Auf der Ortsansicht aus dem Jahr 1785 steht die Kapelle am rechten Bildrand.
Kriegsfolgen, Epidemien, Wetterkatastrophen, Ernteausfälle – diesen Ereignissen stand die Bevölkerung in früheren Jahrhunderten meist hilflos gegenüber. Den einzigen Ausweg sah man dann oft in der Bitte um himmlische Hilfe in der Not. So gab es für allerlei Misslichkeiten aber auch Berufe spezielle Nothelfer bzw. Schutzheilige, die im Gebet angerufen wurden. Praktisch war es, wenn man mehrere dieser Heilsbringer, an einem Ort vereint, um Hilfe bitten konnte; so wie einst in Oberstdorf in der 14 Nothelferkapelle, die beim großen Brand am 5./6. Mai 1865 nahezu vernichtet wurde.
Die Außenansicht der Kapelle
Nach Norden war das Schiff ohne Fenster, um dem „Totentanz” des Füssener Malers Gabriel Neckher an der Innenseite genug Raum zu geben. Im Chorraum und an der Südseite waren Fenster, ebenso kleinere nach Westen. 1836 wurde über der nach Westen gerichteten Kapellentür ein „Flügeldach” angebracht. Ein Zwiebeltürmchen trug zwei Glocken und eine Sonnenuhr auf der südlichen Türmchenseite vervollständigte die Außenansicht. Einen Eingang vom Süden, wie in der Zeichnung von F. A. Schratt sichtbar, gab es nicht. Es könnte hier ein Grabstein oder großer Feldstein gestanden haben.
Die Erbauung
Die große, treibende Kraft zum Bau der Kapelle kam vom Dekan, Magister und Oberstdorfer Pfarrer (1615 – 1641) Johannes Frey. Im Jahr 1638, also nach dem großen Sterben und dem Elend, wurde sie erbaut. 1639 erhielt Frey aus Augsburg die Erlaubnis zum Messelesen. Wegen der damals unruhigen Zeiten konnte der Bischof die Kapelle jedoch nicht weihen. So musste mit einem „Tragaltar” die Messe gefeiert werden (Quelle: Ordinariats-Archiv Augsburg).
Der Ursprungsgedanke zum Neubau im Jahr 1638
Keine Frage, der Auslöser war das große Sterben bei der Pest in den Jahren 1634 und 1635. Man muss sich vor Augen halten, dass Pfarrer Frey über 790 Pesttote begraben lassen musste; mehr als zwei Drittel des Dorfes lebten im Dezember 1635 nicht mehr. Fein säuberlich hat er sie alle im alten Sterbebuch vermerkt.
Das örtliche Gefüge brach auseinander und ganze Familienverbände und Sippen sind ausgestorben. Die Namen dieser Familien gibt es heute nicht mehr. Der Gerichtsammann, der Pfarrhauptmann, der Lehrer und die Viertelsmeister waren nicht mehr da. An manchen Tagen im Sommer 1635 starben zwischen 15 und 25 Personen. Auch die Familie Frey wurde auf ein Minimum dezimiert.
Seuchen und Pestepidemien gab es auch schon vorher, so z. B. 1629; die Dimension der Pest von 1634/1635 war aber einmalig in ihrem Ausmaß und blieb es Gott sei Dank auch.
Unbestritten ist, dass das kleine Gotteshaus ursprünglich als Pestkapelle erbaut worden ist. Eine ganze Reihe von Zeugnissen sollen belegen, dass an diesem Ort ein großer Teil der Oberstdorfer Pesttoten begraben wurde.
I. In der „Allgäuer Chronik” (Bd. II, S. 239) schreibt Dr. Alfred Weitnauer, dass der Maler Gabriel Neckher, der von Kempten nach Füssen übersiedelte, 1640 für die Oberstdorfer „Friedhofskapelle” einen großen Totentanz gemalt habe.
II. In der Pestkapelle zu Rettenberg ist noch die bischöfliche Verordnung zur Anlage von Pestfriedhöfen erhalten. Darin heisst es, dass die neuen Seuchenfriedhöfe, möglichst in Nordost-Richtung, außerhalb der Orte liegen sollen. Dies wäre wegen der Seuchengefahr aus dem Boden, aber auch wegen der Windrichtung notwendig.
III. Der alte Oberstdorfer Friedhof an der Pfarrkirche war für ein Massengrab zu klein und man kannte auch die Gefahr der Infektion. Bis 1687 war unser alter Friedhof ja noch wesentlich kleiner. Wenn, angenommen, die ersten 80 bis 100 Pesttoten noch im alten Friedhof liegen und vermutlich 75 bis 80 östlich vom roten Kreuz im vorderen Ösch, dann gab es, nach meiner Meinung, noch über 600 Seuchenopfer.
IV. Die Klausenkapelle scheidet wegen ihrer Lage aus, da niemand auf die Idee kam, am einzigen Ortsein- bzw. ausgang einen Pestfriedhof anzulegen.
V. Einer Bebauung im Nordosten in den Jahren nach 1650 gingen die Oberstdorfer aus dem Weg, bis zum Bahnbau im Jahr 1888.
Auch Prof. Werner Grundmann kommt (in GdMO, Bd. III, S. 273) zu der Überzeugung, dass dies die eigentliche Pestkapelle gewesen ist. Die heutige Pestkapelle in der Weststraße stand damals noch gar nicht und wurde erst um 1682 als Bildstock „Mutter vom guten Rat” errichtet. Diese Namengebung erhielt sie wegen eines schönen Marienbildes, welches heute in der Pfarrkirche hängt.
Die Baufinanzierung
Als Geldgeber kann Pfarrer Johannes Frey angenommen werden, ebenso seine Anverwandten, die auch vermögend waren. Aber mehr Auskunft dazu gibt uns die Chronik von Joseph Ignaz Math über die Stifter der Kapelle. Er schreibt in seinem Büchlein vom Jahr 1834 (S. 39 ff):
„1836 im October hat man durch guettäter die sogenannt 14-Nothelferkapel verbauen und ein neues Fenster im Chor angeweißlet die gemäldt und die altär mit Firnis verbessert durch den Zimmermann den Boden und ein grosses Fligeldach [Anm.: vermutlich über der Eingangstür] und anderes mehr gemacht. Wie lang die Kapele steht find man kein Jahreszahl als im Hochaltarblatt 1638. Also ist an dieser Zeit vermutlich diese Kirche gebauet worden. Die Stifter zu dieser Kapel sein mit abconterfeit [abgebildet] 14 ein jeder mit Namen und vorher an der borkirchenlinie [Emporenbrüstung] aufwendig verzeichnet.”
Da werden die Frey und Schwegerlin, die Weber und die Jeger usw. bestimmt dabei gewesen sein.
Das Innere der Kapelle
Wie aus dem Grundriss ersichtlich, lag der Eingang im Westen. Ein Hochaltar, mit der Jahreszahl 1638, stand im Chorraum sowie zwei Seitenaltäre links und rechts im Chorraum. Die fensterlose Nordwand wurde, wie schon erwähnt, mit den Totentanzzyklus des Gabriel Neckher ausgefüllt. Auf 21 Bildern wurden alle Stände beschrieben und ermahnt, immer an das Ende des Lebens zu denken. Im Bild Nr. 19, in der untersten Reihe das drittletzte nach rechts, ist erstmals eine „Hexe” abgebildet. Wegen dieses Hexenbildes sprach der Volksmund nun von der „Hexenkapelle”. Eine Empore war ebenfalls vorhanden, da J. I. Math in seinen Bericht über die Renovierung 1836 eine „borkirchenlinie” erwähnt.
Der alte Choraltar von 1515 kam bekanntlich 1848 in das Bayerische Nationalmuseum und steht heute im Marstallhaus in Kempten.
Bei der großen Kirchenrenovierung der Pfarrkirche Johannes Baptist im Jahr 1699 muss auch ein neuer Hochaltar gesetzt worden sein (Pezet, S. 617). Dabei ist vermutlich der alte Choraltar von 1515 aus der 14 Nothelferkapelle in die Pfarrkirche verbracht worden. Dieser wurde dann 1848 an das Bayerische Nationalmuseum in München verkauft (Notiz Wilhelm Math, 1960). Wenig wurde von Zeitzeugen über diesen Choraltar aufgezeichnet, lediglich dass er die 14 Nothelfer zeige und die Jahreszahl 1638 trägt.
Die besten und wichtigsten Beschreibungen über das Innenleben der Kapelle aber findet man bei
Pfarrer Johann Nepomuk Stützle von 1848, Pfarrer Franz Borgias Heller von 1855 und selbstverständlich von Dr. Michael Pezet von 1964 (S. 628/629). Als erstes möchte ich Pfr. Stützle im Original (Faksimile-Nachdruck, S. 13) zitieren:
Sein Nachfolger, Pfr. Heller, schrieb:
„Die kapelle zu den 14- Nothelfern vom volke wegen des in denselben sich befindenden sogen. todentanzes (gemalt von Gabriel necker 1640 ohne künstlerischen Werth) auch hexenkapelle genannt, schliesst in sich 2 altäre, flügelaltäre von künstlerische werthe. der altar rechts zeigt im aufsatzkasten mit sehr gut erhaltenem goldgrund die geschnitzten bilder der St. Maria, Katharina und Barbara mit der Unterschrift.
A Maria
hoc opus completum 1497 per me K. Schiegg [Jacob Schick] im Kempten. unter diesem befinden sich die bilder der abendländischen Kirchenväter von vorzügl. Meisterschaft in der ausführung der köpfe. die flügel tragen im gemälde die hl. agatha mayor, dorothea und Ursula. der altar der linken seite zeigt in holz geschnitzt die abnahme christi vom Kreuze in einer schönen Gruppe Maria, veronika, magdalena und nikodemus. eine figur fehlt und scheint entwendet zu sein [Anm.: Josef von Arimathäa]. die flügel tragen die flach geschnitzten bilder des hl. christoph und bernhard. unter dem altarschrank die 4 evangelisten von derselben arbeit. ausserdem sind noch 6 apostel im brustbild gleichfalls wie obige geschnitzt vorhanden, welche einer restauration bedürftig und würdig wären sollen nach einigen aus kempten nach anderen aus Hindelang hierher gebracht worden sein. sicherer aber dürften sie die nebenaltäre der [Anm. Oberstdorfer] Pfarrkirche sein. da die figuren, welche sie tragen in den consecr. [Anm.: consecrierten = geweihten] Briefen der Pfarrkirche vom Juni 18 1419, als welchem diese Altäre gewidmet seien genannt sind.”
Die oben abgebildeten 14 Nothelfer:
Die Nothelfer und Schutzheiligen von links oben nach rechts unten:
1. Achatius: Helfer in der Todesangst;
2. Blasius: Helfer bei Pest, Halsleiden und Geschwüren, Beschützer des Viehs;
3. Barbara: Patronin der Sterbenden, Helferin gegen Blitz- und Feuersgefahr, Schutzpatronin der Bergleute, Artilleristen, Feuerwehrleute und vieler weiterer Berufe;
4. Katharina: Beschützerin der Frauen, Patronin der Gelehrten und zahlreicher Handwerksberufe;
5. Margareta: Patronin der Gebärenden und Helferin bei allen Wunden;
6. Georg: Helfer bei Kriegsgefahren, Fieber, Pest und für gutes Wetter, Beschützer der Haustiere;
7. Vitus: Helfer bei Geisteskrankheiten;
8. Pantaleon: Patron der Ärzte und Hebammen;
9. Ägidius: Helfer bei der Beichte und der stillenden Mütter;
10. Dionysius: Helfer bei Kopfschmerzen, Tollwut, Gewissensnöten und Seelenleiden;
11. Eustachius: Helfer bei schwierigen Lebenslagen und Trauerfällen, Schutzheiliger der Jäger;
12. Erasmus: Helfer bei Leibschmerzen, Krämpfen und Koliken, bei Geburten und Krankheiten von Haustieren;
13. Christophorus: Christusträger, Schutzheiliger der Reisenden, Rettung aus jeglicher Gefahr, Helfer bei Hungersnot, Zahnschmerzen, Pest, Unwettern und Hagelstürmen, Schutzpatron aller Verkehrsteilnehmer;
14. Cyriacus: Helfer in der Todesstunde gegen Anfechtungen.
Dass diese Seitenaltäre aus Kempten stammen sollen und während der Reformation dort entfernt wurden, halte ich für unwahrscheinlich, denn dann wären diese ja mehr als 120 Jahre irgendwo verborgen gestanden. Dass damals die Lutheraner oder gar die Zwinglianer an Katholiken etwas verkauft oder verschenkt hätten, ist nicht vorstellbar. Viel eher besteht die Möglichkeit, dass sie doch aus Hindelang stammen. 1637 erhielt der aus Ottobeuren nach Oberstdorf zugewanderte Bildhauer Hans Scham von den Hindelangern den Auftrag, einen neuen Hochaltar zu schnitzen (Pezet, S. 350). Durch die Vermittlung des Künstlers sind vermutlich diese Altäre nach Oberstdorf in die neue Kapelle gelangt. Auch der Hindelanger Pfarrer Franz-Josef Wankmiller (* 1778 - † 1850) schreibt 1829 von der Verbringung der Altäre nach Oberstdorf (Pezet, S. 629).
Pfarrer Heller vermutet sogar, dass die Altäre aus der Oberstdorfer Pfarrkirche stammen und bezieht sich auf die Einweihungsurkunde vom 18. Juni 1419 (s. Beschreibung v. 1855). Nachdem Stützle und Heller die Seitenaltäre künstlerisch gegensätzlich einordnen – was aber nach dem Brand von 1865 nicht mehr so wichtig ist –, nennen wir den einen Marienaltar und den anderen Kreuzaltar.
Vom Marienaltar liegen uns noch zwei Zeichnungen vor, die sich aber in Einzelheiten nicht gleichen. Die Abbildung links wurde gefertigt von dem Reiseschriftsteller Joseph Buck um 1856, also noch vor dem Brand. Die Abbildung rechts stammt von F. A. Schratt, nach Angaben von Zeitzeugen.
Der Figuren-Seitenaltar, etwa um 1497 für die Hindelanger Pfarrkirche geschaffen (Pezet), stellte die Kreuzabnahme Jesu dar mit Veronika mit dem Schweißtuch, Maria, Magdalena und Nikodemus. Die Figur des Josef von Arimathäa (links) wurde 1854 entwendet und kam nach München. Dieser Altar ist 1640 aus Hindelang übernommen worden. Beide Altäre wurden beim Brand von 1865 ein Raub der Flammen.
Das Geläut im Zwiebelturm bildeten zwei Glocken, gegossen 1641 und 1648 (Wilhelm Math).
Lesung von Messen um 1860
Der damalige Pfarrer, Franz Borgias Heller, vermerkt, dass in der 14 Nothelferkapelle jeden Samstag, eine Stunde vor dem Pfarrgottesdienst, eine hl. Messe gelesen wird, wenn hierzu Intention (Anlass) gegeben ist. An Werktagen ist die Pfarrmesse um 7 Uhr und im Winter um 8 Uhr morgens. Das heißt, dass in der Kapelle am Samstag um 6 Uhr und im Winter um 7 Uhr Messe gehalten wurde.
Das Ende der Geschichte
Nach dem großen Brand vom 5./6. Mai 1865 wurde noch im gleichen Monat ein Notdach auf die Kapelle gesetzt. Das Gebäude wurde nun als Notschulhaus genutzt, bis zur Fertigstellung der neuen Schule im Rathaus bei der Pfarrkirche. Pläne für einen Neubau der Kapelle an gleicher Stelle oder an der Südwestecke des alten Friedhofs wurden nicht verwirklicht. Schlussendlich wurde mit der Brandversicherungssumme die Klausenkapelle 1867/1868 um ein Drittel erhöht und der Mittelturm an die Westecke versetzt (Pezet, S. 627).
Nachdem die neue Schule fertiggestellt war, diente die Kapelle als Feuerwehr-Requisiten-Remise (GdMO, Bd. IV, S. 208). Als 1888 der Eisenbahnbau Oberstdorf erreicht hatte, wurde sie vollkommen abgerissen, um die Zufahrt vom Dorf zum neuen Bahnhof zu ermöglichen.