Oberes Illertal: letztes Rückzugsgebiet von Romanen (Besprechung eines Aufsatzes)

von Dr. Thaddäus Steiner am 01.12.1998

(oder: Haben Romanen den Alemannensturm überlebt? oder: Waren Romanen unter unseren Vorfahren?)

Im Jahre 1997 haben Hubert Klausmann und Thomas Krefeld, ehemals bzw. heute noch Mitarbeiter des Vorarlberger Sprachatlasses, einen Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel „Sprachliche Indizien einer spätantik-mittelalterlichen Siedlungskontinuität im Allgäu”. Dieser Aufsatz ist für alle Oberallgäuer, die an der Geschichte und Sprache ihrer Heimat interessiert sind, hochaktuell und soll deshalb hier vorgestellt werden.

Das Allgäu, so stellen die Verfasser fest, ist bisher bei der Untersuchung sogenannter Reliktwörter „eher stiefmütterlich behandelt” worden. Gemeint sind damit Wörter, die aus einer früher in einem begrenzten Raum gesprochenen Sprache in die heutige, dort lebendige Sprache übernommen wurden, ohne daß sie mit der Hochsprache etwas zu tun hätten. Fürs Allgäu bedeutet das, daß solche romanische Wörter ins Alemannische übernommen wurden, die nicht Gemeingut des Hochdeutschen sind. Lehnwörter wie etwa Mauer, Keller, Kirche, Samstag usw. fallen also nicht darunter.

Der Aufsatz beginnt damit, den historischen Hintergrund kurz auszuleuchten, der vom Zusammenbruch des römischen Limes nördlich der Donau und einer neuen Grenzsicherungslinie entlang von Rhein - Bodensee - Iller - Donau bestimmt wird. Hinter ihr konnte sich die Bevölkerung der römischen Provinz Raetia secunda noch bis weit ins 5. Jahrhundert hinein in Rückzugssiedlungen halten, bis endlich ab ca. 500 n. Chr. die Alemannen auch das heutige bayerische Schwaben besiedelten und gegen 600 n. Chr. in Schwangau und Altstädten den Alpenrand erreichten. Im folgenden Kapitel weisen die Verfasser darauf hin, daß schon bisher vordeutsche Gewässer- und Siedlungsnamen im Allgäu bekannt waren, wie Isny, Kempten und Füssen, ergänzt durch Namen kleinerer Orte, für die sie aus dem Allgäu aber nur Gestratz benennen.

Im Hauptkapitel (4.) werden nun die Reliktwörter untersucht, die bei den Erhebungen zum Vorarlberger Sprachatlas im Allgäu (und z. T. darüber hinaus in Oberschwaben, Vorarlberg und Tirol) festgestellt worden sind und teilweise schon früher behandelt wurden. (So Mulde [Muelte] .Backtrog’ und Tas/Tax ,Tannenreisig’.) Die Herleitung dieser Reliktwörter aus dem Romanischen wird im einzelnen erklärt. Der neue methodische Weg ist die Darstellung der geographischen Verbreitung von 11 solchen Wörtern in Skizzen und der Zahl derer, die am jeweiligen Ort belegt sind, in einer weiteren. Es zeigt sich nun, daß die Anzahl solcher Reliktwörter vom Bodenseegebiet bis zum oberen Illertal ständig zunimmt.

Östlich der spätrömischen Verteidigungslinie Bodensee - Iller mit der zentralen Festung Isny (Vimania) nimmt sie auffällig zu und erreicht in Sonthofen, Hindelang, Fischen und Oberstdorf jeweils über 30 solcher Wörter. In Verbreitungsskizzen sind dargestellt:

Grüsch--- ,Kleie’
Benne--- ,Wagenkorb’ (in Oberstdorf: Beanarwägele)
Tas/Tachs--- ,Tannenreisig’ (in Oberstdorf auch: Ibetas .Eibenzweige’)
mens--- ,Kuh, die ein Jahr lang nicht belegt wird’ (in Oberstdorf: meiss)
Brätsche--- ,Bohnenschale’ (in Oberstdorf unbekannt)
loreijen--- ,kleine Heuschwaden machen’ (in Oberstdorf: mahden)
Feel--- ,Mädchen’
Schump--- ,einjähriges/zweijähriges Rind’
Wätzlet(e)--- ,Rückstand beim Auslassen von Butter’ (in Oberstdorf unbekannt)
goren--- ,mit dem Kopf/mit den Hörnern stoßen’ (in Oberstdorf: nigglen)
stafeln--- ,nach Älplerart düngen’
Bunzel--- ,zu früh trächtig gewordenes Rind’

Für Oberstdorf gelten natürlich weitere, nicht in den Skizzen dargestellte Wörter, wie Taufe (tüf) .Legföhre’, Drüese .Grünerle’, Spallen (spohlen) und Triegle zum Burdenbinden, Kobel/Gufel u. a.

Die Verfasser grenzen diese Reliktwörter dann noch gegen spätere Entlehnungen aus dem Italienischen ab, wie Fazanettlein - Taschentuch’, Gatze .Schöpfkelle’, Scharmützel .Papiertüte’, Zapin (in Oberstdorf: Sabing) u. a.

Die Schlußfolgerung der Autoren lautet: das obere Illertal war eine „lang bestehende romanische Insel”, von der die eingewanderten Alemannen mit Teilen ihrer Sachkultur auch Teile ihrer Sprache übernommen haben.

Die Arbeit von Klausmann und Krefeld stellt insgesamt eine der Untersuchungen dar, die grundlegend für die Erforschung der frühen Allgäuer Siedlungsgeschichte sein werden. Selbstverständlich kann die Untersuchung im einzelnen womöglich noch verfeinert werden, wenn man z. B. die Fragen stellt: Stammen wirklich alle diese Wörter aus dem Romanischen, könnten nicht einzelne auch deutsch erklärt werden? - Sind sie wirklich alle alt? (Feel?) - Könnten einzelne nicht auch von den Nachbarn entlehnt sein? (Blies von den Einödsbacher Walsern? Gufel von Walsern oder Lechtalern?) - Auch Ergänzungen sind natürlich denkbar.

Sprachwissenschaftlich sehe ich vor allem ein weiteres Aufgabengebiet bei der Flurnamenforschung im ganzen Allgäu, die ganz sicher noch zusätzliche Wörter liefern wird, die mit größerer Sicherheit bodenständig sind als Reliktwörter. Als Beispiel sei Rübe genannt. Schließlich müssen auch jene vermutlich vordeutschen Namen kleiner Orte gesammelt und genau analysiert werden, die von den Alemannen nicht schon in größerer Entfernung übernommen worden konnten; ich denke da etwa an Urlau südlich Leutkirch, Leubas und Rauns im Kemptener Raum, Liebenstein, Rubi (?) und Kornau im Oberallgäu, Pfronten im Ostallgäu. Ergänzt werden könnten sie durch eventuell als vordeutsch erweisbare Alpnamen. Auch von der Archäologie kann man vielleicht noch Hinweise erwarten. Mit der Zeit wird aus diesen „Bausteinen” ein anschauliches Bild des vordeutschen Allgäus entstehen können.

Der Aufsatz von H. Klausmann und Th. Krefeld ist erschienen in MONTFORT Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs, 49. Jahrgang, 1997, Heft 1, das zugleich Festschrift für Eugen Gabriel zum 60. Geburtstag ist.

Gabriel ist der Schöpfer des Vorarlberger Sprachatlasses, dessen Materialien Hauptgrundlage der Untersuchung waren. Das Einzelheft ist in Österreich noch für 185 Schilling zu haben.

Bei größerem Interesse könnte das Heimatmuseum eine Sammelbestellung übernehmen. Adressat: Eugen Thomma
Hermann-von-Barth-Straße 35 87561 Oberstdorf Telefon (08322) 2370

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