Der Hohe Ifen und das Gottesackerplateau im Winter.
Aquarell von Hans Gischel, Oberstdorf
Eine eigenartige, aber hochinteressante Naturlandschaft
Aufschlußreiche Erkenntnis über Entstehung sowie Erlebnisse während einer Bergwanderung
Wenn man von Oberstdorf ins Kleine Walsertal fährt, gewahrt das Auge im Südwesten einen merkwürdigen Gebirgsstock. Es sind die Gottesackerwände und das Gottesackerplateau - so genannt, weil es, von weitem betrachtet, den Eindruck einer toten Friedhofslandschaft macht -, überragt vom Hohen Ifen, welcher sich mit seiner 2,5 km langen Mauer von Nordwesten nach Südosten ins Schwarzwassertal hinabzieht. Es ist das Kreidegebiet des Ifenstocks. Was ist dies für eine Landschaft, welche so ganz im Gegensatz zu unserer übrigen Allgäuer Bergwelt zu stehen scheint? Jedenfalls ein prächtiges Tourenziel unserer näheren Oberstdorfer Umgebung.
Wenn man nämlich eine Landkarte studiert, erkennt man, daß die Grenzlinie zwischen Bayern und Vorarlberg ein spitzwinkeliges Dreieck bildet, welches direkt auf den Ifengipfel gerichtet ist. Seit 1892 sind das Gebiet innerhalb dieses Dreiecks und auch weitere Teile des Ifenstocks Waldburg-Wolfeggscher Besitz und gehören damit zu Rohrmoos-Tiefenbach. Anläßlich der Gebietsreform im Jahr 1972 erfolgte die Eingemeindung der beiden Ortsteile durch unseren Markt, und somit sind die genannten Teile des Gottesackers „Unser Oberstdorfer Bergland”.
Zunächst ein geographischer Überblick über den Ifenstock: Den Kulminationspunkt bildet im Südwesten der Hohe Ifen mit 2.232 m Höhe. Von drei Seiten betrachtet, sieht der Berg wie eine dachartige Mauer aus, während er nach Nordwesten mit überhängenden Felsen zum Tiefen Ifen abfällt, so daß, vom Bregenzerwald aus gesehen, sich der Anblick eines kühnen Felshorns darbietet. Der Hohe Ifen - ein Kuriosum der Ostalpen!
Nach Nordosten zu, durch die Ifenmulde getrennt, breitet sich die Karsthochfläche des Gottesackerplateaus aus, auch Gottesackerplatt oder kurz das Platt genannt, wobei der Schrattenkalk stellenweise eine Dicke bis zu 100 m erreicht. Nach Osten senken sich die Auen- und die Kürenmulde ins Schwarzwassertal hinab, während die Löwenmulde im unteren Teil nach Westen steil zur Subersach hinabstürzt. Überragt wird das Platt von den Oberen Gottesackerwänden, dem Hirscheckgewölbe, mit überhängenden Felsen gegen das Mahdtal zu. Über diesem erheben sich die Unteren Gottesackerwände, das Kühberggewölbe, und nördlich davon die Gatterwände, das Gatterkopfgewölbe, durch das einsame Gattertal getrennt.
Hinter der Aibelesalpe, nach der Wasserscheide, reichen die Unteren Gottesackerwände bis in die Tallage herab, und gegen Hirschgund zu ragen die grauen Schrattenkalkfelsen aus dem Hochwald bizarr und geisterhaft in den Himmel - ein gigantischer Anblick. Schließlich bildet das Kackenkopfgewölbe, bereits von Wald bedeckt, den Abschluß des Ifenstocks. Dazu gehört auch der Engenkopf,'an dessen Ostseite sich die berühmte Breitachklamm, ein grandioses Naturschauspiel, befindet. Die Breitachklamm ist ein lohnendes Wanderziel in der Umgebung von Oberstdorf. In »nur« 10.000 Jahren ein Augenblick angesichts des Erdalters von gut 3 Milliarden Jahren - hat sich der Fluß in den harten Schrattenkalk eingefressen.
Auch nach dem Rohrmooser Tal setzt sich die Kreideformation vom Gaisberg bis zum ruinenartigen Beslergewölbe fort, auf dessen Gipfel Karrenfelder zu sehen sind. Getrennt wird der Gratzug des Schwarzenbergs, mit der Sturmannshöhle auf der Nordseite, vom Ochsenberg durch die Felsklamm des Hirschsprungs, wo der Sage nach ein Hirsch durch einen kühnen Sprung über die Kluft sich der Verfolgung eines Jägers entzogen hat. Am Ochsenberg befindet sich oberhalb von Wasach das interessante Felsgebilde der Judenkirche.
Östlich der Iller finden wir Kreide am Grünten (zwar im Oberstdorfer Sprachgebrauch „a Ünderländar Bearg”), der reich an fossilienhaltigem Schrattenkalk (Nummuliten) ist. Der Grünten gilt als der »Wächter des Allgäus« und bedeutet das „schöne Eingangstor” zu unseren Allgäuer Bergen.
Unser Weg vom Hohen Ifen nach Rohrmoos führt fast durchwegs über Oberstdorfer Gebiet. Ehe wir aber zu dieser Bergtour starten, möchte ich Sie, liebe Leser, in die Entstehungsgeschichte dieser eigenartigen, aber hochinteressanten Naturlandschaft einführen.
Das Erdmittelalter besteht aus drei Perioden:
1. der Triasperiode, die wieder in drei Epochen unterteilt ist: Buntsandstein, Muschelkalk, Keuper (Dolomit, woraus die meisten Berge des Allgäus bestehen). Dazu gehören Widderstein, Schafalpen, Rubihorn, Nebelhorn u. a. Die Entstehung des Allgäuer Hauptkamms (Hauptdolomit) erfolgte durch Überschiebung der Lechtaldecke auf die jüngeren Juragesteine der Allgäudecke;
2. der Juraperiode, wiederum aus drei Epochen bestehend: Schwarzer Jura (Lias-Fleckenmergel, z. B. Linkerskopf, Wildengundkopf u. a.), Brauner Jura (Dogger) und Weißer Jura (Malm-Aptychenkalk, z. B. Höfats, Schneck, Salober u. a. Aptychen, eine Ammonitenart). Das Juragestein ist typisch für unsere zackigen Grate, die Allgäuer Grasberge. Darunter befindet sich eine grüne Mattenlandschaft, geschmückt mit einer üppigen, teils seltenen Alpenflora;
3. der Kreideperiode, in Untere, Mittlere und Obere Kreide unterteilt.
Das Ifengebiet und die nördlich davon liegenden Berge sind der östlichste Teil der Helvetischen Kreide, die vom Berner Oberland, über das Rheintal hinweg, bis in unsere Allgäuer Alpen vorgedrungen ist. Reine weiße Kreide, wie wir sie aus Rügen oder der Champagne kennen, ist Kalziumkarbonat, kohlensaurer Kalk. Die helvetische Kreide ist ein Sedimentgestein, das sich im Kreidemeer, einem Teil der Tethys bildete (Tethys - in der griechischen Sage die Mutter der
Gewässer. Tethysmeer: Mittelmeer vom Erdaltertum bis ins Tertiär, umspülte damals die Alpen).
Aus Kieselalgen, Stachelhäutern und Kalkschalen abgestorbener Muscheln entstanden, je nach chemischer Zusammensetzung, verschiedene Formen der Kreide, z. B. der Gault, ein Grünsandstein, Seewenkalke, Leist- und Drusbergmergel. Der Schrattenkalk ist Kreide mit sehr geringem Tongehalt, ein sehr hartes, aber wasserdurchlässiges Gestein. Wir finden ihn an den Churfirsten, am Alpstein sowie ausgeprägt am Karren und am Bocksberg zwischen Ebnit und Dornbirn; deutlich ist er im helvetischen Jura, der Canisfluh, aber besonders der Mittagsfluh zu erkennen. Als einheitliches Schrattenkalkgebirge ist aber zweifellos der Ifenstock zu bezeichnen.
Die Gebirgsbildung begann bereits in der Kreidezeit, vor ca. 15 Millionen Jahren. Die Hebung erfolgte schon im Meer; Inseln ragten heraus, die Gewässer wichen zurück, verlandeten, und durch Aufwölbung bildeten sich mächtige Gebirgsstöcke, „der Berge Gipfel stieg empor”, wie es im Lied heißt. Diese Bewegung der Erdkruste (Tektonik) war teils so tiefgreifend, daß sich das Magma daran beteiligte, worauf das Vorkommen des Alpenmelaphyrs, des einzigen vulkanischen Gesteins im Allgäu, zurückzuführen ist (im Warmatsgund und im Gaisalptobel).
Es entstanden wunderbare Faltengebirge mit waagrechten, senkrechten, schrägen und unregelmäßigen disharmonischen Faltungen.
Es bildeten sich aber auch riesige Faltendecken; das Aufeinanderschieben solcher Platten von Süd nach Nord auf die tieferliegenden Drusbergschichten führte zur Bildung des Ifenstocks. Georg Wagner vergleicht dieses Gebiet, von der Ifenplat- te bis zu den Kackenköpfen, mit einer zusammengefalteten Tischdecke (siehe Zeichnung). Die schwarzbraunen Drusbergschichten treten teils mit herrlichen Bändern offen zutage am Diedamskopf, an der Fellifluh und vor allem an der Nordwestseite des Hohen Ifen.
Nun muß noch kurz der Flysch besprochen werden. Diese Periode folgte der Kreidezeit; sie besteht aus Gesteinen, welche den Jura-Gesteinen sehr ähnlich sind, deshalb auch sehr reich an Alpenflora, aber mit sanfteren Formen, z. B. unsere Skiberge Fellhorn und Schwarzwassergebiet. Es handelt sich um ostalpinen Flysch; da er sich östlich des Rheintals befindet, wird er auch als ultrahelvetische Decke bezeichnet. Laut G. Wagner bildet der Kreideschild vom Ifen bis zum Besler ein Halbfenster, das nur nach Westen geöffnet ist und vom Flysch des Schwarzwassergebiets, der Oberstdorfer und der Feuerstätter Decke umlagert ist.
Mit dem Bau des Gebirges ging Hand in Hand die Abtragung vor sich. Die Alpenfaltung geschah mit einer solchen Mächtigkeit, daß die einst viel höheren Berge dem physikalischen Druck nicht mehr gewachsen waren. Es kam zu Verbiegungen und Überbiegungen, was zum Bruch führte. Die oberen Gewölbe stürzten zusammen und hinterließen Gewölbestummel, z. B. den Torkopf im oberen Mahdtal. Ungeheure tektonische Vorgänge müssen stattgefunden haben, die zur Bildung der anfangs erwähnten Mulden führten, welche dann später durch Erosion ihr heutiges Aussehen erhielten. Durch Bruch entstanden Verwerfungsspalten in senkrechten Gewölben, aber auch im flacheren Gelände. Ein typisches Beispiel einer solchen Verwerfung ist die große Nordostspalte, die sich von der Mittagsfluh über den Ifenstock bis zum Besler hinzieht, der »Rote Strich«, so genannt, weil die Spalte häufig mit rot-gelbem Kalkspat ausgefüllt ist. Nordwest- und Nordostspalten überkreuzten sich und bildeten Kluftkreuze; viele solcher Spalten wurden in späteren Zeiträumen durch Erosion zu Kluftkarren ausgeweitet.
Auf das Tertiär folgte die Eiszeit (Pleistozän). Diese Periode begann vor ca. 500.000 Jahren und reichte, einschließlich der Interglazialzeiten, bis zur Jungsteinzeit. Iller-, Lech- und Rheingletscher berührten sich über die Wasserscheiden hinweg. Das Vordringen des Lechgletschers nach Norden hin war so gewaltig, daß er den Widderstein auf einer Höhe von ca. 2.200 m umfloß, dessen Gipfel als Nunatak (in der Sprache der Eskimos sind Nunataks aus dem Inlandeis ragende Bergspitzen, wie sie heute noch in Grönland und in der Antarktis anzutreffen sind) aus dem Eis herausragte. Der Illergletscher war nicht so mächtig, und deshalb war der Ifen nicht übereist. Das Gottesackerplateau war ein großes Firnfeld, vergleichbar mit den norwegischen Fjells (Fjelden, große Schneeflächen).
Mit dem Eis begann die Erosionsarbeit; Eisarbeit führte zur Ausräumung der Mulden. So wurden die Gesteine des Tiefen Ifen bis auf die quarzhaltigen Kieselkalke ausgeräumt; dadurch entstanden aber auch Talbecken, z. B. die Melköde oder die Auen des Bregenzerwaldes, worauf die Namensgebung verschiedener Orte wie Schoppernau, Schnepfau, Mellau, Bezau zurückzuführen ist. Auftauender Spaltenfrost hatte zur Folge, daß mächtige Bergstürze stattfanden.
Der Weg von der Auenhütte zur Melköde führt durch den Felszirkus der »Räuhe« oder »In der Rüche«, wie die Walser sagen. Riesige Versturzblöcke, mit Tannen überwachsen, sind Zeugen eines solchen Felssturzes vom Ifen. Ausräumung und Bergstürze sorgten auch für die Verlegung der Wasserscheiden, wie z. B. die ausgeräumte Gerachmulde (der Schwarzwasserbach floß ursprünglich vom Diedamskopf herab). Die Verlegung der Rohrmooser Wasserscheide nach Osten zugunsten des Rheins war die Folge eines Bergsturzes vom Sulzrücken bei Hirschgund.
Das Eis schmolz, es setzte die postglaziale Periode (Nacheiszeit = Holozän) ein, die Zeit bis zur Gegenwart, bis zu unserer Zeit. Es ist erstaunlich, wie die Kräfte der Natur in nur 15.000 Jahren - was bedeutet dieser kurze Zeitabschnitt in der Erdgeschichte - die Landschaft verändert haben und heute noch umgestalten. Denn nach wie vor finden Murenbildungen, Rutschungen und Überschwemmungen statt, Lawinen gehen zu Tal.
Schmelzwässer zwischen und nach der Eiszeit flossen in Strömen dahin, und der Schnee tat seine Wirkung. Bis in den Hochsommer hinein ist so das Plateau noch mit Schnee bedeckt, wenn in höheren Hanglagen bereits der Frühling seinen Einzug gehalten hat. Kohlensäurehaltiger Regen und gewaltige gewitterige Niederschläge prasselten hernieder. „Erst die Modellierarbeit des Wassers schafft Leben und Bewegung” (G. Wagner). Besonders in den Naturschächten, „den Abzugslöchern der Niederschläge” (Franz Müller - Udo Scholz), konnte sich die mechanische Arbeit des Wassers voll entfalten. Bäche stürzten in die Tiefe zu den weichen, tonhaltigen, aber wasserundurchlässigen Drusbergschichten hinab.
Dadurch wurde - heute besteht kaum noch Zweifel - ein unterirdisches Höhlensystem gebildet, welches noch keines Menschen Auge je gesehen hat. Die Wasser sammelten sich. Laut Wagner entstand ein Kampf um die Wasserscheiden; die Wasser stritten sich, für welche Richtung sie sich entscheiden sollten (Breitach/Iller oder Bregenzerach/Bodensee). Aus den unterirdischen Gewässern fließen heute noch Höhlenbäche nach allen Seiten in die Tiefe, die dann in Tallagen als Karstquellen aus dem Erdinnern zutage treten. Der Sägebach bei Riezlern/Schwende (so genannt, weil er einst eine Säge antrieb) bildet den Ausfluß der Mahdtalmulde, während der Aubach in wasserreicher Fülle aus den Schlünden der Kürenmulde hervorquillt.
Nach einem kurzen Lauf von 300 m mündet der Aubach unterhalb der Naturbrücke (ein interessantes Naturdenkmal bei Riezlern) in den Schwarzwasserbach, welchen er bei Trockenheit oder Vereisung sogar speist. Keßlerwasserfall und Poluswasserfälle stürzen tief ins Hirschgundertal hinab, während der Laublisbach oberhalb von Schönebach als tosender Wasserfall aus einem Felsloch hervorsprudelt und sich in die Subersach ergießt; zuvor nimmt er noch den Schneckenlochbach auf, der aus einer wilden, finsteren Klamm herausrauscht. Unser Wanderweg verläuft über einer großen, unterirdischen europäischen Wasserscheide zwischen Donau und Rhein.
Das Gebirge verkarstete; es bildeten sich Karren oder Schratten. »Schratt« bedeutet nach dem Schweizer Escher von der Linth einen „Berggeist, einen zerschneidenden Kobold”. Das Gottesackergebiet ist zerschnitten und zerlöchert, und so bildet es eben den krassen Gegensatz besonders zu unseren Jura- und Flyschbergen mit finsteren Erosionsfurchen (Beispiele: Der Mutzentobel, das Bacherloch mit dem »Kätzlestobl«, Wilde Gräben, das zerfurchte Schwarzwassertal u. a.). Und doch ist diese so andersgeartete Landschaft ein Stück Allgäu, ,,ein Phänomen der Allgäuer Landschaft” (Müller - Scholz).
Fassen wir alles zusammen: Eisarbeit, Schmelzwässer, Klimaschwankungen, Schnee, Niederschläge, Winde, Verwitterung, aber auch Einflüsse vegetativen Charakters führten zu weiteren Abtragungen und haben den tektonischen Bau des Gebirges verändert und die Landschaftsform geschaffen, wie sie sich heute dem Beschauer darbietet. Wir haben aufschlußreiche Erkenntnisse über die Entstehung des Ifenstocks erfahren, wollen nun diese Landschaftsform näher kennenlernen und neue Erlebnisse bei einer Bergwanderung sammeln, mit der wir jetzt beginnen wollen.
Per Sessellift gelangen wir vom Tal zur gastfreundlichen Ifenhütte (ca. 1.600 m) und steigen, hoch über der Ifenmulde, nach Westen empor. Die Besteigung des Ifengipfels ist sehr zu empfehlen, man wird belohnt durch einen einmaligen Rundblick. Im Norden liegt es vor uns, das Gottesackerplateau, eine graue Karstfläche mit schwarzen Flecken (Latschen), die wie eine tote Mondlandschaft anmutet. Beinahe schwindelerregend ist der schaurige Tiefblick nach Westen in den finsteren Ifentobel und in den Bregenzerwald, überragt vom Sevischrofen mit seinen steilen Flanken (Sevisch/Seibisch ist ein Strauß von Besenheide oder Bärlapp, womit früher die Milch gesiebt wurde und auch die »Ribele« gemacht wurden, die zum Reinigen von Pfannen dienten).
Im Nordosten breiten sich das liebliche Kleine Walsertal und unser Oberstdorfer Talbecken aus. Im Osten erhebt sich zum Greifen nahe das majestätische Haupt des Widdersteins, des Königs des Walsertales. Im Südosten liegen die vielen Gipfel der Lechtaler Alpen vor uns. Die Fernsicht reicht vom Hohen Riffler über die Mauer des Rätikons bis zum Tödi, während der Blick nach Nordwesten über die Weite des Bodensees bis zur Schwäbischen Alb und den Schwarzwald schweift. Ein herrliches Gipfelkreuz lädt zur Beschaulichkeit ein - Zeichen der Dankbarkeit dem Allmächtigen gegenüber, dem Herrscher über die Natur. Der Mensch sollte dankbar dafür sein, daß er die geheimen Kräfte der Natur zu ergründen vermag und eine so schöne Landschaft gefahrlos begehen kann. Ein Kirchenlied gibt diese Stimmung wieder:
Allein Gott in der Höh’ sei Ehr und Dank für seine Gnade; darum, daß nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. |
Wir setzen unsere Tour fort über das Gottesackerplateau am Hahnenköpfle (2.133 m), einem reizenden Nebengipfel des Ifen, und auch ein Skigipfel, denn im Winter bietet sich den Tourenfahrern ein wahres Eldorado an.
Bei schlechtem Wetter oder gar bei Nebel ist von einer Begehung des Plateaus dringend abzuraten. Wegen der Gleichförmigkeit des Geländes verirrt man sich leicht, und manchem Bergsteiger ist die Wanderung schon zum Verhängnis geworden, „ma löüft ums Rädle”. Bei unsicherer Witterung sollte der gelb markierte Alpenvereins-Pfad keinesfalls verlassen werden, denn wir befinden uns auf keinem Spaziergang, sondern auf einer Bergtour.
Bei herrlichem Wetter werden wir gleich erleben, was sich in dieser angeblich so toten Friedhofslandschaft alles tut. Schon Max Förderreuther läßt um die Jahrhundertwende in seinem Buch „Die Allgäuer Alpen” den Meister alpiner Landschafts Schilderung Anton Waltenberger zu Worte kommen: „Und welch wunderliche Gebilde erblickt das Auge! Hier ragen Dutzende in die feinsten Spitzen auslaufende Steindolche, daneben erblicken wir Messer und Beile, Hellebarden und schneidige Waffen, seltsam geformt wie uraltes Rüstzeug aus längst vergangener Zeit; dort starren Tausende von zernagten und zerfressenen Zacken, durch enge, gewundene Schründe voneinander getrennt und hellklingend beim Anstoß des eisenbeschlagenen Bergstockes; dort sind mächtige Steinplatten von merkwürdigen rundlichen Öffnungen nach allen Richtungen durchsetzt und, gerade wie Holz von Insekten, hier gleichsam von geheimnisvoll riesigen Bohrwürmern zernagt und zerfressen”.
Nach Eckert ist es eine „Steinfläche, über welcher ein eigentümlicher romantischer Hauch liegt”, er redet von Turmresten alter Zwingburgen aus längst vergangener Zeit. Das Gottesackerplateau - ein steinernes Meer, das jederzeit in Bewegung geraten könnte! Der Bergwanderer hat das Gefühl, er befände sich auf der Bugwelle der Alpen, das Meer erbrauste laut, schäumte, Wellen bewegten sich von Süd nach Nord, türmten sich zu mächtigen Wogen, die plötzlich Stillständen und zu Felsgewölben erstarrten.
Mannigfaltig sind die Karrenfelder ausgebildet. Die Schichtfugenkarrenfelder im steilen Gelände sehen aus wie eine aus Steinen aufgeschichtete Wand, wie sie ein Maurer nicht besser aufeinandersetzen könnte.
Sehr interessant, ebenfalls an steilen Wänden, sind die Rinnen- oder Rillenkarren; sie erinnern uns an die Kannelierungen griechischer Säulen, wie sie ein Bildhauer nicht schöner gestalten könnte.
Sind die Flächen sanfter geneigt, bilden sich Flußkarrenfelder aus, die sogenannten Mäanderkarren, benannt nach dem gleichnamigen Fluß in Kleinasien (heute Menderes). Bei starken Niederschlägen rinnt das Regenwasser durch die Rillen herab und verschwindet als Höhlenbächlein in der Tiefe.
Wir kommen an mächtigen Dolinen vorbei, trichterförmigen Vertiefungen, Erdlöchern, teils von erheblicher Größe, die fast das Aussehen von Bombentrichtern des Zweiten Weltkrieges haben.
Besondere Beachtung verdienen die Kluftkarrenfelder, die oft mit Schichtfugenkarren verbunden sind; über ihre Enstehung habe ich schon berichtet. Sie verzweigen sich, verästeln und überkreuzen sich, sie laufen aber auch nebeneinander und sind oft nur durch schmale messerscharfe Steinplatten getrennt. Durch den Zusammenbruch solcher Parallelklüfte entstanden die Karrengassen, die uns an Römerwege erinnern und denen auch die Pfade folgen.
Verbunden mit Kluftkarren sind die Naturschächte; sie entstanden durch Zerstörung von Kluftkreuzen und stellen in dieser Landschaft eine „unheimliche” Schönheit dar. Mehrere Schächte sind über Klüfte hinweg mit Naturbrücken verbunden, meist mit Erosionsschutt ausgefüllt, reichen aber auch oft in „ungemessene Tiefen” bis zu den Drusbergschichten zum unterirdischen Höhlensystem hinab. Deshalb sind die Schächte vielfach mit größeren Höhlen verbunden.
Als bestes Beispiel eines solchen Gebildes (Naturschacht und Höhle) ist zweifellos das Hölloch im Mahdtal zu bezeichnen. Schon der Blick in den gähnenden Abgrund erfüllt uns mit Schaudern - und doch ist er faszinierend! Man gibt sich der Phantasie hin: „Eingang zum Hades” oder „das Nibelungenreich Alberichs”. „Wenn a Skifahrer ins Hölloch inifliagt, seid ihr Oberstdorfer schuld”, so hat ein Walser sich ironisch nach der Gebietsreform geäußert. Und er hat recht, denn die Höhle liegt mitten im Talgrund und ist auch einem Skifahrer schon zum tödlichen Verhängnis geworden. Mit der Erforschung begann man bereits zwischen den beiden Weltkriegen; damals benutzte man noch Flaschenzüge.
Leider ereignete sich dabei ein schreckliches Unglück, wobei einige Bergsteiger des Kemptener Alpenvereins den Tod fanden. Sie ertranken buchstäblich in den herabstürzenden Wasserfluten eines plötzlich einsetzenden Gewitterregens. Nach dem Krieg wurde das Hölloch weitgehend erforscht. Ein 72 m tiefer Naturschacht bildet den Eingang zu einer mächtigen Höhle, welche eine Höhe von ca. 30 m erreicht. Welch zauberhafter Anblick muß sich den Höhlenforschern darbieten: Stalaktitenbildung, ein Höhlensee, eine Höhlenklamm, Höhlenwasserfälle mit Gumpen und ein wildrauschender Höhlenbach (es ist der erwähnte Sägebach), der schließlich in den Klüften verschwindet. Heute ist der Eingang zum Hölloch durch einen großen Zaun abgesichert.
Eine Großhöhle ist das Schneckenloch oberhalb von Schönebach, wo der Schrattenkalk bis unter die Drusbergschichten hinabreicht, ein wahres Naturwunder! Über der großen Eingangshalle wölbt sich ein riesiges Domdach. Mit 1,5 km Länge ist sie die größte Höhle Vorarlbergs.
Von den vielen Höhlen des Gottesackers sei schließlich noch die Löwenhöhle (Eishöhle) im Löwental, mit interessanten Eisgebilden, erwähnt.
An den Unteren Gottesackerwänden, südlich des Gattertals, entdecken wir senkrechte Höhlen, dunkle und finstere Schlünde - ein schaurig schöner Anblick! Was mag wohl versteckt liegen in diesen Spalten? Wieder läßt man die Phantasie walten: Zwerge, Kobolde, Gnomen und Hexen müßten aus diesen Klüften plötzlich hervorzappeln, ihr buntes Wesen treiben und, ähnlich wie in der Walpurgisnacht auf dem Brocken, ihren Tanz aufführen!
Von weitem betrachtet sind die Löcherkarren wie eine von Insekten zernagte Holzoberfläche anzusehen. Wir erblicken gerundete und elliptische Formen; wegen des gelösten Kalks finden Pflanzen reichlich Nahrung in ihrem Grund. So bieten sich viele dieser Löcher als wunderbare farbige „Blumentöpfe” an, ein herrlicher Kontrast zum grauen Schrattenkalk, eine Augenweide für den Bergwanderer.
Man staune, welch großartige Vegetation in vielen Teilen des Ifengebietes vorherrscht, denn öfters übersteigt man kleine Erhebungen, welche dicht mit Latschen bewachsen sind. Allein schon das leuchtende Rot der Rauhhaarigen Alpenrosen bringt Leben in die Natur. Von der Mannigfaltigkeit der Alpenflora seien nur einige, darunter seltene Pflanzen hervorgehoben: Neben üppigem Bergschnittlauch finden wir den zierlichen Weißen Alpenhahnenfuß, gemeinsam mit dem goldgelb glänzenden Berghahnenfuß, viele Steinbrecharten (Saxifragae), den Pannonischen Enzian, die Silberwurz (Dryas octopetala), deren Fruchtstand die »Wilde Wible« bildet und das nach Schokolade riechende Schwarze Kohlröschen, im Volksmund »Brändle« genannt.
Unmittelbar nach der Schneeschmelze blüht die seltene Frühlingsküchenschelle (Pulsatilla vernalis). Ebenfalls selten sind die Alpenazalee und die Mondraute. Als besondere Rarität aber ist die Zwergorchis (Chamorchis alpina), ein unscheinbares, aber liebliches Pflänzchen, zu erwähnen. Leben sprießt aus dem grauen, öden Schrattenkalk hervor und gestaltet viele Teile dieses angeblich so toten Gottesackergebietes in eine Gartenlandschaft um: „Die Steinwüste lebt”!
Noch kurz zur Fauna: Rudel von Gemsen springen, besonders im Herbst, über das Platt, und Murmeltiere, »Burmente«, hüpfen in den Mulden herum und machen vor ihren Löchern „Mändle”. Selten ist der Schneehase; in Waldlagen finden wir Rotwild. Schneehühner streichen in Massen dahin, und im Jagdgebiet von Rohrmoos balzen im Frühjahr der Birkhahn und der selten gewordene Auerhahn. Auch Adler ziehen hoch in den Lüften über dem Ifengebiet ihre majestätischen Kreise.
Fettes Gras und ein Dickicht von Alpenampfer sind Zeugen einer ehemaligen Alpwirtschaft, denn mittlerweile sind wir am tiefsten Punkt des Gottesackerplateaus (1.832 m), bei den Grundmauern der verfallenen Gottesackeralpe, angelangt. Diese Alpe wurde bis zum Jahre 1905 vom Walsertal aus beschlagen.
Der Sage nach sollen hier mehrere Hütten gestanden haben, und die Bewohner derselben seien aufeinander so verhaßt gewesen, daß sie die Fensterläden der Alpen zuschlossen und sich somit gegenseitig nicht sehen konnten! Deshalb liege ein Fluch auf diesem Gebiet. Ursprünglich soll dieser Bereich größer gewesen sein, denn was südöstlich von dieser Alpe liegt, gegen den Hohen Döllen zu, nennt man auf der »Verschwundenen Alp«. Eine weitere Mär erzählt, daß hier einst ein Bettler um etwas Butter gebeten und dafür einen eingewickelten Stein erhalten habe. Dieser Bettelmann aber sei der liebe Gott gewesen, und aus Gram über die Bosheit der Menschen habe dieser das einst fruchtbare Land in eine Steinwüste verwandelt!
Von der verfallenen Alpe gibt es zwei Abstiegsmöglichkeiten. Nach Osten wandern wir durch die Kürenmulde - der Bergsteiger hat das Gefühl, er befindet sich im jugoslawischen Karst - vorbei an der verfallenen Schneiderkürenalpe (heute Jagdhütte) und durch den langen Kürenwald zum Wäldele hinab, einem schmucken Ortsteil von Hirschegg. Oberhalb der Jagdhütte finden wir einige Bestände von Zirbelkiefern (Arven), im Allgäu doch seltene Nadelbäume. Geübte Bergsteiger können aber auch den Weg durch das weite Löwental (Lawinental), das reich an Dolinen ist, wählen und über die Hochrubachalpe nach Hirschgund absteigen.
Ein weiterer Weg führt von der verfallenen Gottesackeralpe über die Gottesackerscharte (Torkopfscharte) zum Windecksattel, dem höchstgelegenen Hochmoor der Bundesrepublik Deutschland. Latschenfelder, üppiges Wollgras und kleine Teiche ergeben das Bild einer herrlichen Biotopenlandschaft in 1.751 m Höhe. Entweder gelangt man durch das Mahdtal nach Riezlern-Schwende, oder ein letzter Wanderweg führt über den höchsten Punkt der Unteren Gottesackerwände (1.848 m), durch das Hintere Gatter, nach Rohrmoos hinab, ein idyllisches Alpdorf und ein Schmuckstück von Oberstdorf-Tiefenbach.
Eine weite Bergtour durch eine einzigartige, aber hochinteressante Naturlandschaft liegt hinter uns. Dieses besondere Gebiet ist eine Bereicherung für „unser Oberstdorf”, aber auch für unser schönes Nachbarland, das Kleine Walsertal, denn ein großer Teil des Ifenstocks befindet sich auf Walser Boden.
Am Schluß möchte ich noch einen Besuch der hölzernen Kapelle von Rohrmoos empfehlen. Im Innenraum befindet sich auf der Westseite das Bild eines unbekannten Meisters über das Jüngste Gericht mit einer etwas grotesken Darstellung der Hölle. Man macht sich Gedanken . . . , denn das Bild erinnert einen an die soeben beschriebene Tour - wir haben nämlich das Tote und das Lebendige in der Natur erlebt.
- Sterben ist nicht gleich Tod - In der Natur bedeutet Sterben das Hervorsprießen neuen Lebens; beim Menschen aber bedeutet Sterben AUFERSTEHUNG. |
Quellen:
Max Förderreuther, Die Allgäuer Alpen, 1907.
Georg Wagner, Rund um Hochifen und Gottesackergebiet, 1950.
Franz Müller und Udo Scholz, Ehe denn die Berge wurden, 1965.
Für Beratung bedanke ich mich bei den Herren Franz Felder, Riezlern; Walter Kolb, Oberstdorf; Dr. Thaddäus Steiner, Lindau sowie für die zur Verfügung gestellten Bilder bei den Herren Hans Gischel und Herbert Gruber, beide Oberstdorf.