Im Mittelpunkt des Ortes, auf dem Marktplatz, einen Brunnen plätschern zu lassen, ist ein schöner Brauch, an den sich der Oberstdorfer Gemeinderat bei der Neugestaltung des Marktplatzes 1985 erinnerte.
Während ansonsten bei solchen Wasserspielen gern Aufwand getrieben und geprotzt wird („Ach! der Menge gefällt, was auf dem Marktplatz taugt”, möchte man beim Anblick mancher Kreation mit Hölderlin seufzen), entschied sich der Oberstdorfer Gemeinderat unter den vielen in einem Wettbewerb eingereichten Vorschlägen für den schlichtesten und zurückhaltendsten.
Daß aber in diesem Entwurf doch einiges zum Sinnieren steckt, soll im folgenden erläutert werden.
Für die Gestaltung des Brunnens griff der Architekt Sepp Noichl althergebrachte Formen auf: Die Säule erinnert an die hölzernen Tränkebrunnen der früheren Oberstdorfer Nachbarschaften, der Trog an den alten Marienbrunnen bei den Lo- rettokapellen. „A jeda Schüelarbue het ‘s besser kinne”, meinte zwar ein etwas oberflächlicher Kritiker, kaum daß der Brunnen stand. Ob dieser dann allerdings, wie bisher, zehn Jahre bei Eis und Schnee seinen Dienst getan hätte, ist doch fraglich. Er hat alle Winter überstanden, ohne einzufrieren und überzulaufen. Leider gibt es immer noch Zeitgenossen, die ihren Abfall, ihre Dosen und Tüten in den Brunnen werfen. Dagegen ist auch mit der besten Technik nichts zu machen.
Nun zur Symbolik: Die sechseckige Form des Granit-Troges ist kein Zufall. Zwischen dem Wasser und diesem Sechseck gibt es einen engen Zusammenhang. Sind doch im Wassermolekül (H20) die beiden Wasserstoffatome im 120-Grad- Winkel an das Sauerstoffatom angelagert. Davon konnten die Menschen früher nichts wissen, oder hat ihnen das sechseckige Schneekristall etwas verraten?
Man stößt auf weitere Zusammenhänge: Hört man im sechsschlägigen griechischen Hexameter nicht den Wellenschlag des Meeres?
„Jetzo erhob sich der Brunnen des strahlenden Gottes,
schön zu sprechen das Wort des für immer Gebor’nen:
Rede um Rede entsprang dem schön geglätteten Becken.”
In der Astrologie stehen unter den Aspekten, den Winkelbeziehungen der Planeten, der Sechseckwinkel, das Sextil, und der Dreieckswinkel, das Trigon, für weichen, entspannten, sozusagen wäßrigen Energiefluß. Esoterische Tüftelei, mag hier der eine oder andere einwerfen. Aber solche Zahlenmystik hat sehr praktische Wirkungen und fließt ins Leben ein, zum Beispiel in der Architektur. Von der Wirkung eines sechseckigen oder runden Raumes im Gegensatz zu einem viereckigen wird auch der stumpfeste Stoffel nicht unberührt bleiben. Von der Musik - Rhythmen und Intervalle sind ja klingende Zahlen - einmal ganz zu schweigen.
Man kann natürlich alles auf das Praktisch-Materielle reduzieren. Aber schöner ist die Welt doch, wenn man, um mit Hermann Hesse zu reden, auf ihre Glasperlenspiele aufmerksam wurde. Auf jene Grundprinzipien also, die sich in geheimnisvoller Weise quer durch die Schöpfung ziehen. Manchmal sogar bis in den Schlaf hinein:
Stein muß sein
Wasser rinnet - neu beginnet
Feuer treibet in der Luft
Wind verwehet
Diese Charakterisierung der vier Elemente träumte dem Erbauer eines Tages vor dem Aufwachen.
Für was steht das Wasser? Mit einem Wort gesagt, für Gefühl. Wasser, das ist die Sphäre des Innerlichen, des Spürens. Und Menschen, die geboren wurden, als die Sonne in einem Wasserzeichen stand (Sternzeichen sagt man), sind sehr empfindsam, während die Feuerzeichen Widder, Löwe und Schütze mehr für die Tat stehen, offensiv und extrovertiert aus sich herausgehen.
Bei diesen Gegensätzen wie früher von weiblich und männlich zu reden, ist heute kaum mehr angebracht, da momentan jedes Geschlecht sehr damit beschäftigt ist, sich auch die andere Qualität anzueignen, wobei sich nach den Softies und Powerfrauen als dem extremen Eindringen ins bisher andere Revier allmählich eine neue Balance abzeichnet.
Auf dem Kopf der Säule sind die dem Wasser zugeordneten Tierkreiszeichen »Krebs - Skorpion - Fisch« dargestellt.
Jedes Element tritt in drei verschiedenen Formen auf, man könnte auch sagen Lebensphasen. Die kardinale Form, in der es ins Dasein tritt, zum ersten Mal mit dieser Welt Kontakt aufnimmt, ist der Krebs. Wasser als nährende Ursuppe, als symbiotische Keimzelle. Krebse haben die Fähigkeit, solche Keimzellen zu schaffen, verlassen sie aber auch auf dem Weg zur Selbständigkeit als letzte. An Familienbewußtsein sind Krebse nicht zu übertreffen. Weil der Krebs für die Wärme und Geborgenheit steht, in der Seelen auf diesem Planet inkarnieren können, wurde ihm auf der Brunnensäule das Element Erde, das Viereck, zugesellt.
Von Gemeinschaft, und zwar nicht so sehr im geistigen, sondern im emotionalen Sinn, handeln alle Wasserzeichen. Um Verbundenheit geht es auch im fixen Zeichen Skorpion. Hier geht es ins Unergründliche, ins Terrain der tiefen, leidenschaftlichen Gefühle, die das Leben zu einem andauernden „Stirb und Werde” machen. Dem Thema Transformation, Tod und Wiedergeburt, ist der Skorpion intensiv ausgesetzt. Wo andere sich behaglich einrichten, wird er zuletzt sein „Einverstanden” geben.
Wohl wegen dieser Eigenschaft, nicht zu ruhen, bis ein Werk geläutert ist, ist der Skorpion nicht unbedingt das beliebteste Sternzeichen. Er ist das Zeichen der alchemistischen Wandlung, und darum wurde ihm das Feuer, ausgedrückt durch ein Dreieck, zugeordnet. Der ausgehöhlte Säulenkopf ist als Feuerschale gedacht. Wenn sich dieses Element auch „live” nicht darstellen läßt: In den hier im Sommer wachsenden Pflanzen ist es doch im Verborgenen vertreten.
Der Fisch schließlich ist das Zeichen des universellen Mitgefühls. Auf die Frage, welches die wichtigste Einsicht sei, antwortete ein Weiser einst: „Daß alles miteinander verbunden ist.” Im Fisch, dem letzten Symbol des Tierkreises, fallen Trennungen und Grenzen, weshalb hier der Kreis als geistig-luftiges Symbol zu sehen ist. Hier geht es um Spirituelles, um das Reich, das nicht von dieser Welt ist. Wichtiger als materieller Erfolg ist Fischen, sich für andere zu engagieren. Sie sind oft in Helferberufen anzutreffen. Allerdings: In seiner Hingebung an die großen Zusammenhänge vernachlässigt er leicht andere Dinge. Pünktlichkeit, Verbindlichkeit und Präzision sind nicht seine Stärke.
Falls nun jemand einen Krebs, Skorpion oder Fisch kennt, auf den das Gesagte überhaupt nicht zutrifft: Außer den Zeichen der Sonne gibt es ja im Geburtshoroskop noch viele andere Faktoren, die sich manchmal noch stärker als das Sonnenzeichen auswirken können, sich in den Vordergrund schieben. Einen wichtigen Teil der Persönlichkeit macht das Sonnenzeichen aber auf jeden Fall aus, wenn auch manchmal nicht sofort erkennbar.
Noch ein Tier findet sich, wenn auch in angedeuteter Form, am Brunnen. Der Wasserspeier wird durch ein schlängelndes »S« gestützt. Daß man, um zum Wasser des Lebens zu gelangen, das Alte, Wilde überwinden und versöhnen muß, ist ein Mythos, der sich auf der ganzen Erde findet. Und dieser Wesensanteil, der die Kraft hat, aber auch zugleich gefährlich ist, solange er nicht entwickelt wurde, wird oft als Schlange dargestellt.
Im Alten Testament ist für diesen Entwicklungsprozeß das eindrucksvolle Bild von der Erhöhung der Schlange zu finden. Unter den Allgäuer Sagen handelt ein erklecklicher Teil von Schlangen oder Drachen als Hütern eines Schatzes. Und es dürfte bei uns kaum eine Kirche oder Kapelle geben, in der nicht der heilige Georg mit dem Speer versucht, den feuerspeienden Drachen in Schach zu halten.
Egal, wie man die Gegenspieler nun nennt: Ob Chaos und Ordnung; ob man darin das durch den Speer des Bewußtseins kontrollierte Feuer der Lebenskraft sieht; ob hier der Kampf sich ablösender Gesellschaftsformen ausgedrückt wird (Schlange und Vogel waren in matriarchaler Zeit Attribute der großen Göttin, und erst kürzlich sah ich in einer kleinen Dorfkirche einen Drachen in einem gotischen Altar, der, nur von hinten ersichtlich, drastisch als weiblich gekennzeichnet war). Der tapfere Ritter hingegen verkörpert dann das später folgende Patriarchat.
Vielleicht weicht dieses Bild vom Kampf ja eines Tages einem Bild der Partnerschaft und Harmonie, wie es in der Wasserrose, im Lotus, zu finden ist. Der Auslauf des Brunnens ist geformt wie diese Pflanze, die im Schlamm wurzelt, das Wasser durchdringt und ihre Blüte dem Wind, der Sonne und den Menschen zur Freude öffnet.
Aber auch dieses: Aus dem Oberstdorfer Brunnen kann man trinken. Er wird mit bestem Gebirgswasser vom Christlessee gespeist.