Stunde erhöht worden ist. Die dadurch möglich gewordene Verkürzung der Wartezeiten wurde von den Fahrgästen freudig begrüßt. Eine wesentliche Erweiterung der technischen Anlagen bedeutete der Ankauf des Höllwiesliftes im Jahre 1971, der wegen seines mangelhaften Zustandes im Jahre 1975 allerdings vollständig erneuert werden mußte.
Schon im Jahre 1954 war der Bau eines Personalwohnhauses bei der Talstation notwendig geworden, auch der Anbau von Werkstatträumen in der Talstation war erforderlich.
Die Tatsache, daß die Bahn mit ihren Liften eine Beförderungskapazität von ins
gesamt 2500 Personen in der Stunde aufweist, hat auch in der Spitze nur kurze
Wartezeiten zur Folge. Beförderungszahlen von 500 000 Personen im Jahr sind der
Durch-
schnitt. In diesen Zahlen drückt sich die Anerkennung für den geglückten
Pistenausbau und die gründliche Pistenpflege aus, für die in den letzten Jahren
durchschnittlich 150 000 DM jährlich aufgewendet wurden. Ein besonderer Service
ist der „Klub der Kleinen“, in dem skilaufende Familien ihre jüngsten Sprößlinge
einer ausgebildeten Kindergärtnerin für die Dauer ihrer eigenen Sportausübung anvertrauen können.
Beim 32. Geburtstag unserer Söllereckbahn können ihre Gründer mit freudiger Genugtuung feststellen, daß sie entgegen aller mahnenden Schwarzmalerei mit ihren Zukunftsvorstellungen doch recht behalten haben; denn das Höllrückenge biet hat sich zu dem Tätigkeitsbereich der skisporttreibenden Welt in unserem Oberstdorfer Raum entwickelt, der allen Ansprüchen gerecht werden kann: denen ganzer Skilauffamilien, wie denen der ausgereiften Könner. Es ist deshalb das von den Skikursen bevorzugte Gelände. Auch die erste deutsche Skibobschule hat sich hier niedergelassen. Eine eigene Skibobabfahrtsstrecke wurde für sie geschaffen.
Während des SOMMERS ist die Bahn ebenfalls zu einer willkommenen Schwebe brücke in ein beliebtes Ausflugsgebiet geworden, von wo aus sich dankbare Berg- und Talwanderungen anbieten.
Ein anderes Angebot, das von der Söllereckbahn betreut wird, ist der „schiefe Turm“ von Oberstdorf mit seinem Schrägaufzug bei der Heini-Klopfer-Skiflugschanze, der nach dem Abstieg über Hochleite und Schwand erreicht wird. Viele Tausende von Gästen haben sich schon an der Aussicht von seiner Plattform begeistert. Auch den Besuchern von der Ebene aus tut er immer gute Dienste, weil er sie von der Tal station mit der Doppelsesselbahn zum Lift empor bringt. Den Wanderern, die bergwärts streben, bietet die Verbundkarte mit der Fellhorn- und Kanzelwandbahn man che Vorteile. Das gleiche ist zu sagen von der Rundfahrkarte der Deutschen Bundespost, die einen Besuch der Breitachklamm mit einer Söllereckbahnfahrt ver bindet.
Das Jahr 1959 wurde zum Schicksalsjahr der Sesselbahn AG. Die bereits aufgenom mene Planung zur Weiterführung der Anlage bis zum Söllereckgipfel mußte einge stellt werden, weil die örtlichen Bestrebungen zur Gründung einer Kur- und Verkehrsbetriebe AG die Zusammenfassung aller Wirtschaftskräfte des Ortes erforderte und weil in diesem Zusammenhang die Sesselbahn AG - allerdings nicht ohne Widerstand - als Mutter der neuen Gesellschaft ausersehen wurde.
Am 26. 3. 1959 wurde der Beschluß zur Umänderung der Firma in Kur- und Ver kehrsbetriebe-Aktiengesellschaft gefaßt und gleichzeitig eine Kapitalerhöhung auf 1.200.000 DM beschlossen. Bald darauf änderte man den Namen Sesselbahn in SÖLLERECKBAHN um. Das alte Unternehmen hat seitdem der Kur- und Verkehrsbetriebe AG in Erfüllung ihrer Aufgabe bei der Förderung des Kurortes wertvolle Hilfestellung geleistet.
Zum Vorstand der Sesselbahn AG wurde Josef Hensele bestellt. 1953 wurde der damalige Betriebsleiter Friedrich Braun sein Nachfolger. Nach seinem plötzlichen Ableben am 8. Mai 1959 übernahm Heinz A. Bechtel diese Funktion. Zum technischen Leiter der Sesselbahn AG wurde im Jahre 1966 Helmut Noißinger ernannt.
Nachdem im Jahre 1970 Heinz Bechtel die Altersgrenze erreicht hatte, übernahmen die beiden Kurdirektoren Fritz Geiger und Walter Besler gemeinsam die Aufgaben des Vorstandes. Seit 1978 ist mit Peter Regula wieder eine Einzelperson zum Vorstand bestellt.
Bekannte Bürger Oberstdorfs sind durch ihre Tätigkeit als Vorsitzende des Aufsichtsrates der Sesselbahn AG und später der Kur AG eng mit der Entwicklung der Gesellschaft verbunden: von 1950 bis 1958 Ernst Merkel, 1958/59 Carry Gross, von 1960 bis 1970 Karl Hofmann. Von 1970 an waren es die 1. Bürgermeister Oberstdorfs, bis 1973 Dr. Paul Dreher, seither Eduard Geyer.
Das Angebot der Söllereckbahn mit Pisten für jeden Geschmack im Winter und wunderbaren Wanderwegen in mittlerer Höhenlage im Sommer ist auch nach 32 Jahren für die Attraktivität Oberstdorfs als Urlaubsort unverzichtbar. Als die „gemütliche Bergbahn“ hatte und hat sie ihren festen Platz im Ferienprogramm der Oberstdorfer Gäste. Und nicht zu vergessen ist die Tatsache, daß in all diesen Jahren viele Einheimische durch den Schulskisport am Söllereck mit diesem herrlichen Wintersport vertraut gemacht wurden.