Am "Distelmändlar" mit Blick zur Höfats.
Foto: Herbert Gruber
Walter Pause bezeichnet in seinem Buch »Die 100 schönsten Bergwanderungen in den Alpen« die Wanderroute über den »Allgäuer Himmelssteg« als einen der schönsten Höhenwege in den Alpen. Diese beliebte Tagestour kann für den echten Bergsteiger zu einem wahren Genuß, zu einem grandiosen Erlebnis werden.
Mit der Nebelhornbahn, die heuer ihr 65jähriges Bestehen feiern kann, gelangt man mühelos schon auf eine Höhe von 1.932 m. Am gastfreundlichen Nebelhornhaus, dem früheren Edmund-Probst-Haus, vorbei geht es in eine Mulde hinab; danach erfolgt ein kleiner Gegenanstieg zum Zeigersattel. Hier zweigt nach Südwesten ein langer Gratzug ab, dessen Endpunkt, der Schattenberg, als stolze Pyramide unser Talbecken beherrscht. Er ist geschmückt mit einem herrlichen Gipfelkreuz, welches an hellen Sommerabenden mit gleißendem Silberlicht in die Gassen Oberstdorfs herabgrüßt.
Auf dem Sattel lohnt sich ein kurzes Verweilen. Unter uns liegt der Seealpsee, eine Perle des Allgäus. Wie ein grünblauer Kristall, gleich einem Smaragd, fügt sich dieses Gewässer, mit der reizenden Fischerhütte am Nordufer, in die Weidelandschaft um die Seealpe ein. Darüber ragt die mächtige Höfats empor, die sich in tieferen Lagen im Wasser spiegelt - ein beliebtes Motiv für Maler und Photographen. Alles in allem: eine romantische Märchenlandschaft. Die Tiefe des Sees beträgt ca. 45 m; doch gibt es Schlünde, wo das Wasser tiefer hinabreicht. Es existiert sogar eine Sage, die erzählt, daß ein unterirdischer Drache solange nagt, bis die Fluten die Seewände durchbrechen und unser gesamtes Tal heimsuchen. - Nur eine Mär.
Vom Zeigersattel führt der Gleitweg direkt ins Oytal. Wer das Ufer des Seealpsees besuchen will, muß sich ca. 50 m hinabbemühen; von dort kann man auf einem kurzen, gut markierten Steig zum Gleitweg zurückkehren, den man beim Mäxlesegg, auch »Mäxlesrüeh« genannt, einem lohnenden Aussichtspunkt, wo einst eine Hirtenhütte stand, erreicht. Um sich die Mühe des Aufstiegs zu ersparen, ließen sich besonders in früheren Jahren Bergsteiger trotz Warntafeln mit Totenköpfen dazu verleiten, unmittelbar vom See ins Oytal abzusteigen.
Einmal ist es der Anblick der tief gelegenen Oytalwirtschaft, zum andern aber auch die liebliche Gegend unterhalb des Sees, der Seewald, dazwischen grüne Wiesen, der rauschende Seebach; wirklich, eine Idylle, verführerisch und verlockend. Aber der Schein trügt. Man kommt weit hinunter. Dann passiert das Schreckliche: Das Gelände wird immer steiler, so richtig ,,gäch”; es gibt kein Vorwärts- aber auch kein Rückwärtskommen mehr; wie oft mußte die Bergwacht, auf Hilferufe herbeigeeilt, schon Menschen aus dieser mißlichen Lage befreien. Leider wurde dieser sträfliche Leichtsinn für viele Touristen zum tödlichen Verhängnis, da sie über die darunterliegenden Seewände abstürzten.
Wir aber bleiben schön oben auf der Höhe und setzen unseren Wanderweg fort. Wir durchqueren zunächst die Flanken der beiden Seeköpfe, und nach einem kurzen Aufstieg durch ein Geröllfeld erreichen wir hoch über den Morgenweiden eine Scharte nördlich des Schochens. Beeindruckend ist von hier der Blick ins einsame Obertal mit den vielen schmucken Alpen; darüber erstreckt sich die geschlossene Felsmauer des Daumenstocks vom Nebelhorn bis zum Großen Daumen, worüber der Hindelanger Klettersteig führt.
Wir durchschreiten die Westseite des Schochens und gelangen zu einem Punkt, wo der Weg seine Richtung ändert. Dem Alpinisten erschließt sich hier ein ganz neues Blickfeld. Tief unten liegt das Tal noch im Schatten vom Oytalhaus bis zum Stuibenfall; über dem Kessel der Käseralpe erhebt sich der Liaskegel des Rauhecks bereits im strahlenden Licht der Vormittagssonne, zur Rechten steigt die stolze Höfats auf, und auf der anderen Talseite erblickt man die felsige Wildengruppe und davor den Schneck mit seiner finsteren, abweisenden Nordwestseite und seinen Trabanten, das Himmelhorn. Im ganzen gesehen: ein imposanter Anblick.
In alten Karten von Franz Alois Schratt - „Fronz Alise” genannt - ist gelegentlich noch der Name »Schnee-eck« zu lesen. Dieser Berg besteht aus Aptychenkalk, einem Sedimentgestein, das geologisch der Oberen Juraperiode, dem Weißen Jura oder Malm, angehört (Aptychen = eine Ammonitenart). Links vom Schneck befindet sich der Rotkopf und daneben das Laufbacher Eck, noch hoch über uns. Nach Nordosten schließt sich ein langer Gebirgskamm an, der vom Salober über das Berggächtle bis zum Giebel reicht.
Nach einem kurzen Abstieg wandern wir durch eine Hochmulde, vorbei an Biotopenfeldern, geschmückt mit üppigem Wollgras. Wir begehen die Südflanke des Lachenkopfs, wobei wir die Felsbarriere des »Distelmändlars« mittels eines Drahtseils ohne sonderliche Schwierigkeiten überwinden. Wir sind an der Stelle angekommen, wo von Norden der Skiweg heraufführt. Der winterliche Übergang vom Nebelhorn zum Wildenfeld ist im vorgerückten Frühjahr wahrer Hochgenuß für Tourenskifahrer.
In früheren Jahren sah man von hier aus in der Tiefe ,,do an Schoche” (mit einer Stange dazwischen), „det an Schupfe” (mit 4 Stangen und einem Dach darüber), aufgestapeltes Heu, Zeugen menschlichen Fleißes. Denn seit jeher gilt die Region des Laufbachs als bekanntes Bergheuergebiet des Allgäus. Nachdem in tieferen Tallagen die Wiesen gemäht waren, zog es den Bergbauern in die Höhe, um diesem Gewerbe der »Berghoibat« nachzugehen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg diese Tätigkeit anderswo längst eingestellt worden war, ,,hot ba im Loufbah allat no ghoibet”. Bis an den Rand der »Hohen Gänge«, wie die Steilflanken unterhalb des Schnecks benannt werden, wagte sich der Bergheuer heran; deshalb wurden bei dieser harten Arbeit teilweise Steigeisen verwendet.
Wie war es früher zur Zeit des Heuzugs doch so schön, wenn im Vorwinter sich die Schlitten, aus verschiedenen Tälern kommend, Oberstdorf näherten, welch herrlicher Anblick war es, wenn die Fuhrwerke, vollbeladen mit »Burda«, durch unsere Gassen zogen, voran die Pferde mit ihren klingenden Schellen, dem »Groll«, eine liebliche Musik; dies alles erweckte in einem das Gefühl einer vorweihnachtlichen Stimmung.
An dieser Stelle sei erwähnt, daß beim Bergheuen unterhalb des Laufbacher Ecks, im »Roate Tenne«, sogar Edelweiß gemäht worden sind. Denn was durfte der Bergsteiger in botanischer Hinsicht allein auf dem bisherigen Weg, angefangen vom Nebelhorn, Schönes erleben, welche Schönheiten erwarten ihn noch auf dem weiteren Wanderpfad! Es bietet sich uns an: ein üppiges Blumenreich, ein weitläufiges Alpinum in schillernder Farbenpracht, ein Paradiesgarten.
Von der Mannigfaltigkeit der Blütenpracht seien einige Exemplare erwähnt: mehrere Steinbrecharten (Saxifragae), das Gipskraut, der weißlila blühende Alpentragant, der gelbliche Felsentragant, auch Gratlinse genannt, der Bergspitzkiel (Oxytropis montana), der Dunkle Süßklee (Hedysarum hedysaroides), einige Orchideen, das nach Vanille riechende Schwarze Kohlrösel, bei uns »Brändle« genannt, das nicht häufige Kugelige Knabenkraut (Traunsteinera globosa) und nicht zuletzt der stolze Allermannsharnisch, eine Lauchart. Wir finden aber auch Alpenpflanzen, die weder an Schönheit - allein der Anblick der zierlichen Alpenaster mit ihren violetten Zungen und den goldgelben Röhrenblüten stellt eine Augenweide dar - noch an Seltenheit dem Edelweiß nachstehen. Als besondere Rarität gelten die Straußglockenblume (Campanula thyrsoidea) und zwei noch seltenere Hauswurzarten (Semperviva), die zu den Dickblattgewächsen gehören, die Spinnwebenhauswurz - angeblich einziger Standort im Bundesgebiet - und die stattliche Berghauswurz.
Es geht weiter. Nach Querung einer kleinen Felsschlucht steigt man über mehrere Serpentinen hinauf zum höchsten Punkt unserer heutigen Tagestour, zum Laufbacher Eck (2.150 m). Hier oben haben wir eine längere Rast ehrlich verdient.
Man genießt einen wunderbaren Ausblick. Unter uns nach Osten zu liegt die Ochsenalpe, darüber die Bergwachthütte, auf der anderen Talseite erblicken wir die zerklüftete Fuchskarspitze mit dem Felsgebilde der »Madonna«, darunter das Prinz- Luitpold-Haus, schön gelegen zu Füßen des Wiedemers, eines geologisch sehr interessanten Dolomitberges mit markanten, schrägen Faltungen. „An keiner Stelle sind die Falten im Hauptdolomit so schön aufgeschlossen wie hier” (Franz Müller und Udo Scholz). Das ganze Panorama aber wird überragt vom König der Allgäuer Alpen, dem Hochvogel, dessen majestätisches Haupt sich hoch in die Himmelshöh hebt.
Nach steilem Abstieg wandern wir in südliche Richtung. Der Schneck zeigt sich jetzt in einem völlig veränderten Bild: Hoch über uns türmt sich seine mächtige Ostwand, mit dazwischen liegenden roten Hornsteinschichten, als kühnes Felshorn empor. Die Begehung dieser Route zählt zu den schwierigsten Klettertouren der Allgäuer Alpen.
Nördlich dieses Gratzuges wandern wir durch einen Kessel, der oft bis in den Sommer hinein mit Schnee bedeckt ist. Unter uns genießt ein Rudel von Gemsen, auf dem Bauch liegend, das kühle Naß. An ausgeaperten Stellen entdeckt man mitten im Geröll das niedliche Rundblättrige Täschelkraut (Thlaspi rotundifolia) - Totes und Lebendiges nebeneinander aus der soeben vorher erstarrten Natur sprießt neues Leben hervor. Am Ende des Gratrückens teilen sich die Wege. Nach Osten geht es zum Prinz-Luitpold-Haus, weiter unten bei der Schönbergalpe kann man an der Pointhütte vorbei zum Giebelhaus absteigen. In unmittelbarer Nähe der Stelle, wo sich der Stierbach in den Bärgündlesbach ergießt, befindet sich eine ca. 2.000 Jahre alte Eibe, eine der ältesten des Bundesgebiets. Ihr Stamm ist zwar verdorrt, aber immer noch sind hervorsprießende grüne Zweige ein Zeichen für den ungebrochenen Lebenswillen dieses Baumes.
Vor uns im Süden stürzt der Stierbach als schlanker Wasserfall über die Felsen des Vorderen Wilden; zwischen diesem Berg und dem Großen Wilden breitet sich das Firnfeld der Gemswanne aus, ein Leckerbissen für erfahrene Tourenskiläufer im Spätfrühling. Nach einem letzten Aufstieg unterhalb des Schneck-Mittelgipfels erreichen wir die breite Paßhöhe des Himmelecks (2.007 m). Denn von hier führt der Weg nur noch bergabwärts. Am Himmeleck, wie auch am Laufbacher Eck, blüht im Frühsommer die Schwefelgelbe Anemone, eine Abart der Alpenanemone, deren Fruchtstand die bekannten »Wilde Mändle« bildet. Noch einmal schweift der Blick zurück zum Hochvogel, der wie ein hünenhafter Recke aus grauer Vorzeit dasteht. Wir steigen über einen Grasrücken in eine kleine Mulde hinab, überschreiten einen Bach und gelangen über das Mitteleck zum Wildenfeld. Dabei gewahrt man zur Linken einen riesigen Versturzblock, mit einer reichhaltigen Alpenflora überwachsen. Nach dem Abstecher ins Hindelanger Gebiet sind wir wieder im „Oberschdorfar Gai” gelandet.
Welch ein geologischer Wandel hat sich inzwischen vollzogen: Vom Aptychenkalk zum Hauptdolomit. Es ergibt sich ein ganz neues Landschaftsbild. Vorher durchschritten wir eine typische Allgäuer Mattenlandschaft, nun stehen wir mitten in einer wilden Felsregion. Über uns breitet sich eine gewaltige Schutthalde aus, eine Geröllwüste, mit Felstrümmern übersät, darüber die Gipfel des Großen und des Kleinen Wilden, der auf einem schwarzen Sockel steht (Großer Wilder/Kleiner Wilder lt. AV-Führer). Dementsprechend hat sich die Vegetation geändert. Dichte, dunkle Latschenfelder wechseln ab mit dem leuchtenden Rot der Rauhhaarigen Alpenrosen, bei uns Steinrosen genannt, und den glänzenden goldgelben Blütenkörben der Großblütigen Gemswurz (Doronicum grandiflorum). Wiederum alles in allem: eine Natursinfonie, ein einmaliger Anblick für den, welcher das Wahre und das Schöne in der Natur erkennt.
Unser Hauptaugenmerk richtet sich auf die gegenüberliegende Höfats, die sich immer mächtiger aus der Talsohle erhebt, je tiefer wir steigen. Die Höfats - ,,d’ Heafats”, wie sie im Oberstdorfer Dialekt heißt - besteht wie der Schneck aus Aptychenkalk. Lassen wir zunächst einen bekannten Bergpionier des Allgäus, Georg Frey, zu Wort kommen, und man vernehme: „Wie eine vierteilige Flamme schießt der wilde Berg empor, seine Formen sind schlank und aufstrebend wie die Linien eines gotischen Domes.” In ihrer unheimlichsten Gestalt zeigt sie sich von Nordosten, von unserem Wanderweg aus.
Der zackige Ostgipfel mit seiner überhängenden Nordostwand, rechts davon das finstere Rote Loch, „’s Roat Loh”, flankiert von den beiden Gratzacken der Kleinen Höfats und des doppelgipfeligen Seilhenkers. Mit Staunen betrachtet man die aufwärtsstrebenden Steilflanken. Groß und gewaltig, gigantisch und trotzig, wie eine Trutzburg vergangener Zeiten, steht der Berg vor uns. Die Höfats, ein „mahnendes Ungeheuer”. Die „Hoffärtige” wurde aber auch zum Schicksalsberg vieler Menschen. Einmal ist es gerade das Gigantische und Unheimliche, was den kühnen Kletterer buchstäblich verlockt, die Gipfel des Berges zu erklimmen, zum andern aber ist es der Drang nach dem begehrten Edelweiß (Leontopodium alpinum).
Wegen des quarzhaltigen roten Hornsteins (Radiolarit-Radiolarien sind abgestorbene Kieselalgen des Jurameeres), der besonders deutlich am Roten Loch zutage tritt, ist dieser Gebirgsstock wie das Laufbacher-Eck-Gebiet mit einer üppigen Alpenflora ausgestattet. Die Höfats ist ein typischer Allgäuer Grasberg mit einer reichhaltigen Blumenpracht, aber auch der »Edelweißberg« schlechthin. Schön sind sie anzusehen, die Korbblütler mit ihren filzigen, weißen Kelchblättern und den gelblichen Röhrenblüten. Darum zog es manchen jungen Burschen in die schwindelnde Höhe hinauf, um einen möglichst großen Stern, meist noch an exponierter Stelle, zu pflücken; dann war er stolz, wenn er diese edle Blume seinem Schatz überreichen durfte. Leider aber mußten auch viele diesen Ehrgeiz mit ihrem Leben bezahlen.
Nicht selten hieß es: „Dean Sunntag isch schu wiedr a Klimmar vu dr Heafats ragfalle”. Der Initiative der Bergwacht ist es zu verdanken, die vor dem Zweiten Weltkrieg an der Gufel, einer roten Hornsteinhöhle an der Südseite des Berges, einen Zeltposten aufstellte - heute eine Biwakschachtel -, daß die Königin der Alpenblumen vor dem Aussterben bewahrt wurde und viele tödliche Unfälle größtenteils der Vergangenheit angehören. Auch wurde mit dem Edelweiß eine Pseudoromantik, teilweise auf kitschige Art, betrieben! Denn auch am Höfatsstock gibt es Alpenpflanzen, die im Allgäu wesentlich seltener anzutreffen sind als das Edelweiß, beispielsweise das Waisenmädchenhaar, die Alpenhauswurz, die Frühlingsküchenschelle, auch Pelzanemone genannt, und schließlich die noch seltenere, dem Wermut verwandte Edelraute (Artemisia mutellina), eine Beifußart. Zum Schluß dieses Abschnitts sollen freudige Töne erklingen: Für einen echten Bergsteiger, für einen hervorragenden Grasgeher, „fir an güete Gehndar”, wie es bei uns heißt, für einen Touristen, der stets nach oben strebt und das Wahre und Göttliche in luftigen Höhen sucht, kann die Besteigung dieses einmaligen Berges auch zu einem „grandiosen Erlebnis” werden.
Mittlerweile sind wir am Wildenfeldhüttchen, der Oberen Gutenalpe, angelangt und steigen hinab in den Talgrund. In tieferen Lagen blüht der strauchartige Gelbe Enzian (Gentiana lutea), aus dessen Wurzel der bekannte Schnaps, der „Enzionar” gebrannt wird. Im Süden stürzt der Ausfluß des schön gelegenen Eissees als Wasserfall über schwarzbraune Juraschichten ins Tal. Der Eissee verdient seinen Namen mit Recht; oft ist seine Fläche bis zur Mitte des Sommers mit einer Eisschicht bedeckt. Auf der Käseralpe gibt es nicht nur Milch, Butter und Käse, sondern „ou a kerige Radlarmoß”, einen erquickenden Trunk, für einen müden Wanderer.
Wir durchwandern den Alpkessel und gewahren dabei im Nordosten den Rädlergrat (benannt nach seinem Erstersteiger Hermann Rädler im Jahre 1910), der vom Himmelhorn tief in die Talsohle hinabfällt, darunter die wilde Erosionsschlucht des Gaisbachtobels. Die Begehung des Rädlergrates gilt als eine der schwierigsten Grasklettereien weit und breit. Nur dem Kühnsten, der sich in einem so steilen Gelände zurechtfindet, sei es Vorbehalten, sich an diese Route heranzuwagen. Aber auch dieses waghalsige Unternehmen kostete, ähnlich wie auch bei der Höfats, schon viele Todesopfer; darunter waren auch solche, die der Sache nicht gewachsen waren und ihr bergsteigerisches Können überschätzten.
Nach wenigen Kehren stehen wir am Stuibenfall, einem der bekanntesten Wasserfälle unserer Gegend. Unter den finsteren Wänden des Seilhenkers geht es entlang, und wir schreiten durch einen lichten Laubwald, meist aus Ahornbäumen (»Oana«) bestehend. Unter uns tobt und wütet es. Wilde Wasserfälle tosen aus dunklen Schlünden hervor und vereinigen sich mit dem Stuibenbach, dem späteren Oybach. Ein Rauschen, ein Brodeln, die Urgewalt der Natur, ihr Grollen macht sich bemerkbar. Ein gewaltiger Bergsturz, ausgelöst durch eine Lawine, verschüttete hier einen Teil des Tales.
Dieser Naturkatastrophe fiel auch die alte Hofhütte der Gutenalpe 1970 zum Opfer. Hoch oben zur Linken sind die Kluppenköpfe, darunter der zerfurchte Rauhhalstobel zu sehen. Auf einem Gratrücken steht die Höfatsnadel, ein schlanker Turm aus Aptychenkalk. Droben am Rauhen Hals befand sich einst eine Alpe, heute weiden hier noch Schafe. Auf der anderen Talseite, weiter nach Norden zu, zieht sich weit oben unser Weg unterhalb des Lachenkopfes dahin, weiter unten ragt die Laufbacher Kirche als mächtiger Felsdom empor, deren Name, von hier aus betrachtet, voll berechtigt ist. Zur Rechten erblicken wir das Prinzenkreuz, ein längst verrostetes Metallkreuz; es erinnert an die Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg, wo Prinz Luitpold von Bayern des öfteren in der Gegend zur Jagd weilte. Er wurde hier von einem plötzlichen Bergsturz vom Himmelhorn überrascht und konnte sich samt seinem Jagdgefolge mit knapper Not vor einem drohenden Unheil retten.
Nach dem Laufbach und einem längeren Waldstück öffnet sich das Tal. Verglichen mit der wilden Landschaft, die hinter uns liegt, ist diese Gegend fast wie eine liebliche Aue anzusehen. Wir sind mitten im Oytal, in einem der schönsten Täler unserer schönen Heimat gelandet. An der neuen Hofhütte der Gutenalpe vorbei und durch das Mäuerle wandern wir talauswärts. An der rechten Seite ist man beeindruckt vom Anblick einer gewaltigen Steilwand über einer riesigen Schuttreiße, »In den Rinnen« genannt, die sich vom Schochen herabzieht.
Nach Überschreiten des Oybachs, der hier meist ausgetrocknet ist und nur nach der Schneeschmelze oder nach langen Regenfällen Wasser führt, sind wir am gastlichen Oytalhaus angekommen. Jetzt ist eine längere Rast angebracht. Der größte Teil des Oytals liegt fast fünf Monate im Schatten; wenn aber die Sonne höher steigt und ihre wohltuenden Strahlen in das Dunkel leuchten, dann finden ab anfangs März von Oberstdorf aus Stellwagenfahrten statt, damit unsere Gäste sich des kurzen aber einmaligen Genusses erfreuen können.
Wir haben reichlich gespeist und uns an erfrischenden Getränken gelabt; nun schauen wir taleinwärts zur markanten Wildengruppe mit den inzwischen sichtbar gewordenen Felszacken der beiden Höllhörner, wir blicken hinauf zu den „berüchtigten Seewänden”, welche wir müde Alpinisten nun „beruhigt” von unten aus betrachten. Fast wie eine geschlossene Mauer steigen ihre grauen Felsen aus dem Talgrund empor, dazwischen das saftige Grün schmaler, überaus steiler Grasflanken, wild, schaurig und doch schön. Unterbrochen werden die Wände von einer senkrechten Felsenschlucht, die wie der Oybach fast immer trocken ist, nur ein armseliges Rinnsal ist gelegentlich zu erkennen. Im Frühjahr aber stürzt der Seebach in mehreren Kaskaden durch den Tobel und bildet im unteren Teil einen schäumenden Staubbachfall, der mit seinem Getöse das ganze Tal erschüttert.
In dieser Zeit ist fast das ganze Gelände übersät mit einer goldgelben Blumenpracht; es sind die Blüten der wohlriechenden Bergaurikeln, der »Milpatenga«, eine köstliche Augenweide für den Beschauer. Das Ganze: ein imposantes Naturschauspiel. Unsere Gedanken schweifen hinauf in die Höhe zum Seealpsee; ein schlichtes Lied in Oberstdorfer Mundart bringt die ganze Stimmung zum Ausdruck:
Am Sealpsea do drom i gean do schtoht a Hittle vu der Wealt so fern dös isch a Plätzle so friedlich schtill wenn i mit’m Herrgott uimol schwätze wil. |
Dr Adlar kreist und s ’ Murmele pfifft dr Gemsbock äugt in d’ Seawänd ning dr Jägar kut us ’m Seawold rüs und lüeget na uf dös Oytalhüs. |
Auf geht’s zur letzten Etappe nach Oberstdorf. Wir durchschreiten eine längere Ahornallee, an deren Ende eine Hirtenhütte steht. Hier weidet das Oberstdorfer Jungvieh vor dem Alptrieb in die Galtalpen, aber auch nach dem Viehscheid für kurze Zeit. Nach Passieren des »Hennetobels« stehen wir vor dem stattlichen Oytalkreuz. Hoch darüber, unterhalb des bewaldeten Vorderen Riffenkopfes, »dm Riafeköpfle«, breiten sich die Grasmähder von »Plattnars Gindle« aus, wo heute noch teilweise Bergbauern ihre Arbeit verrichten.
Zur Linken des Ochsengerntobels, einer gewaltigen Schuttrinne, erhebt sich die senkrechte Adlerwand über dem Tal, wo gelegentlich noch Adler horsten. Über ihr das Vögelesgern, »Vegelesgeare«, auch einst »a Berghoibat«. Wir vernehmen das Rauschen eines Gebirgsbaches. Der Oybach tritt in reichlicher Wasserfülle aus der Versickerung hervor. Man kann von hier auf dem kurzweiligen Dr.-Hohenadl-Weg durch die Oybachanlagen nach Oberstdorf gelangen. Wie wohltuend ist an heißen Sommertagen die Kühle des nahen Baches mit seinen kleinen Wasserfällen und gischtbildenden Gumpen, er sprudelt und gurgelt, bis er unweit von Gruben in die Trettach mündet.
Beenden wir die Tour an einem schönen Herbsttag, wenn die Oybachschlucht bereits im Dunkel liegt und die Bäume mit Rauhreif bedeckt sind; ziehen wir es vor, die Fahrstraße zu benützen. Nach einem längeren schattigen Waldstück umfängt uns wieder milder Sonnenschein. Wir stehen am Ochsenhof mit der Hirtenhütte für Gassenkühe. Hier ändert der Weg seine Richtung und biegt nach Norden ab. Drüben über dem Tal das sanfte Moorweihergebiet.
Wir sind fast am Ende einer großen Bergtour angelangt. Was liegt hinter uns. Den langen Weg vom Nebelhorn über den »Allgäuer Himmelssteg« ins Oytal haben wir begangen. Welch herrliche Eindrücke haben sich ergeben, wieviel Interessantes haben wir erlebt: veränderte Landschaftsbilder, Totes und Lebendiges, Gigantisches und Idyllisches, Schauriges und Schönes, zum Teil nebeneinander Deshalb blicken wir noch einmal zurück ms Tal, bevor wir über den Kühberg unser liebes Heimatdorf erreichen. Vor uns eine großartige Naturstimmung.
Am eindrucksvollsten ist diese Stimmung gerade an einem Spätnachmittag im Herbst. Unter uns plätschern der Oybach und die Trettach, im Südosten »Riafeköpfle« schwarze Fichten, dazwischen eine goldgelbe Farbenpracht, darunter das Oytal schon tief im Schatten liegend, der bereits weit in die Höhen hinaufreicht vor uns die weiße Adlerwand, leicht in Dämmerlicht gehüllt darüber ein lichtes Kiefernwäldchen, lieblich anzusehen mit seinen hellgrünen Zweigen und den roten Stämmen.
Hinten aber ragen die Gipfel des Schochen und des Schneck wie ungeheure Riesen mächtig über den dunklen Talgrund empor, eingetaucht in den Strahlenkranz einer wonniglichen Herbstsonne, ein faszinierendes Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, eine Alpensinfonie. Mit einer Coda in wohltönenden harmonischen Dur-Melodien klingt sie aus:
Über der Finsternis leuchtet es hell, über dem Abgrund, über der Tiefe erstrahlt ein Licht, das Licht göttlicher Allmacht, hinauf zu höheren Sphären, hinein in einen neuen Frühling. |
Dieser Allmacht sind wir Dank schuldig; darum gilt unser letzter Blick einem einfachen Feldkreuz unterhalb des Ochsenhofes, einem Kruzifix, geziert mit einem schlichten Herrgott, einem Symbol des Glaubens und des Trostes und einem Zechen worin einem verzweifelten Menschen, der oft am Rande des Abgrunds steht, aus der Tiefe heraus das Licht einer neuen Hoffnung erstrahlt. Daher schließe ich meine Schilderung über ein grandioses Erlebnis mit einem schlichten Wort:
Im Kreuz ist Heil - im Kreuz ist Leben - im Kreuz ist Hoffnung |
Schrifttum:
Max Förderreuther: Die Allgäuer Alpen, 1907
Walter Pause: Berg Heil - Die Schönsten Bergwanderungen in den Alpen. 1960
Franz Müller und Udo Scholz: Ehe denn die Berge wurden, 1965
Ernst Zettler und Heinz Groth: Alpenvereinsführer "Die Allgäuer Alpen" neueste Ausgabe 1993