DIE BRÜDER ROBERT UND MAX
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Schwabenverlag Ruit bei Stuttgart 1974
Der Schatten ist der wunderlichste Geselle von der Welt. Sobald ein Licht vor uns aufgeht, sei’s die Sonne, sei’s eine Lampe, ist er da.
Er streckt sich über die helle Fläche, über die wir schreiten, kurz und gedrungen, oder riesenlang, daß wir uns selber kaum erkennen, er fängt sich plötzlich an einer weißen Wand, an der wir entlang gehen oder vor der wir stehen, und jetzt sieht er uns zum Verwechseln ähnlich: jede Linie unseres Profils, jedes Haar über unserer Stirne, jeder Knopf an unserem Rocke, jede Falte an unserem Gewand prägt sich in voller Schärfe aus. Aber sowie wir uns wenden, uns schräg zur Wand stellen, oder sowie unsere Lichtquelle anfängt, sich zu bewegen, schweift der dunkle Geselle zu den abenteuerlichsten Figuren und Fratzen aus und ist zu jeder Verwandlung fähig. Immer aber bleibt er an unseren Füßen festgewurzelt. Er kann uns belustigen, aber auch erschrecken. Und wir können mit ihm spielen.
Ehe wir es aber tun, wollen wir uns ein wenig mit seinem Wesen beschäftigen.
Was ist er denn? Ein lichtleerer, finsterer Raum hinter einem dichten Körper. Dieser Raum geht ins Unendliche fort, wenn nicht wieder etwas Dichtes gegen ihn aufsteht und ihn aufhält. Dann erst, als Gefangener, wird er uns sichtbar.
Er ist also im Grunde ein Nichts, ein Fehlen des Lichtes, eine Leere. Aber dieses Nichts borgt sich Gestalt und Leben von dem Körper, dem es zugehört. Sollen wir es etwas übertrieben sagen, so ist es der zum Körper gehörige Unkörper. Und wie es kein Etwas ohne ein Nichts gibt, so gibt es keinen Körper ohne Schatten. Ja, der Schatten ist es geradezu, der den Dingen ihr Körpersein verbürgt.
Der Schatten, so wesenlos und leer er scheint, gehört doch unabdinglich zum festen irdischen Dasein. Engel und Geister werfen keinen Schatten.
Wenn nun ein Mensch daherkäme, der keinen Schatten würfe? Der sich von seinem Schatten getrennt hätte? »Die Frau ohne Schatten«, oder Peter Schlemihl, der seinen Schatten verkaufte? Er wäre uns unheimlich, wir könnten ihn nicht voll nehmen. Er würde zu dem, was der Schatten ist: zum Gespenst.
Aber das sind Phantasien! Den Körper kann man vom Schatten nicht trennen, ohne ihn zunichte zu machen. Wohl aber hat man den Schatten vom Körper getrennt und für sich selbst dasein lassen - nein, nicht den Schatten, sondern das Schattenbild.
Das Schattenbild entsteht, wenn der Schatten von einer hellen Wand aufgefangen wird. Man hindert ihn, den Nichtigen, in die Unendlichkeit des Nichts zu entfliehen. Und eben die Wand, die dies vollbringt, verleiht ihm etwas von ihrer Dichte, von Festigkeit, so daß er jetzt befähigt ist, den Körper, von dem er ausgeht, als ein dunkles Abbild nachzuformen. Freilich vermag er nur die Umrisse zu wiederholen, aber die mit entzückender Schärfe und Klarheit.
Man erkennt den Herrn des Schattens alsbald wieder, ja man gewahrt jetzt erst den Rhythmus und die Feinheit seines Umrisses. Und dieser Umriß ist nun beauftragt, alles andere, das Volumen des Körpers, die Fülle des Haares, das Lächeln des Mundes, den Blick des Auges auszusagen. Und wunderlich - er vermag es. Er ist imstande, die Phantasie und die Erinnerung im Beschauer so anzuregen, daß sie alles Fehlende dazugibt. Und dieses Wirken der Einbildungskraft ins Leere hinein ist etwas so Lebendiges und Köstliches, daß es dem Beschauenden ein reines Vergnügen bereitet. Das Schattenbild erzählt ihm ohne Aufhören Neues und wieder Neues von dem, den es darstellt.
Wie sollten die Menschen da nicht auf den Gedanken kommen, diese Schattenbilder nachzuzeichnen und so aufzubewahren?
Die Fabel erzählt, ein griechisches Mädchen habe die Kunst des Spielens mit dem Schatten erfunden. Sie habe, heißt es, beim abendlichen Abschied von ihrem Geliebten, der in den Krieg zog, dessen Schattenbild an der Wand des Gemaches gesehen, den jungen Krieger gebeten, eine Weile stille zu halten, und den Umriß seines Hauptes nachgezogen, um so sein Bildnis immer bei sich zu haben. Ein mageres Bildnis gegen ein von Künstlerhand gemaltes Porträt, aber doch ein Bildnis!
Die griechischen Vasen überzogen sich mit solchen Schattenfiguren, aber die eigentliche Nachfolge unseres Griechenmädchens als einer Porträtistin geschah erst im achtzehnten Jahrhundert als billige und rasche Bildniswiedergabe.
Man verlieh den so entstandenen schwarzen Schattenbildern, Vorgängern unserer Photographie, spottend den Namen Silhouetten nach dem sparsamen, ja knickerigen französischen Finanzminister Silhouette, weil sie eben gegen ein ordentliches Gemälde doch nur spärliche Andeutungen zu geben schienen. Damals aber begeisterten sie das Publikum. Es gab eigene Silhouettisten, zu denen man sich begab wie heute zum Photographen. Man setzte sich hinter einen beleuchteten Schirm, der das Schattenbild des Kopfes in Lebensgröße auffing, das auf der anderen Seite von dem Porträtisten nachgezogen wurde. Mit dem Storchenschnabel verkleinert, ergaben sich dann die schwarzen Bildchen, die überall in den Biedermeiergemächern herumhingen. Man schätzte sie nicht gering, dienten sie doch selbst Lavater als Grundlage für seine physiognomischen Deutungen.
Wenn man dann gar noch dazu überging, ganze Szenen und Landschaften mit zierlichen menschlichen Staffagen und allerlei Tieren auszustatten oder Blumenschatten darzustellen, dann entstanden Gebilde von größtem Reiz, besonders wenn das Scherchen eines Meisters mit filigranhafter Zartheit in das schwarze Papier schnitt.
Solche Schattenszenen erzählen, erzählen - erzählen Dinge, die gar nicht in ihnen enthalten sind, sie leben vom Rhythmus der Licht- und Dunkelflächen, mit dem sie bis zum Tanze spielen können.
Von diesem Spiele entzückt, nahm ich als junger Mensch eines Tages eine gewöhnliche Hausschere und einen Bogen schwarzes Glanzpapier und begann draufloszuschneiden. Und da gewahrte ich, daß ich in ein Abenteuer geraten war; denn jede Wendung meiner Schere brachte eine andere überraschende Wirkung hervor.
In wenigen Minuten schritt ein Bauer über das Land, die Sense geschultert, aus der Tiefe lugte ein Kirchturm hervor, und ein dichtes Buschwerk ballte sich zur Seite auf. Bald vertauschte ich das grobe Instrument mit einem feinen Scherchen, das mein »Ritter Scherenschneider« als seine Waffe trägt, und nun wurden die Gebilde zusehends rhythmischer und feiner. So ging es ein ganzes siebzigjähriges Leben hindurch. Meine beiden Brüder - ein älterer und ein jüngerer - hatten fast zu gleicher Zeit ebensolche Scherchen in der Hand und lieferten Arbeiten, deren Zartheit oder Wunderlichkeit meinen Neid erregten. Und schließlich arbeiteten unsere Hände so einträchtig, als wäre es eine Hand. So begabt sie sich auch zeigten, Beruf und Schicksal ließen sie nicht bei dieser zierlichen Übung bleiben.
Ich allein bin ihr durch alle die Jahre hindurch treu geblieben und kann nun mir und, wie ich hoffe, den Freunden der Scherenschnittkunst mein Schattenbilderbuch vorlegen. Und um der Einigkeit willen, die zwischen mir und meinen Brüdern herrschte, habe ich einige Arbeiten unter die meinen gemischt.
Und die Verse, die ich jedem Bilde zugesellt habe, sind etwas wie die Seele, die jedem Bilde zugehört wie der Schatten dem Leibe, der ihn gebar.
Kornau, im Januar 1974
gez. A. M. Miller
HEIMWEG VON DER SCHULE
Heim von der Schul, heim von der Schul,
fröhlicher Zug!
Ja, von der Wissenschaft, Wissenschaft
habt ihr genug.
Windrädlein geht, Windrädlein geht,
’s rollt auch die Bahn.
Und auch das Püppchen lacht,
Püppchen lacht
wieder dich an.
Schlampiger Schatz, schlampiger Schatz,
Trine, bind ’s Haar!
Daß nicht die Miezekatz, Miezekatz
dir drunter fahr.