Skizzieren heißt aufzeichnen, rasch und flüchtig, doch darum nicht ungenau aufzeichnen. Eine Sache sich notieren, die man nicht in ihren Einzelheiten festhalten, sondern von der man nur einige kennzeichnende Umrisse aufschreiben will.
Skizzieren kann man mit Feder und Wort, mit Stift und Farbe. Das leicht Hingeworfene soll die Erinnerung an das Gesehene oder Erlebte wieder erwecken, und sie mag dann das Fehlende mit ihrem lebendigen Vermögen ergänzen oder wieder erschaffen.
Und die Skizze, wie andeutungsweise sie auch sein mag, hat vor dem ausgeführten Bilde oder der ausgeführten Beschreibung etwas voraus, was die fertige Arbeit nicht mehr einholen kann: die Unmittelbarkeit und Frische sowohl des behandelten Gegenstandes wie auch der Hand, die ihn aufzeichnet. Das ist eine atmende, vibrierende Lebendigkeit. Man ist gleichsam noch im Anschauen begriffen, man lebt noch im Werden. Und das Werden ist es, das den Reiz einer Sache ausmacht, das Fertige vermag unser Interesse nicht lange zu fesseln. Wir sind nicht mehr dabei, wir wirken an der Entstehung des Dinges nicht mehr mit. Und wir empfinden nur Lust, wenn wir selber Schöpfer, und sei es nur Mit- oder Nachschöpfer, sein können.
Skizzieren heißt also in lebendiger Verbindung mit den Dingen sein, im Ringen um ihre Aneignung.
Skizzieren ist ein bildhaftes Aufschreiben. Das Schreiben war ja ursprünglich auch ein Bilderzeichnen, und erst später sind diese Zeichen zu Buchstaben erstarrt. In der altägyptischen Hieroglyphenschrift sehen wir es, auch als sie voll ausgebildet ist, von Bildzeichen wimmeln; da treffen wir auf Falken, Geier, Hasen, Schlangen, Skarabäen, Bienen, auf Auge, Mund und Herz, auf ausgebreitete Arme und Hände und auf gehende Füße.
Schreiben war ursprünglich Zeichnen. Man zeichnete seine Mitteilungen und Gedanken bildhaft hin. Und so können wir umgekehrt sagen: Skizzieren ist ein anderes, ein ursprüngliches Schreiben.
Alle Menschen sollten skizzieren. So wie sie einen Notizblock, so sollten sie einen Skizzenblock immer bei sich haben. Sie würden dann ein gut Stück aus der Intelektualität und inneren Leere unseres Zeitalters herauskommen. Und sie würden viel mehr von den Erscheinungen der Welt und des Lebens erfahren. Denn indem man den Umrissen eines Dinges nachgeht und diese Umrisse dann irgendwie mit Leben zu erfüllen sucht, beginnen sich die Geheimnisse des Dinges ganz sachte zu offenbaren. In allen Umrissen liegt eine eigenartige und vieles offenbarende Bewegung, ein Rhythmus, der einem unversehens zur unhörbaren Musik wird, und in dem, was die Umrisse umfassen, wird ein Strömen wahrnehmbar, ein Strömen der Formen und der Farben, und dann gewahrt man, daß nichts tot ist, daß die Dinge nur für eine gewisse Zeit den scheinbaren Zustand des Beharrens angenommen haben, aus dem sie aber, während wir sie ansehen und nachzubilden suchen, bereits wieder hervorbrechen . . .
Und indem dieses Leben auf uns zukommt und unsere nachbildende Hand ergreift, daß sie in den ihr entgegenkommenden Rhythmus übergeht, werden wir, ohne Nachdenken und intellektuelles Forschen, des Wesens der Dinge inne.
Schön, wird man mir sagen, aber dazu gehören zwei Voraussetzungen: der Blick des Auges und die Anlage zum Zeichnen und Malen.
Darauf antworte ich: Jeder Mensch kann erzählen und das Erzählte niederschreiben. Ebenso kann jeder Mensch zeichnen und malen. Ja, das Schreiben muß erlernt werden, es ist eine abgezogene Sache, das Zeichnen aber liegt von Natur in uns.
Es gibt kein Kind, außer es ist seelisch verbogen, versperrt oder krank, das nicht mit Leidenschaft zeichnete oder malte, das nicht von selbst nach Stift und Farbe griffe und drauflosginge. Zuerst ist es ein Gekrickel und Geschmiere, dann werden es Häuser, Männer, Frauen, Bäume und ganze Landschaften, über die die Sonne herabscheint. Und wie mächtig rauchen die schiefen Kamine auf den Dächern, und wie kommen die Reiter daher auf Pferden, die auch Kühe oder Mäuse sein könnten, beide Beine des Reiters auf einer Seite. Aber wie aus dem Gekritzel solche Gestalten werden, in denen die Vorstellung der Dinge sich klärt und gliedert, so wird dann später, wenn sich die Wiedergabe der inneren Gestalten erschöpft hat, Auge und Hand an die Darstellung der Sinneneindrücke herangehen. Es ist ein Erwachen zum Du der Welt.
Und gleicherweise ist das Skizzieren nach der Natur ein Erwachen zum Du der Welt.
Man wird dabei der Dinge inne, ein schöner Ausdruck, der nichts anderes bedeutet, als daß man das nun erlebte Du in sein Ich, ohne dessen Erwachen es kein Du gibt, wieder hineinnimmt und zur Vereinigung mit ihm gelangt.
Und somit wird das Skizzieren zu einer für die Seele wichtigen Tätigkeit.
Aber man wird mir nicht glauben, wenn ich sage, daß jeder Mensch zeichnen und malen kann. Man wird sagen: Du und vielleicht noch viele andere, aber ich nicht!
Warum du nicht? Entweder hast du dieses Vermögen in dir noch nicht entdeckt, oder es hat dir an Anregungen und Anlässen gefehlt, oder man hat dir als kleines Kind den Mut genommen.
Jeder Mensch kann schreiben - deswegen wird nicht jeder zum Dichter. Jeder Mensch kann zeichnen - deswegen wird nicht jeder zum Künstler. Aber Anfänge des Künstlers sind es. Und es geht ja bei dir nicht um Erlangung der Künstlerschaft, sondern um das Innewerden der Welt und deiner.
Wie kam der Pastor Roller zu der Entdeckung, daß er malen könne? Wilhelm von Kügelgen beschreibt es in seinen »Erinnerungen eines alten Mannes«. Der Pastor hat ihm selbst das Folgende erzählt:
„Bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr hatte er nie gemalt, wie er sich ausdrückte, weil er dachte, er könne es nicht. Da schenkte ihm jemand ganz zufällig einen Rotstift, um Korrekturen anzustreichen. Roller hatte noch niemals einen Rotstift besessen; er war neugierig auf seine Wirkung und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn noch vor Schlafengehen mit einem scharfen Messer anzuschneiden und zu probieren.
Lichtenberg hat gesagt, es mache jedermann Vergnügen, Stanniol mit der Schere zu schneiden. Es ist der weiche Schnitt, der so vergnügt; aber ebenso vergnügt auch der fette Strich des bunten Rötels.
Dies war es auch, was Roller reizte, und da es gerade nichts zu korrigieren gab, so zog er ziemlich gedankenlos die Umrisse einer Aurikel nach, die vor ihm im Wasserglas blühte. Es war ihm anfänglich nur um die Lust des fetten Striches zu tun; bald aber wurde er warm bei seiner Arbeit, denn zu seiner eigenen Überraschung wollte das Bild fast ähnlich werden, und mit steigendem Eifer schraffierte er drauflos, bis die Aurikel samt dem Glas wie ein Wunder auf dem umgedrehten Kuvert stand, das er dazu benutzt hatte.
In der glücklichsten Stimmung schickte sich Roller nun zum Schlafengehen an, aber ehe er das Licht löschte, trieb es ihn noch einmal aus der Kammer, und noch einmal würdigte er die Zeichnung seines ungeteilten Beifalls.
Am andern Morgen, als er aus dem Bette fuhr, war die Aurikel sein erster Griff, und so gelungen fand er sie, daß, wenn er nicht sein eigener Zeuge gewesen wäre: einem anderen würde er es gar nicht geglaubt haben, daß er das selbst gemalt hätte.
Von da an konnte ich malen, sagte mein alter Freund.”
Die kleine Erzählung kann uns zeigen, worauf es ankommt: Erstens die halbe Zerstreutheit, die alle angestrengt gespannte Erwartung und alles krampfhafte Bemühen, worin immer ein Gutteil Zweifel liegt, von vornherein ausschaltet.
Zweitens die Lust, die einem das Material bereitet - denn der Stift oder der Pinsel arbeitet ja für uns, er hat seine ungeahnten Möglichkeiten in sich. Nimmt man eines von ihnen zur Hand und geht dann über ein Blatt her, so ensteht unweigerlich etwas, und meistens etwas, was man nicht erwartet hat.
Drittens die Neugier, die sich zur Lust und Begeisterung steigert, indem man die in sich verborgene Schöpferkraft, und sei sie anfangs noch so gering, frei werden fühlt. Und ohne ausstellungsreife Kunstwerke zu produzieren, wird man doch eines Glückes teilhaftig, das man vorher nicht besessen hat.
Ja, man muß seine Fähigkeiten und damit sich selbst entdecken! Und dazu braucht man ein Skizzenbuch. Mein erstes Skizzenbuch waren schöne weiße Kartons, auf denen Stoffmusterflecke aufgeklebt waren. Mein Vater hatte sie stoßweise im Geschäft. Man riß die Flecke herunter, drehte den Karton um, und da lag die unberührte weiße Fläche da. Sie mußte bearbeitet werden.
Mein Vater hatte beide Rocktaschen voll Bleistifte, es waren auch Rotblaustifte darunter. Auf meine Bitte griff er nur eben schnell hinein und gab mir eine Handvoll hin, und unter ihnen befand sich auch ein Rotblaustift: vorne Rot - hinten Blau. Mit ihm ging ich über die weiße Fläche her. Auf die ersten Häuser, Männer und Tannenbäume folgten dann größere Kompositionen, an deren eine ich mich noch deutlich erinnere:
Eine Dame spaziert riesengroß im Vordergrund, mehr einer Lemurin als einer europäischen Schönheit des 20. Jahrhunderts gleichend, und hatte einen breiten Sonnenschirm über sich ausgespannt. Es war auch nötig; denn die Sonne versandte aus der Himmelshöhe alle ihr verfügbaren Strahlen. Aber der Schirm gereichte einem Ritter, der sich rechts auf einer Felsenhöhe befand, zum Ärgernis. Er richtete seine synchronistische Kanone auf den besagten Schirm und durchlöcherte ihn mit seinen Kugeln.
In der Schule wurde mir das eigentliche Zeichnen zwar nicht gelehrt, aber ich wurde angeregt, alles, was gerade im Unterricht vorkam, zu illustrieren: das Schiff des Kanitverstan, die Kapelle im Walde, in der sich das von der Sonne erleuchtete Glasgemälde befand, den Reiter, der den Bodensee überquerte und so weiter. Ich konnte das, weil ich ja die Komposition mit der Dame und dem Ritter auch gekonnt hatte - und so konnte ich noch eine Zeit später an die Gegenstände meiner Umgebung herangehen, an meinen Schlapphut, an die Handglocke, in der sich mein Selbstbildnis mit riesigen Händen und einem winzigen Köpfchen abbildete, an Partien meines Heimatstädtchens und an Onkel Nant. Ob gelungen oder nicht, etwas, und zwar etwas Eigentümliches und Lebendiges, blieb immer auf dem Blatt zurück, das beim späteren Wiederbetrachten an sonst rettungslos Vergessenes erinnerte. Und so blieb ich zeitlebens bei meinem Skizzenbuch.
Wenn ich jetzt einiges daraus mitteilte, so nicht, weil ich mich für einen Künstler mit Stift und Pinsel halte, sondern weil mir dieses Etwas, das mir aus seinen Seiten entgegenkommt, heute als altem Mann Vergnügen macht und weil Leute vom Fach mich nicht zurückgehalten haben.
Und so hoffe ich, daß es auch anderen Menschen Vergnügen bereiten wird.
*Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Heimatpflege, Kempten 1982.