Am Donnerstag, den 10. 3. 1977, vormittags rast ein
Sanka mit Blaulicht an mir
vorbei dem Krankenhaus zu.
Die Insassen sehe ich nicht.
Ich denke mir: Wieder ein Verkehrsunfall!
Erst mittags, als meine kleine Tochter aus der Schule kommt und mit Tränen in den Augen berichtet: „Papa, dr Herr Rees isch gschtoarbe“, erinnere ich mich mit Schrecken wieder an den Rettungswagen.
Trotz aller Schnelligkeit kam jede Hilfe zu spät.
Der Mann, der sich um die Erhaltung von Mundart und Brauchtum so viele Ver dienste erworben und dessen früher Tod eine kaum schließbare Lücke hinterlassen hat, war nicht mehr: Der Rektor der Grundschule Oberstdorf, Josef Rees.
Er stammte aus einer alteingesessenen Oberstdorfer Familie. Der Postbeamte Franz Xaver Rees und die Landwirtstochter Walburga Tauscher, die 1919 geheiratet hatten, waren seine Eltern. Der am 13. August 1920 geborene Sohn erhielt die Namen Josef Anton. Josef war der Rufname.
Drei Jahre war der Bub erst alt, als seine Mutter starb. In Paulina Straßer, die der Vater in zweiter Ehe heiratete, erhielt der kleine Josef wieder eine liebe Mutter. Als es ans Lernen ging, war er ein überdurchschnittlicher Schüler. Dies bewegte die Eltern, ihn hier am Ort in die Realschule zu schicken. Später besuchte er die Oberrealschule in Kempten und dann die Lehrerbildungsanstalt in München-Pasing.
Als junger Praktikant kam "Reese Josef" - so wurde er unter den Einheimischen genannt - 1940 an die Volksschule Oberstdorf, wo er aushilfsweise in unserer ver waisten Schulklasse unterrichtete. Lange dauerte diese Berufung nicht. Der Junglehrer wurde zur Wehrmacht eingezogen und kam mit einer Panzerjägereinheit an die Ostfront. Als junger Mensch erlebte er dort die Schrecken des Krieges. Schwerverwundet, oberschenkelamputiert, kehrte der sportbegeisterte junge Mann in die Heimat zurück.
Sport und Bergsteigen waren vorbei. Kaum genesen, stürzte er sich mit Feuereifer in seinen pädagogischen Beruf. Er versäumte nichts, um seinen Schülern den Wahnsinn des Krieges und die folgenden Leiden einzuprägen. Sein Wirken war echte Friedensarbeit.
Mit der Schmiedemeisterstochter Babette Naß aus Lindau trat Josef Rees am 14. April 1955 vor den Altar. Zwei Söhne gingen aus dieser Ehe hervor.
In seiner Freizeit hat sich Josef, der längst Lehrer an der Volksschule Oberstdorf war, auch der Jugend des Ortes gewidmet. Er war u.a. Vorstand des neugegründeten katholischen Burschenvereins. Hier versuchte er auch über die Schule hinaus junge Menschen zu verantwortungsbewußten Bürgern zu formen.
Althergebrachtes erhalten und Verlorenes neu beleben, praktizierte Josef Rees in der Schule. Das Reden im Dialekt war nun - im Gegensatz zu unserer Schulzeit - im Unterricht nicht mehr verpönt. Freies Sprechen in unserer Mundart wurde in der Schule nun sogar geübt. Im Heimatkundeunterricht erläuterte er den Kindern Brauchtum und Lebensart ihrer Vorfahren. Als engagierter Forscher in der Heimatgeschichte verstand es der Schulmann, im lebendigen Unterricht das Interesse der Kinder für die Heimatgeschichte zu wecken. Keine Schulklasse ging durch die Hän de von Josef Rees, mit der er nicht mindestens einmal im Heimatmuseum gewe sen wäre. Aktivitäten in dieser Richtung gingen von ihm aus, als er 1968 zum Rektor der Grundschule Oberstdorf berufen wurde.
Josef Rees war ein scharfer Beobachter. Er wußte die Mentalität seiner Mitmenschen zu ergründen. Im stillen Kämmerlein hat er seine Beobachtungen zu Papier gebracht. Theaterstücke in Oberstdorfer Mundart flossen aus seiner Feder. ,,S’ düez allad wiedr“, „Dr Leachtlarzins“ und „Gearschtrubar Huimat“ sind Stücke, in denen der Schreiber „dem Volk aufs Maul geschaut“ hat. Daß der Autor eine gehörige Portion Humor hatte, das zeigten schon die Personen seiner Bühnenstücke. Wer denkt da nicht an die originelle Figur des „Mäusfangers Karle“ aus dem „Leachtlarzins“? Und wieviel Mutterwitz spricht aus der Person des Blumenverkäufers „Kaspar“ im ,,S’ düez allad wiedr“? Es wäre wirklich eine lohnende Aufgabe, diese auf historischen Tatsachen aufbauenden Mundartstücke wieder aufzuführen.
Josef Rees stellte sich auch innerhalb der Gemeinde der Verantwortung und gehörte zehn Jahre dem Marktgemeinderat an. Die überwältigende Stimmenzahl, mit der er gewählt wurde, bewies sein Ansehen und seine Wertschätzung in Oberstdorf. In seiner Heimatliebe und seinem Geschichtsbewußtsein verwurzelt war auch seine Tätigkeit in der Vorstandschaft des Verschönerungsvereins. Er gehörte zu der Art von Lehrern, die über Jahrhunderte die Kulturträger der Gemeinde waren. Ihm bedeutete das Lehren nicht nur Beruf, sondern Berufung.
Josef Rees war nach dem Kriege einer von denen, die mit Museumspfleger Wilhelm Math die Wiedereröffnung des Museums betrieben. Später leitete er den Museums ausschuß. Die ruhige, besonnene und sachliche Art, wie er das tat, war der Spiegel einer ausgeglichenen Persönlichkeit. Im Museumsausschuß, wie auch in den anderen Gremien, in denen er tätig war, hatte sein Wort Gewicht. Sein Rat war sachlich fundiert und wohl überlegt. Konträre Meinungen versuchte er auszugleichen. Bei aller Autorität war er uns ein echter Freund.
Die jeden Monat stattfindenden Sitzungen des Museumsausschusses waren und sind, nachdem das Geschäftliche abgewickelt ist, geschichtliche Lehrstunden. Es wird da auch manches Histörchen nach vielen Jahren bekannt. So war es auch am 9. März 1977 bis über Mitternacht hinaus. Es war eine fröhliche Runde.
Wie ein Keulenschlag traf uns deshalb am nächsten Tag die Todesnachricht. Mit seiner Schulklasse besuchte der Pädagoge am Vormittag die Kapellen von St. Loretto und zeigte den Kindern die Schönheiten des Gnadenortes. Dies war der letzte Heimatkundeunterricht des Schulmannes Josef Rees. Wieder ins Schulhaus zurückgekehrt, blieb sein Herz stehen.
Wir haben einen Freund verloren. Oberstdorf ist um eine Persönlichkeit ärmer ge worden. Uns bleibt nur die Hoffnung, daß die Saat aufgeht, die unser Freund Josef in den Boden gelegt hat.