C. Artikelwörter im Oberstdorfer Dialekt (II)
Im folgenden befassen wir uns mit einem der umstrittensten Kapitel der deutschen Grammatik: mit dem bestimmten Artikel (Definitartikel) und dem hinweisenden »Fürwort« bzw. Artikel (Demonstrativartikel). Schon in der Bezeichnung liegen die Probleme verborgen. Ein Fürwort (Pronomen) steht alleine, steht für ein Hauptwort (Nomen). Ein Artikel ist stets nur ein Begleiter eines Hauptwortes. Im Hochdeutschen sind diese Wörter aber in unserem Fall formgleich (Ausnahme: 3. Fall Mehrzahl), im Oberstdorfer Dialekt gilt dies nur für den hinweisenden Artikel und das hinweisende Fürwort.
Um dies noch verständlicher zu machen, müssen wir die persönlichen Fürwörter (Personalpronomen) betrachten. Im Hochdeutschen stehen sich etwa „er” als persönliches Fürwort und „der” als bestimmtes Fürwort gegenüber.
Ich mag ihn nicht. .------ I mag ’n it.
Den mag ich nicht.------ Dean mag i it.
Aber im Hochdeutschen kann auch „diesen” für „den” stehen:
Diesen/den oder keinen! ----- Dean odr kuin!
Nicht möglich ist im Oberstdorfer Dialekt: „De odr kuin!”
Im Dialekt ist also der bestimmte Artikel nicht als Fürwort verwendbar. Er ist auch nicht betonbar. Im Hochdeutschen ist der bestimmte Artikel als Fürwort verwendbar und betonbar.
Der hinweisende Artikel „dea” gleicht also formmäßig mehr dem hochdeutschen „der”, stimmt aber bedeutungsmäßig mehr mit „dieser” überein. Der Grund dafür ist sehr einfach. Was besonders hervorgehoben werden soll, wird durch Betonung oder Dehnung hervorgehoben. Im Hochdeutschen ist das längere Wort „dieser’ und „der” das kürzere. Im Dialekt ist „dr” kürzer und schwächer gegenüber „dea”.
Es gibt zwar keine 1: 1-Entsprechung, aber es lassen sich doch viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Hochdeutschen und dem Dialekt feststellen:
Ein Beispiel von Martin Hehl (D’ Moral vu dr Gschicht) soll uns das Grundprinzip verdeutlichen:
A Katz ischd ample a’r Müs nocheschbrünge,
dur d’Kuche, i d'Schtube, i’s Gade, uf de Gang üsse,
d’Schdiega na und nüs i de Schopf.
Mit „d’Kuche”, „d’Schtube”, „’s Gade”, „de Gang” etc. werden problemlos die einzelnen Räume bestimmt. Wenn also von vornherein klar ist, wovon / von wem die Rede ist, verwenden wir im Oberstdorfer Dialekt den bestimmten Artikel. Dies gilt genauso fürs Hochdeutsche. Nach unserem gemeinsamen Weltwissen ist klar, daß es in einem Haus / Bauernhof die o.g. Räume gibt.
Zurück zur Geschichte von Martin Hehl! Nachdem wir von einer bestimmten Maus etwas gelesen haben, geht es später so weiter:
Vu dear Müs hobb’a nuiz mea gseache, uss’r’m Schwänzle, des hodd no üsseglüeged os deam Pfladdr. Kurz druf kudd d’Katz bu dr Schdalsdir ring, siechd os deam Küehpfladdr dean Müsschwonz üssegugge, juckt hi, packt dean Schwonz und frissd des arm Misle.
„Vu dear Müs” („Von dieser Maus”), „deam Pfladdr” („diesem Fladen”) verweisen auf eine Maus bzw. einen Fladen, von der/ dem vorher bereits gesprochen wurde. Es heißt zuerst „uss’r’m Schwänzle”, weil jeder weiß, daß eine Maus ein Schwänzchen hat. Danach ist aber von diesem spezifischen Schwänzchen die Rede, und deshalb lesen wir dann, daß die Katze „dean Schwonz" packt und „des arm Misle” frißt. Und zum Schluß schreibt Martin Hehl dann natürlich von der Moral „vu dear Gschicht”, weil es jetzt im Gegensatz zur Überschrift um eine bereits erzählte Geschichte geht.
Im Hochdeutschen ist das im Prinzip nicht anders, nur daß - kontextabhängig - auch der bestimmte Artikel den hinweisenden Artikel ersetzen kann. Auch beim demonstrativen Verweis auf einen bemerkbaren Gegenstand oder eine bemerkbare Person muß im Dialekt der hinweisende Artikel eingesetzt werden. Möglich ist außerdem eine emotional distanzierende Verwendung. Also immer, wenn der Bezug auf den gemeinten Gegenstand / die gemeinte Person sich nicht selbstverständlich aus unserem allgemeinen Wissen ergibt, muß der hinweisende Artikel im Dialekt verwendet werden.
Die wichtigsten Unterschiede zwischen dem Hochdeutschen und dem Oberstdorfer Dialekt sind:
1. Beim Bezug auf etwas mit einem unbestimmten Artikel Eingeführtes kann im Dialekt nicht der bestimmte Artikel stehen.
a Müs - des arm Misle (nicht möglich: ’s Misle)
eine Maus - das / dieses arme Mäuschen
2. Beim abgrenzenden demonstrativen Verweis auf etwas / jemanden in der Situation Vorhandenes / Anwesenden (z. B. durch Zeigen) muß im Dialekt der hinweisende Artikel stehen.
I hett gean des Büech. (Bei mehreren vorhandenen Büchern ist nicht möglich: ’s Büech)
Ich hätte gern das/dieses Buch.
3. Bei einschränkenden Relativsätzen muß im Dialekt der hinweisende Artikel stehen, im Hochdeutschen der bestimmte Artikel.
Dea Ma, dea die amol hiered, ka zfriede sing.
Der Mann, der die einmal heiratet, kann zufrieden sein.
Im Dialekt wird die unterschiedliche Verwendung von bestimmtem Artikel und hinweisendem Artikel also konsequenter beibehalten. Eine Ausnahme zeigt sich im Femininum im Singular und im Plural. Dort ist der Einfluß des Hochdeutschen so stark, daß ,,d'” oft durch ,,die/di(e)” ersetzt wird, ohne daß damit eine Bedeutungsänderung verbunden ist. Noch drei wichtige Hinweise für Hochdeutsche:
,,disa” hat nichts mit „dieser” zu tun, sondern bedeutet soviel wie „der andere” oder „jener”.
„däna/dena” steht für „dieser”, teilweise für „jener”.
„deara” heißt soviel wie „derartig”.
Primär- und Sekundärliteratur:
Hansjörg Bisle-Müller, Artikelwörter im Deutschen: semantische und pragmatische Aspekte ihrer Verwendung. Tübingen (Niemeyer) 1991.
Hansjörg Bisle-Müller, Artikel Wörter im Deutschen: ein Modell für den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache. In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung aus dem Konstanzer SLI, Heft 24/1992: S. 29 - 63.
Anton Gruber, Die Westallgäuer Mundart, 1. Teil: Grammatik und 2. Teil: Wörterbuch, hg. von Manfred Renn.
Heidelberg (Carl Winter) 1989.
Martin Hehl, D'Weaddrdanne. Gedanken und Geschichten in Mundartgedichten. Altusried (Franz Brack) 1993. Damaris Nübling, Klitika im Deutschen: Schriftsprache, Umgangssprache, alemannische Dialekte. Tübingen (Gunter Narr) 1992.
Zwischenruf:
Um zu verhindern, daß einige Oberstdorfer Dialektsprecher und -Schreiber sich an vermeintlichen Grammatiknormen stoßen, sei folgendes angemerkt: Ma schwätzt, wie uim ’s Mül gwachse isch, it wie die Gschtudierte gean hetted.
Was Günter Grass, Martin Walser oder Marcel Reich-Ranicki an Maßstäben für korrektes Hochdeutsch (Schriftdeutsch) setzen, schaffen eine Inge Weissensteiner, ein Hans Seeweg oder ein Martin Hehl für den Oberstdorfer Dialekt. Selbst der gebürtige Oberstdorfer Linguist kann hier nur alles respektvoll anerkennen. Nicht umsonst gilt für die Werke der Dichter die Bezeichnung ,,Primärliteratur” und für die der Interpreten die Bezeichnung „Sekundärliteratur”.
Oder anders ausgedrückt: Der Grammatiker ist immer der Depp! Wenn der Dialektsprecher nicht so spricht oder schreibt, wie der Grammatiker behauptet, dann muß der Grammatiker seine Behauptungen ändern, nicht der Dialektsprecher seine Sprache. Spricht jedoch ein Dialektsprecher anders als die meisten anderen Dialektsprecher, dann muß er selbst wissen, ob er sich anpassen will oder stolz auf seiner Eigenart beharrt. Dichter sollten hier sowieso über den Dingen stehen!