Das neue Friedhofsgebäude bei der Einweihung 1929.
Oberstdorfs Bevölkerungszahl hat sich von 1875 bis zum Jahre 1920 mehr als verdoppelt. Mit der Zahl der Bewohner wuchs naturgemäß auch die Zahl derer, die diese Welt verließen; auf dem Kirchhof an der katholischen Pfarrkirche wurde es eng. Ja, der Friedhof bei der Kirche barg aber auch noch ein anderes Problem in sich. Er war über Jahrhunderte nur Beerdigungsstätte für Katholiken gewesen und stand im Eigentum der Kirche. Es hat da nie Schwierigkeiten gegeben, denn Oberstdorf war eine rein katholische Gemeinde bis etwa zum „großen Brand” von 1865. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als mehr Gäste Oberstdorf besuchten bzw. sich diesen Ort als Alterssitz aussuchten, stellte sich für die Gemeinde die Frage, wohin mit den sterblichen Überresten von Andersgläubigen?
Schon im Jahre 1867 war die Gemeinde von der Regierung zur Vergrößerung bzw. Verlegung des Friedhofes aufgefordert worden. Weil alle Vorschläge an Einsprüchen von Bevölkerungsteilen scheiterten, wurde zwar der alte Zustand belassen, die Anlage eines neuen Friedhofes aber zum kommunalpolitischen Dauerbrenner. Gemeinde und Kirche schlossen letztlich einen Kompromiß: Die katholische Kirchenverwaltung stimmte der Beerdigung von Nichtkatholiken auf ihrem Friedhof zu, und die Gemeinde wiederum beteiligte sich künftig an den Kosten für den Kirchturmunterhalt. Die Gemeinden waren ja vom Gesetz her verpflichtet, eine öffentliche Uhr (in fast allen Fällen war es die Kirchturmuhr) vorzuhalten, denn es besaßen ja lange nicht alle Einwohner eine eigene Uhr, und eine Taschenuhr war schon Zeugnis eines gewissen Wohlstandes.
Zwischen 1892 und 1919 wurde das Friedhofsproblem mehrmals in den politischen und kirchlichen Gremien des Ortes behandelt. Eine Erweiterung des bestehenden „Gottesackers” wäre nur nach Süden, unter Einbeziehung des Lindenackers, möglich gewesen. Weitsichtige Bürger sahen aber auf diesem Areal bereits das künftige Kurhaus stehen. Als Standort eines möglichen Friedhofes wurde die Fläche südlich der Lorettokapellen ins Auge gefaßt. Am Schelmenhag, südlich der Weberei oder nördlich der Weberei (der heutige Standort) waren weitere Vorschläge. Eine zusätzliche Variante bildete das sog. Inselgrundstück zwischen Trettach und Werkskanal, der Bereich der heutigen Hermann-von-Barth- Straße.
Im Rahmen der neuen Kommunalaufsicht (1919) griffen die Vorgesetzten Behörden jetzt etwas energischer ein und drängten den Markt zu einer Entscheidung. Ein Teil der Bevölkerung wollte den alten Zustand beibehalten. Andere drängten zur Verwirklichung ihrer Vorschläge. Der Gemeinderat geriet in die Zwickmühle. Letztendlich sollte die Meinung eines Fachmannes bei der Lösung des Problemes helfen. Geheimrat Professor Dr. Grässel aus München hielt 1924 im Gasthof »Hirsch« einen Vortrag über die Möglichkeit der Anlage eines Waldfriedhofes.
Jetzt war die Diskussion neu angeheizt. Weitab von der Kirche, bei Loretto, oder neben dem Flußbett der Trettach - und evtl, gar neben dem Schuttplatz - sollten künftig die Toten ruhen? Das kann nicht sein! Bisher konnte man nach dem sonntäglichen Gottesdienst die Gräber der Angehörigen besuchen, das sollte nun vorbei sein? Zum Begießen der Blumen auf den Gräbern sollte man künftig, je nach Lage der Wohnung, im Ort eine Stunde unterwegs sein? Es fehlte nicht an Argumenten gegen jeden neuen Vorschlag
Der alte Gemeinderat hatte das Problem für sich letztlich mit „Aussitzen” gelöst. In seiner ersten Sitzung am 25. Januar 1925 packte der neue Gemeinderat den Stier schließlich bei den Hörnern. Für die Neuanlage des Friedhofes stimmten alle Mitglieder. Zur Standortfrage verteilten sich die Stimmen wie folgt: Loretto keine Stimme, südlich der Weberei (heutiges Altenheimgelände) sechs und nördlich der Weberei zehn Stimmen. Damit - so glaubte man - seien die Weichen für eine neue Begräbnisstätte gestellt.
Professor Grässel wurde mit der Ausarbeitung eines Projektes samt Kostenaufstellung beauftragt. Mit der Ortsgemeinde wurden Grundstücksverhandlungen geführt. Aber die Gegner der Nordvariante gaben sich noch nicht geschlagen. Eine Abordnung von ihnen führte mit dem Gemeinderat und Vertretern des Bezirksamtes (heute Landratsamt) im Oberstdorfer Rathaus ein Gespräch, als dessen Folge am 21. Mai 1925 in Oberstdorf eine Volksabstimmung erfolgte. Hier tendierte dann bei nur 37 % Wahlbeteiligung eine klare Mehrheit für einen Standort nördlich der Weberei.
Nachdem der Standort geklärt war, ging es wie immer um das liebe Geld. Der von Prof. Grässel vorgelegte Plan fand zwar großen Gefallen, doch war die Sache zu teuer. Darauf wurden örtliche Architekten und Baumeister zur Einreichung von Vorschlägen aufgefordert. Der Gemeinderat favorisierte den Entwurf von Architekt Benedikt Beggl und legte diesen den staatlichen Behörden zur Genehmigung vor. Die Baubehörden verweigerten zu den Plänen ihre Zustimmung und empfahlen eine vereinfachte Lösung nach den Plänen von Prof. Grässel. Der Gemeinderat reichte den »Schwarzen Peter« weiter und vergab den Auftrag an diesen Fachmann unter der Bedingung, daß die Gesamtkosten die Summe von 100.000 Reichsmark nicht übersteigen dürften. Am 13. Juli 1927 segnete der Gemeinderat die „geschrumpfte” Planung ab und vergab alsbald die Arbeiten.
Die letzte Beerdigung auf dem alten Kirchhof erfolgte am 14. Juni 1929. Rosa Köcheler wurde da noch zu Grabe getragen. Am Sonntag, dem 16. Juni 1929, erfolgte die Weihe des Oberstdorfer Waldfriedhofes, der wohl als eine der schönsten Beerdigungsstätten des Allgäus gilt.