Der Schwarzmilzferner - Historische Dokumente über den einzigen Gletscher der Allgäuer Alpen

von Joachim Schug am 01.12.1996

Einleitung

Jeden Sommer wandern Tausende von Bergsteigern auf dem Heilbronner Weg zwischen Rappensee- und Kemptner Hütte an der Südflanke der Mädelegabel über einen Schneefleck. Nur die wenigsten wissen wohl, daß dieser nur gerade 8 Hektar große perennierende Schneefleck der einzige Gletscher der Allgäuer Alpen ist und - da auf dem Gebiet der Tiroler Gemeinde Holzgau gelegen - sogar im österreichischen Gletscherkataster aufgenommen wurde!

Mitte der 80er Jahre haben drei junge Oberallgäuer Studenten diesen doch etwas kuriosen Ferner wissenschaftlich untersucht. Die wichtigsten Ergebnisse dieser in zwei Diplom- und einer Studienarbeit publizierten Untersuchungen werden nachfolgend kurz dargestellt. Vor allem aber soll hier anhand historischen Karten-, Foto- und Textmaterials der eindrucksvolle Rückgang des Schwarzmilzferners in den letzten 100 Jahren dokumentiert werden.

Wissenschaftliche Untersuchungen

In den Jahren 1981 bis 1985 führte Joachim Schug im Rahmen seiner Diplomarbeit am Institut für Meteorologie und Geophysik der Universität Innsbruck am Ferner glaziologisch-meteorologische Untersuchungen durch. Jeweils im Mai wurde durch einen Schneeschacht in der Mitte des Gletschers die Winterakkumulation (winterlicher Schneezutrag) bestimmt. Die sommerliche Ablation (Schneeschmelze) wurde durch einfache Pegelablesungen und weitere Schneeschächte festgehalten. Zu den Feldarbeiten gehörten auch meteorologische Messungen im Bereich des Ferners und am Waltenberger-Haus. Der gemessene Schneezutrag im Winter sowie das sommerliche Abschmelzen konnten nun mit den Wetterbeobachtungen der Stationen Oberstdorf sowie Säntis in Zusammenhang gebracht werden. So entspricht der Wassergehalt des winterlichen Schneezuwachses fast genau dem doppelten des zur gleichen Zeit in Oberstdorf gemessenen Niederschlags! Das sommerliche Abschmelzen ist proportional der Summe positiver Tagesmitteltemperaturen auf dem nahen und zudem auf gleicher Höhe liegenden Säntis in der Ostschweiz.

Trotz seiner Süd-Exposition verdankt der Gletscher seine Existenz vor allem den reichlichen Winterniederschlägen. Außerdem wirkt die Hochfrottspitze wie ein gigantischer Schneezaun, der bei den sowieso niederschlagsreichen West- und Nordwestlagen einen zusätzlichen Schneezutrag bewirkt. Da sowohl von Oberstdorf als auch vom Säntis seit über 100 Jahren zuverlässige Wetter- und Klimadaten vorliegen, wurde nun die Massenbilanz rückwirkend simuliert. Dabei kam vor allem die große Bedeutung der sonnigen und sehr warmen Spätsommer- und Herbstmonate in den 40er und 50er Jahren zum Vorschein! Ohne Schneefälle oder gar früheres Einschneien ist nämlich die Ablation bei Schönwetter im September wegen der oft schmutzigen Schneeoberfläche besonders stark.

Diese im Computer simulierten Massenbilanzveränderungen wurden von Roland Mader durch Auswertung von historischem Kartenmaterial (ab 1887) sowie von Luftbildaufnahmen (seit 1952) in seiner Diplomarbeit am Lehrstuhl für Kartographie und Geodäsie an der TU München untersucht. Danach betrug der Verlust an Gletscherfläche zwischen 1850 und 1903 etwa 14 ha. Und zwischen 1903 und 1965 sank die Gletscheroberfläche um ganze 31 Meter ein! Nach einer kurzen Erholungsphase zwischen 1975 und 1985 (durch eine Reihe kühler, nasser Sommer) mit Aufhöhung um 11 Meter folgte seither ein weiterer Massenverlust, der den Bestand des kleinen Schwarzmilzferners mittelfristig gefährdet, zumal nach einer im Jahre 1985 durchgeführten geophysikalischen Untersuchung der Ferner nur noch eine Mächtigkeit von etwa 20 bis 30 Metern aufweist. Mittels Geoelektrik fand Christoph Mayr in seiner Studienarbeit an der TU Clausthal zudem heraus, daß der Schwarzmilzferner offenbar stark ausgehöhlt ist.

Historisches Material

Bereits lange vor der eigentlichen touristischen Erschließung der Allgäuer Alpen zeigte Peter Anich in seinem 1774 erschienenen »Atlas Tyrolensis« (Maßstab 1 : 103.000) unterhalb der ,,Hohfrot-Spiz” einen ansehnlichen „Ferner oder Eisgletscher”. Von dem Tiroler Lechtal und dem Schachenbach-Tal sieht man nämlich nur die Hochfrottspitze; der Name Mädelegabel, der auch oft für den aus drei Bergen (Mädelegabel, Hochfrottspitze und Trettachspitze) bestehenden Stock benutzt wird, stammt von der Allgäuer Seite.

Erste schriftliche Erwähnungen finden sich bei Weiss und Johann Staffier: ,, . . . die Hochfrontspitze mit dem Gletscher” und in einer kleinen Veröffentlichung von Johann Stützle über das Gebiet seiner Pfarrei Oberstdorf: „ ... In gewöhnlichen Sommern lastet nämlich eine ungeheure Masse Schnee auf der Mädelegabel - und kein Sterblicher, der nicht in einer grausen Eiskluft sein Leben erbärmlich enden will, wagt über diese Schnee- und Eisfelder hinanzusteigen. Das letzte Mal wurde die Mädelegabel im heissen Sommer 1811, und damals erst Anfang September, zur Hälfte vom neuen Schnee entblösst, und obwohl noch immer gefahrenvoll, dem menschlichen Fusstritte in Etwas zugänglicher gemacht. Diesen seltenen Zeitpunkt benutzte der k. Landgerichtsphysikus, Hr. Dr. Zöhr zu Immenstadt. Seinem edlem Muthe ward aber auch die Belohnung, nicht nur 22 Klüfte in dem Schwarzmilzergletscher zählen und in derselben die Schichten Eis, welche der Gletscher jährlich ansetzt, unterscheiden, sondern sich auch an einer der grossartigsten An- und Fernsichten weiden zu können.”

Als „touristischer” Erstbesteiger der 2.646 m hohen Mädelegabel (Zöhr war anscheinend nur bis zum Gletscher gelangt) gilt Otto Sendtner im Jahre 1852, der in seinem 1864 erschienenen Buch eine detaillierte Beschreibung gibt: „Dieser Rücken [der Mädelegabel] trägt ein großes Schneefeld von 2000 - 5000 Wiener Fuß [ca. 650 bis 1600 m] Breite und 10.000 Wiener Fuß [3250 m] Länge. Dasselbe liegt auf einer nur wenig in Stunde 10 gegen Süden [SSO] geneigten Fläche, in dieser Richtung völlig frei exponiert, von der Sonne, solange sie am Himmel sichtbar, beschienen, rückwärts gegen Nord nur von geringen Gipfelerhebungen um 200 bis 300 Wiener Fuß [65 bis 100 m] überragt”.

Joseph Groß widmet dem Gletscher etliche Seiten, wobei er aber auch wie Sendtner (der ihn fast bis zum Kratzer reichen läßt) die horizontale Ausdehnung überschätzt: „ . . . zieht sich 1 1/2 geogr. Meile lang um den mittleren und den südlichen Gipfel herum gegen Westen bis an den Rappenseekopf”. Offensichtlich lag zu damaligen Zeiten auch im Spätsommer im Umfeld noch reichlich Schnee, der eine Eingrenzung der eigentlichen Gletscheroberfläche erschwerte. Groß schätzt die Tiefe auf 100 bis 200 Wiener Fuß (30 bis 65 m) und „die Spalten des Gletschers sind, so weit man hinabzusehen vermag, sehr tief und sind leider noch nicht gemessen . In einer dieser Spalten verunglückte seinen Angaben zufolge 1854 ein Vermessungsgehilfe aus Innsbruck.

Passend zu dem allgemeinen Gletscher-Höchststand zu jener Zeit ist auch: „ . . . gegen das Lechthale hinab wächst er seit 3 Dezennien, und die Alpe Rossgumpen hat schon manches Joch kulturfähigen Boden verloren”. Dies bestreitet Hermann von Barth, der 1869 insgesamt dreimal den Gletscher betrat: ,,Bäche von Schmelzwasser schossen in drei bis vier Fuss tiefen Eisspalten dahin, um nach kurzem Laufe in dunkle Löcher sich wieder zu verlieren, an anderen Stellen ebenso plötzlich - oft fontäneartig hervorbrechend - wieder ans Tageslicht zu treten.”

Eine weitere wissenschaftliche Fahrt unternimmt im Jahre 1863 Ludwig Molendo, der Sendtner in folgendem widerspricht: „Dieser Gletscher ist mehr auf seiner Westparthie als Gletscherbildung mit zahlreichen Spalten entwickelt; auf der zum Anstieg [zur Mädelegabel] benutzten Ostseite liegt mehr Lawinenschnee: denn so frei wie Sendtner meint, liegt der Ferner nicht, er entsteht eben in rasch verbreitertem Winkel zwischen Süd- und einem Südostzweig des Hauptgeschröffes ...”

Es folgen in den nächsten Jahren einige touristische Beschreibungen durch Arthur von Ruthner und Franz Nibler, bis 1875 der bedeutende Vermesser Anton Waltenberger schreibt: „In den Allgäuer Alpen kann nur die an der Südseite der Mädelegabel befindliche Eisansammlung als Anfang eines Gletschers bezeichnet werden" und später: „Das Firnfeld an der Mädelegabel ist von ziemlich beträchtlicher Ausdehnung und geht in tieferen Lagen in compactes Eis über. Ob man dieser Eisansammlung, deren Ausdehnung man erst von südlich davon gelegenen Höhepunkten ganz übersehen kann, mit dem Namen Gletscher bezeichnen kann, d.h. ob ein Vorrücken desselben, unter Bildung von Moränenschutt stattfindet, betrachten wir noch als offene Frage.”

In der ersten Erfassung aller Gletscher der Ostalpen durch Erhard Richter findet auch der Schwarzmilzferner mit einer Fläche von 24 ha Eingang. Ernst Enzensperger schreibt vom „einzigen Ferner des Allgäus, der sich ohne wesentliche Abflußmengen nach Südosten gegen das Schochtal senkt, und im unteren Teil von prächtigen Miniaturspalten durchzogen ist”. In dem umfassenden Buch von Martin Förderreuther über die Allgäuer Alpen steht: „ ... so kann man an ihm die wesentlichen Merkmale eines echten Gletschers erkennen. Besonders in den Herbstmonaten, von September oft bis in den November hinein, tritt das blanke Eis zutage, und ansehnliche Spalten öffnen sich, namentlich in dem südlichen, stärker geneigten Teile des Ferners. Im heißen Sommer 1911 fanden sich Spalten von 2 m Breite, 10 m Tiefe und 68 m Länge”.

Allerdings blieben die Originalaufzeichnungen des zitierten Oberstudienrates Alexander Schmidt aus Kempten, der „in der kurzen Beobachtungszeit von 1911 bis 1920 ein Anschwellen der Eisdicke um 1 1/2 bis 2 m und ein Abwärtsdringen des Firnfeldes, das ein jährliches Vorrücken im Betrage von 1 1/4 bis 1 1/2 m anzeigte, durch Vermessungen wahrnahm”, unauffindbar.

Aus diesem Zeitraum liegen auch die ersten fotografischen und verläßlichen kartografischen Dokumente vor: Abb. 1 von 1909 mit deutlich konvexer Form und Bezirken mit Blankeis, Alt- und Neuschnee sowie Abb. 2 aus dem Jahre 1917 mit einer hübschen Spalte direkt unterhalb der Mädelegabel. Max Richter warnt im Jahre 1924 noch vor größeren Querspalten, berichtet zudem von einem Gefälle von 20 bis 25 Grad, und daß der Ferner im Jahre 1921 ziemlich zurückgezogen, im Jahre 1923 aber schon wieder im Vorrücken war.

Gletscher - Heft 29

Abb.1

Gletscher - Heft 29

Abb. 2

Gletscher - Heft 29

Abb. 3

In den nachfolgenden Jahren geriet der kleine Schwarzmilzferner aufgrund des drastischen Rückganges in Vergessenheit. Die „letzten” Spalten wurden im Juli 1934 fotografiert (Abb. 3). In der Neuzeit wird entweder die Existenz dieses Gletschers völlig abgestritten oder aber aus alten Arbeiten zitiert. Viktor Paschinger läßt ihn noch als unbedeutenden Eisfleck gelten, und Richter sowie Georg Frey erwähnen den „Rückgang seit 1920 um mehrere Zehner von Metern” und „das deutliche Zutagetreten von Moränenwällen und geschliffenem Gestein”.

Sollte die von den Klimaforschern erwartete weitere Erwärmung in den nächsten Jahrzehnten Realität werden, so dürfte das „Eiszeitrelikt” Schwarzmilzferner wohl gänzlich verschwinden, umso rascher, wenn die Klimaveränderung im Allgäu vor allem mit trockenen Wintern und warmen Spätsommern einhergeht.

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