Zum 100. Geburtstag von Arthur Maximilian Miller

von Annelie Lingg am 01.06.2001

Meine Erinnerungen an Arthur Maximilian Miller gehen in mein 16. Lebensjahr zurück. In diesem Alter hatte ich viele Fragen, und bei dem schwäbischen Dichter Arthur Maximilian Miller gab es Antworten, die mir Sinn machten.

Er war im Dorf droben „dr Lehrar” und wurde im Dorf herunten sehr verehrt. Damals hatte er seinen Ottobeurer Roman „Der Herr mit den drei Ringen” vollendet, und an dem großen Christusroman „Bist Du es?” arbeitete er gerade. Überall im Allgäu und in ganz Schwaben gab es viele Freunde um Arthur Maximilian Miller.

In Oberstdorf selbst lebten unter anderen die Baronin Gertrud von le Fort (gest. 1971), der Ägyptologe Kurt Lange (gest. 1959) und der Religionsphilosoph Arthur Schult (gest. 1969), Jessen Kinderheim auf der Reute manchen Oberstdorfern noch in Erinnerung sein mag. Der Abschied vom geliebten Lehrerberuf in der Korninger Schule, die Arthur Maximilian Miller seit 1938 geleitet hatte, stand bevor und schien 1959 einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu lassen.

Arthur Maximilian Miller wohnte seit 1953 am oberen Dorfeingang von Kornau in einem Haus, das er von dem bekannten Stuttgarter Architekten Paul Bonatz erworben hatte. Er führte in der Wohnstube seines Hauses die „Schattenspiele” auf, deren besonderer geheimnisvoller Zauber den Besuchern unvergeßlich blieb. In den beiden Spielen „Maria durchs Gebirge ging” und „Das Herz auf der Ceder” durfte auch ich mitspielen. Viele Sprecher, Figurenführer und Musizierende kamen so wie ich aus dem sehr rührigen Kreis der katholischen Jugend, der sich um den damaligen Oberstdorfer Kaplan Hans Stiefenhofer gebildet hatte. Schülerinnen aus Kornau, die beiden hochmusikalischen Nichten von Arthur Maximilian Miller, Mechthild und Armgard, und natürlich auch Christel, die langjährige Hausgehilfin, und viele andere spielten mit.

Arthur Maximilian Miller lehrte uns „spielen” allein durch sein eigenes Tun: wir hörten ihm zu, sahen ihm zu und gingen in unseren Rollen und Aufgaben auf. Er erfüllte die große Stube mit seinem Humor, seiner Sanftmut und seiner Hingabe an das Spiel. Diese Spielergemeinschaft war, wie Arthur Maximilian Miller selbst schrieb, „eine Gemeinschaft des Herzens”, in der es in den Pausen an einer langen Kaffeetafel auch viel Frohsinn und Heiterkeit gab.

Miller - Heft 38

Arthur Maximilian Miller, 1901-1992

Das Spiel selbst verwandelte alle, Spieler wie Zuschauer gleichermaßen, öffnete jedem Türen in eine unsichtbare Welt und ließ alle bewegt und sehnsuchtsvoll zurück. Und während wir jungen Leute am Nachmittag noch in gespannter Erwartung, übermütig und fidel über die Treppen oberhalb der Stillach nach Kornau hinaufgeeilt waren, gingen wir am Abend erfüllt und schweigend unter dem nächtlichen Sternenhimmel wieder nach Oberstdorf hinunter. Wir fühlten uns geborgen, nicht nur daheim in unserem Oberstdorf, sondern auch in der Weite dieses unendlichen Kosmos, in den wir durch unser Spiel eingetreten waren.

Doch bald wurden Kornau und die Freunde von damals durch Studium und Beruf, durch Heirat und Familiengründung zur Erinnerung.

Erst eine berufliche Veränderung meines Mannes brachte unsere kleine Familie 1973 wieder nach Oberstdorf zurück, wo wir im Haus der Familie Karl und Elfriede Ruhrberg in Kornau glückliche Jahre in der dörflichen Abgeschiedenheit verbrachten, in der auch Arthur und Magdalena Miller lebten. Die enge Freundschaft mit Arthur und Magdalena gehörte zu den Geschenken dieser Jahre, und auch unser Umzug mit unseren drei Kindern 1983 nach Oberstdorf hinab änderte an dieser Verbindung nichts. 1989 zogen die betagten Freunde nach Ottobeuren ins Ruhestandsappartementhaus. Im Januar 1990 verstarb Magdalena, zwei Jahre später im Februar folgte ihr Arthur in den Tod.

Für Arthur und Magdalena Miller waren die späten 70er und die 80er Jahre eine Zeit großer öffentlicher Anerkennung und Ehrung, die das Leben in der Welt „draußen” für die beiden noch einmal intensiv aufblühen ließ, bevor es sich stiller, einsamer und beschwerlich zeigte. Während dieser Jahre gab es viele Begegnungen zwischen uns von unterschiedlichster Art. Wir lebten und lachten zusammen mit unseren Kindern, nahmen teil an den Jagderlebnissen meines Mannes, folgten dem Jahreslauf der Natur, tauschten Freud und Leid des Alltags, feierten kleine Familienfeste und führten viele lange Gespräche. Beim nachmittäglichen Gang durch die Korninger Viehweiden oberhalb der Klamm kehrten die beiden immer gern übers hintere Dorf zurück und schauten dabei zu uns herein.

Arthur liebte in allem bunte Vielfalt, wie sie sich auch im Formenreichtum seines Werkes zeigt. Da gab es auch im Alltag nichts, das ausgeschlossen wurde, nicht das aufregende Sprungschänzle der Kinder, nicht der Gemsbock meines Mannes, nicht das Leid eines rasenden Schmerzes. Da war kein Mensch, dem er nicht mit unvoreingenommener Offenheit und wohlwollendem Interesse, mit warmherzigem Humor und fürsorglicher Güte begegnete. Es entsprach seiner heiteren, wachen Neugier und seiner hohen Sensivität, daß er sich von allem anregen und beeindrucken ließ, wie ein klarer Bergsee, der erst im Spiegel seiner vielgestaltigen Umgebung in den schönsten Farben zu leben beginnt.

Immer dem Menschen begegnen, sich mit dem Anderen einlassen: das war wichtig für Arthur. Ob es nun historische Gestalten oder Menschen aus seinem eigenen Lebensbereich waren, jede Begegnung bedeutete für ihn ein Eintauchen in die Geschichte einer Seele mit Gott, die er erkennen, fühlen und lieben wollte. Arthur gab Rat, tröstete, ermutigte, zeigte Wege auf, war erfüllt vom Geben und sich mit dem Menschen verbinden. Er ließ sein ganzes Mitfühlen und intuitives Erkennen zu den anderen hinströmen und verausgabte sich dabei oft bis zur Erschöpfung.

Es gehörte zur Natur dieses sanftmütigen Mannes, sich im Dienen zu fordern, bienenfleißig zu arbeiten, streng und hart mit sich selbst zu sein, wenn es darum ging, den Menschen aus seiner Tiefe heraus zu verstehen oder dichterisch zu gestalten. Er wollte das „ewige Anlitz” im Menschen erkennen und sichtbar machen, er wollte vor IHM bestehen, und sein lebenslanges Ringen darum verlieh im Abgeklärtheit und Weisheit.

Zahllos waren nicht nur in ganz Schwaben, sondern auch in Oberstdorf selbst seine Kontakte mit Honoratioren, Verwandten, Freunden, Lesern, Nachbarn, Alltagshelfern und Kindern. Wie ein Kind konnte auch er sich über das Unverhoffte freuen. Unerwartetes zulassen, plötzlichen Einfällen spontan folgen und den blitzenden Schalk des Buben hervorkehren. Da war er dann zu launigen Späßen aufgelegt und hatte seine Fülle an Witzen parat, deren begehrtester der hundertfach gewünschte „Witz vom Kalbl” war. Spielerisch jonglierend konnte er in einem sprudelnd lockeren Umgang mit Sprache, wie zu seiner eigenen Entspannung, immer wieder schelmische Gelegenheitsgedichte hervorzaubern, die die Menschen noch am nächsten Tag beim bloßen Drandenken lauthals auflachen ließen, während Arthur längst wieder in seine Stille zurückgekehrt war.

In dieser Stille liebten Arthur und Magdalena die Bewegung des Sonnenlichtes und seine feinen Nuancen, wenn es die Edelsteine in der Stube erstrahlen ließ, den Holzwänden Leben einhauchte, dem Gold des Verkündigungsbildes seinen Glanz gab und mit der Dämmerung wieder entschwand. Wie viele haben den Geist und die besondere Atmosphäre dieses Hauses erlebt! Wie oft haben wir im sich neigenden Licht gesessen, haben über Träume und Ahnungen gesprochen, über den Lauf der Gestirne und die Welten des Unbewußten, über Geborenwerden und Sterben, über Schicksal und Lebenskampf, über Gnade, Heil und Heiliges.

Da ließ Arthur sein Bewußtsein tief hinuntersinken, ließ sich durchfluten von dem, was ihm zufloß, und wir erlebten ihn als den großen Mystiker, der er seinem Wesen und seiner Bestimmung nach immer war. Er konnte entrückt wirken und war doch immer ganz gegenwärtig, er vertiefte sich in feinsinnigste Intuitionen und war doch immer bewußt anwesend. „Ohne IHN geht nichts!”, hat er zu Pfarrer Rottach oft gesagt und dabei auf die geschnitzte Heilig-Geist-Taube an der Stubendecke gezeigt. Von Eingebungen erfüllt werden und sie in Demut gestalten, etwas empfangen und es in Bescheidenheit weitergeben, das war ihm eines, wie einatmen und ausatmen.

In einer solchen mystischen Einheit war er mit Magdalena verbunden, beide sind nur in einem einzigen Atemzug zu nennen! Wir verehrten Magdalena sehr und liebten ihren feurigen, Intensität versprühenden Geist, gehörte sie doch in ihrer Jugend zu den ersten Frauen an der Universität. Der scharfsinnige, analytische Intellekt der Altphilologin, die auch Literatur und Geschichte studiert hatte, konnte blitzschnell Unstimmiges aufdecken und zu genauerem Betrachten anregen. Magdalena erlebte im Alter nicht ohne Freude die Wertschätzung ihrer eigenen früheren Studien über Hermes Trismegistos, doch ihr großmütiges, hingebungsvolles und tapferes Herz wurde erst ruhig, wenn sie sich Arthurs Aufgabe, die eine gemeinsame war, verpflichtet sah.

Sie hatte ein Leben lang die filigrane Handschrift Arthurs in Maschinenschrift übertragen, im Kloster Ottobeuren alte Quellen für Arthur aus dem Lateinischen übersetzt, sie reflektierte als hochgebildete Frau das Leben und den schöpferischen Prozeß unablässig und schuf die inneren Lebensbedingungen des Alltags, unter denen das heutige Lebenswerk Arthurs wohl erst möglich wurde. „Eine Liebesgeschichte hohen Grades” nannte Josef Othmar Zöller die Beziehung der beiden und hoffte, daß die Biographen sich einmal daran wagen würden. Sie werden die vielen geheimnisvollen Geschehnisse zwischen den beiden zu verstehen haben, Geschehnisse, die sich nur einem intuitiven Zugang erschließen.

Als Magdalena einmal im Krankenhaus war. lebte Arthur einige Zeit in unserer Familie am Speichacker. Eines Tages sagte er unverhofft und ganz sicher, daß Magdalena in diesem Augenblick aus ihrer Narkose erwacht sei. Wir fuhren ins Krankenhaus und Magdalena kam tatsächlich zu sich und fragte: „Bin ich gestorben oder bist du gestorben oder sind wir beide gestorben?” Und erfüllt von Dankbarkeit bereitete Arthur das Ankommen ihres Tagesbewußtseins in der sinnlichen Welt vor und holte sie mit einer Flut liebevoller Worte wie über eine Brücke in die Gegenwart des Krankenzimmers vollends zu uns zurück.

Er hat uns immer wieder an die Brücken zwischen den Welten erinnert, Brücken, wie sie auch von der wunderbaren Landschaft und Natur und den Menschen unserer Oberstdorfer Heimat in die geistige Heimat hineinführen. Er hat diese Brücken vielen Oberstdorfern und Korningern in inspirierten Worten und im begnadeten Klang seiner Stimme, aber vor allem im Geschenk seiner Freundschaft und Menschlichkeit hinterlassen.

So mag es uns in dankbarer Verbundenheit mit den beiden erlaubt sein, in der milden Spätnachmittagssonne über den Korninger Viehweiden in Liebe und Freude an sie zu denken und hin und wieder zu meinen, wir hätten sie gerade in diesem Licht Spazierengehen sehen.

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