Oberstdorfer in einer fremden Welt

von Dr. Hans-Jürgen Tauscher am 01.11.1983

Ein Traum wird Wirklichkeit

Mehrmals sind wir gefragt worden: „Warum müßt ihr denn so weit, so lange fortfahren? Bei uns ist es doch auch schön. Genügt euch denn das nicht?” Eine schlüssige Antwort mußten Paul Braun (Oberkirch), Martin Engler (Fischen), Walter Emst (Mittelberg/Kleinwalsertal), Ludwig Hösle (Oy), Udo Zehetleitner (Burgberg), Dr. Wilfried Zink (unser Expeditionsarzt aus Traunstein) und wir Oberstdorfer, Thomas Dünßer, Rudolf Frick, Edi Geyer, Andi Heckmair, Peter (Pips) Lechart und ich, schuldig bleiben.

War es die Faszination einer für uns fremden Welt, war es die Möglichkeit, einen hohen, noch unbestiegenen Berg in unmittelbarer Nachbarschaft des Mount Everest zu versuchen, war es das Verlangen, durch diese Expedition einmal ein wenig aus unserem geordneten Alltag auszusteigen? Von jedem wohl etwas. Vielleicht auch im Innersten die Bestätigung dafür zu suchen, wie schön doch letztendlich unsere Heimat ist.

Oberstdorfer in fremder Welt - Heft 4

Ballonmütze und Trachtenhüte,
Symbole verschiedener Kulturkreise.

Sportminister Wang in Oberstdorf

Einen leichten Druck in der Magengegend hatten wir schon, der Edi und ich, als wir die Einladung des chinesischen Bergsteigerverbandes - sie wurde möglich durch den Besuch des chinesischen Sportministers im Jahre 1979 in unserer Gemeinde - gegenzeichnen sollten. Aber die Gelegenheit, China, das Reich der Mitte, Tibet, dieses geheimnisvolle Land am Dach der Welt, und den Himalaja zu besuchen, entkräftete unsere Zweifel. Bis zum Beginn unserer Reise im Herbst 82 waren es ja noch 1 1/2 Jahre, eine lange Zeit. Und doch war diese Vorbereitungszeit beinahe zu knapp bemessen, eine Pauschalreise wäre einfacher gewesen.

So wuchs der Schriftwechsel mit den Chinesen, den Ausrüstungsfirmen usw. auf mehrere prall gefüllte Ordner an, im Landhaus Titscher in der Weststraße stapelten sich Kartons und Fässer mit Ausrüstung und Verpflegung von der Garage über den Stall bis in den Keller, 1,5 t Material insgesamt. So manche Panne mußte ausgebügelt werden. Manchmal vergaßen wir dabei den eigentlichen Sinn dieser Arbeit, unsere Reise. Auch die Gedanken an unsere lange Abwesenheit überließen wir in dieser Zeit lieber unseren Frauen, den Familien.

Emst mit dem „Fühlen” wird es dann am 19. September 1982, als wir unser persönliches Gepäck - die Expeditionsausrüstung ging per Luftfracht zwei Monate früher nach China - im Bus verstauen und Abschied nehmen mußten von unseren Lieben, von Oberstdorf. Den anderen unserer Mannschaft geht es ähnlich: Erst im Lufthansa-Jet weicht eine gewisse Beklemmung der Freude über das vor uns liegende Abenteuer.

18 Stunden Flugzeit bis Peking. Grußkarten schreiben, Unterhaltung: Was wissen wir über China, Tibet, die Menschen, das politische System, Religion, Kultur. Vorurteile, Vergleiche mit unserer Heimat, wir haben uns vieles angelesen, bald erleben wir es.

Im Reich der Mitte

Es ist Nacht bei unserem Transfer vom Flughafen zum Bei-Wei-Hotel durch die Neunmillionenstadt Peking. Drei Millionen Fahrräder! Da die Straßen gut beleuchtet sind, fahren alle ohne Licht - für uns ein chaotischer Verkehr. Andi schwärmt von einem Fahrradgeschäft in dieser Stadt. Unser Hotel, in der Altstadt gelegen, beherbergt überraschend viele Chinesen, zumeist aus Hongkong. Folge: viel Lokalkolorit und eine gute, reichhaltige Küche. Das Essen mit Stäbchen sorgt anfänglich für Heiterkeit, Edi hilft zwischendurch mit den Fingern nach.

Drei Tage bleiben wir in Peking, drei Tage gedrängtes Programm: Begrüßung durch den chinesischen Bergsteigerverband, Besuche der historischen Bauten, die von der Kulturrevolution verschont wurden. Kaiserpalast, Himmelstempel, Sommer-
palast, Ming-Gräber, die Große Mauer - welch eine große Kultur! Für Müdigkeit ist da kein Platz. Am Abend Variete - phantastische Artistik! Beim nächtlichen Stadtbummel tragen wir die Visitenkarte unseres Hotels, chinesisch - englisch, in der Tasche, falls wir uns in dieser lebendigen Stadt verlaufen sollten. Die warmen Septembernächte fordern heraus zum Leben auf der Straße: Federball, Karten- und Würfelspiele. Die Geschäfte und Marktstände haben lange geöffnet. Frühmorgens Jogger und Schattenboxer und immer wieder Radfahrer, Radfahrer. Neugierig, aber nie aufdringlich werden wir beobachtet, vor allem Rotschopf Martin Engler. Schade, daß die Sprachbarriere eine Verständigung nahezu unmöglich macht; wir sind auf die Übersetzungskünste unseres Dolmetschers Ni und das spärliche Englisch unseres Begleitoffiziers Yu angewiesen.

Oberstdorfer in fremder Welt - Heft 4

Mit unseren chinesischen Begleitern
an der Großen Mauer

Die Zeit ist kurz. Von Peking geht es per Jet nach Chengdu, 2000 km südwestlich von Peking. Unser Ziel, Tibet und der Himalaja, rücken näher. Chengdu, die Hauptstadt der Provinz Szetchuan, hat drei Millionen Einwohner. Wir haben den Eindruck eines riesigen Dorfes. Auch hier pulsierendes Leben. Kühngeschwungene Tempeldächer ragen in den regenverhangenen Himmel. Treibhausklima treibt uns den Schweiß aus den Poren. Nicht umsonst ist Szetchuan eine der Reiskammern Chinas. Im dichten Bambus soll es noch freilebende Pandabären geben - wir können sie auf der Rückreise im Pekinger Zoo besichtigen. Nachts sind wir froh über die Klimaanlage im Hotelzimmer.

Auf dem Dach der Welt

Am frühen Morgen startet unsere Iljuschin, eine Turbopropmaschine, in Richtung Tibet. Über Chengdu hängt eine dicke Wolkendecke, 14 Tage hat es in Szetchuan geregnet. Turbulenzen schütteln unseren fliegenden Traktor, wir sind über den Wolken. Vier Stunden Flug über die kalten Berge von Szetchuan. Links in der Ferne glänzen die Ausläufer des Himalaja in der Sonne. Unter uns Tausende von Gipfeln, 5.000 bis 6.000 m hoch, alle noch unbestiegen, ein Dorado für Bergsteiger. Wie klein sind doch unsere Alpen! Dann das Tal des Tsangpo mit vielen Seitenarmen. Einem Delta gleich fließt er durch die wüstenartige Berglandschaft. Auf dem Flugfeld, 3.500 m über NN, rollt unsere Iljuschin aus.

Wir betreten tibetische Erde. Vom Flugfeld, 3.000 km südwestlich Peking, sind es noch 120 km bis Lhasa, der Hauptstadt Tibets, oder drei Stunden Fahrt über staubige Schotterstraßen. Wir befahren die Brücke über den Tsangpo, den einzigen asphaltierten Straßenkilometer bis Lhasa, und folgen flußaufwärts dem Kyitschu, einem breiten Seitenarm, an dem Lhasa liegt. Drei hübsche Tibeterinnen winken uns zu, wir winken zurück, sie lächeln und schenken uns Radieschen. Wir haben schönes Wetter, Tibet bringt die Ernte ein, Esel dreschen mit den Füßen, Gerste wird geworfelt, Yaks pflügen den abgeernteten Boden mit dem Holzpflug, wie zu Urvaters Zeiten. Die ersten Dörfer tauchen auf: Kinder, Pferde, Hühner. Kleine Schweine werden von Andi als „Tibeter-Hündle” klassifiziert. Autos, nicht nur unser Fahrzeug, scheinen Fremdkörper in dieser Landschaft zu sein. Wir besichtigen ein kleines Kloster, der weißen Tara gewidmet, passieren ein mehrere Meter hohes Felsenbild des Urbuddhas Shakyamuni.

Eine Zementfabrik am Wege, Öllager, Telegraphenleitungen, chinesische Militärlager - wir nähern uns Lhasa. Der Verkehr nimmt zu: Lastwagen, Eselskarren, Radfahrer, Reiter. Dann in der Feme der Potala, der Regierungssitz des Dalai Lama vor der Vertreibung durch die Chinesen. Erinnerungen werden wach. Vor über 30 Jahren hörten wir Zehnjährigen, Andi und ich, zum ersten Mal den Namen Tibet und Lhasa, als Heinrich Harrer bei Anderl Heckmair zu Besuch weilte. In wenigen Minuten dürfen wir die einstmals für Ausländer verbotene Stadt, selbst Sven Hedin kam nur bis Shigatse, die Heiligtümer Tibets betreten. Die goldenen Dächer des Potala glänzen in der Mittagssonne. Wir beziehen für die nächsten drei Tage unser Quartier einige Meter außerhalb der Stadt in einem ehemaligen Militärlager, das heute als Gästehaus dient: relativ komfortabel, schön gelegen und schön teuer, ca. DM 150,— pro Nase und Tag. Nach dem Mittagessen (Wir trinken dazu Bier aus der ehemals deutschen Kolonie Tsingtau - vorzüglich, nur mit den Gläsern hapert’s folgt der erste Rundgang durch die alte Stadt. Die Müdigkeit, bedingt durch die Höhenlage (3.700 m), verfliegt, die Spannung und Neugier steigt.

Fast vergessen wir den eigentlichen Zweck unserer Reise - unseren Changtse; zu anders, zu fremd scheint diese Welt für uns, und doch wieder vertraut, vertraut durch die Literatur, die sich heute noch an meinem Bett stapelt.

Den Parkhor, den Weg rings um den Jokhang-Tempel im Uhrzeigersinn betend zu durchschreiten, Schritte zur Erlösung für jeden Pilger, ob von nah oder fern, ist der sehnlichste Wunsch, die heilige Pflicht für den Tibeter, bevor er das Allerheiligste Lhasas, Tibets, den Jokhang betritt. Sind wir nicht auch in irgendeiner Weise Pilger in diesem fremden, faszinierenden Land?

Wir biegen ein in den Parkhor zu Füßen des alles überragenden Potala, vorbei an der über 1.000 jährigen Weide, wie die Legende sagt. Mit uns Einwohner von Lhasa, Nomaden, Pilger aus allen Bevölkerungsgruppen; teilweise eng, meistens jedoch ziemlich breit eingerahmt von zweistöckigen Häusern mit Rachdächern, wunderschönen Fenstern und Türstöcken aus verziertem Holz, nach oben fliehenden Wänden, der typischen Architektur Tibets. Zu den Füßen Marktstände: Fast alles ist erhältlich, von den Dingen des täglichen Lebens, wie Nahrungsmittel, Haushaltswaren, Kleidung, bis zu Kunsthandwerk und Devotionalien, ja bis zum bezahlten Gebetsmühlendreher, Legendenerzähler und Schriftenleser. Dazu die unbeschreiblichen Gerüche von ranziger Yakbutter, Kräutern und Gewürzen, die in den Räucheröfen am Wege geopfert werden. Der Parkhor ist nicht nur Pilgerpfad, er ist auch Marktstraße, die Lebensader Lhasas schlechthin. Am Boden sitzend handle ich mit Nomaden um einen handgewebten Teppich, Zahlen werden in den Staub gekritzelt, jeweils fürchterlich über zu hohe oder zu tiefe Angebote gelacht, schließlich lachen wir gemeinsam, der Teppich wechselt den Besitzer.

Der Ring schließt sich. Zwischen liegenden, knieenden, stehenden Tibetern hindurch, alle beten, betreten wir den Vorhof des Jokhang-Tempels, des größten lamaistischen Heiligtums. Ein Bronzekessel voller Räucherstäbchen, Hunderte von Butterlampen sorgen für „dicke Luft”, verbreiten gedämpftes Licht, dazu das Murmeln und laute Beten der Gläubigen, untermalt vom Klang der Schellen und Tschinellen: Wir sind ergriffen von der tiefen Gläubigkeit dieser Menschen, eine unglaubliche Stimmung umfängt uns, trägt uns hinein in das Innere des Heiligtums. Es würde zu weit führen, alle Altäre, Buddhastatuen, Seitenkapellen zu beschreiben. Unglaubliche Kunstschätze und Reichtümer finden sich hier im Dämmerlicht des Tempels. Welch großartige Leistung des in unseren Augen so armen Volkes! Im Innern steigen wir nach oben, vorbei an vergoldeten, mit Edelsteinen reich verzierten Buddhastatuen, bis auf die Dachterrasse des Tempels. Das Tageslicht, die vergoldeten Dächer, verziert mit Dachreitern und Drachenköpfen und goldene Grabstätten verstorbener Lamas blenden uns. Von hier genießen wir einen wunderbaren Blick über die alte Stadt, das weite Tal des Kyitschu, nur der Potala ist höher, ihm gilt unser nächster Besuch.

Auf dem 130 m hohen Sockel eines roten Hügels, noch einmal 178 m höher, über 400 m in der Breite, im Innern an die 1.000 Räume - ein Bauwerk der Jahrhunderte. Auch hier unschätzbare Reichtümer, Kunstschätze und Wandmalereien, bis hinauf zu den goldenen Dächern. Wir sehen die Gräber - Stupen der verstorbenen Dalai Lamas, die Bibliotheken, die Privatgemächer des Dalai Lama, um nur einiges zu nennen.

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Die goldenen Dächer des Jokhang
- im Hintergrund der Potala

Im Gegensatz zu anderen Klöstern, die wir besichtigen durften, leben im Potala keine Mönche mehr; er war ja kein Kloster im eigentlichen Sinn. Für uns erscheint er heute als Museum höchster lamaistischer Kultur und Kunst. Fotografieren und Filmen ist in den Klöstern und im Potala nur gegen hohe Gebühr erlaubt; die Gelder sollen der Restauration dienen. Wir versuchen natürlich, Geld zu sparen. Aufseher - Chinesen - ermahnen uns höflich aber bestimmt und kassieren. Wenn wir uns nicht beobachtet fühlen, verteilen wir Dalai-Lama-Bilder an die Mönche und fotografieren heimlich. Ein chinesischer Aufseher erwischt mich, ich zücke den Geldbeutel, er winkt ab, auch er will ein Dalai-Lama-Bild. Schnell verschwindet es in seiner Brusttasche, ein dankbares Nicken, ein Lächeln - ich habe einen Verbündeten. Ich erinnere mich: Weng Cheng, eine chinesische Prinzesssin, führte im 7. Jahrhundert in ihrer Aussteuer den Urbuddha Shakyamuni mit sich und brachte den Buddhismus mit nach Tibet.

Etwas müde sind wir dann doch ob des dichtgedrängten Besichtigungsprogramms, auch wenn wir nur einen Teil der Residenz des Dalai Lama besucht haben. Zu groß, zu mächtig ist dieser „Wolkenkratzer” Zentralasiens, der ehemalige Regierungssitz des geistlichen und weltlichen Oberhaupts der Tibeter.

Am Abend erwartet uns noch eine kleine Fleißaufgabe, 1.800 Grußkarten sind zu unterschreiben und mit Briefmarken zu bekleben. Ohne die Grußkarten und Spendenaktion wäre diese Fahrt für manchen nicht finanzierbar gewesen. Mit klebriger Zunge schlafen wir ein.

Am nächsten Tag gilt unser Besuch dem Kloster Trebung in der Nähe von Lhasa; 10.000 Mönche lebten einst dort, heute noch ca. 300. Wir sind jetzt schon weit über eine Woche unterwegs; wir spüren, die Zeit ist kurz, zu kurz, alles zu sehen, aufzunehmen, wir werden lange brauchen, das Erlebte zu verarbeiten. In einer Seitenkapelle des Klosters erteilt ein alter, kleiner Lama den Gläubigen seinen Segen durch Auflegen eines silberbeschlagenen geweihten Holzes und durch Beträufeln mit geweihtem Wasser. Für eines der begehrten Dalai-Lama-Bilder wird auch mir dieser Segen zuteil. Die eindringliche Atmosphäre dieser Zeremonie geht mir unter die Haut.

Parkhor - Jokhang - Potala - das Kloster Trebung - wir denken auch an unser eigentliches Ziel, den Changtse. Andi, Pips und ich machen etwas Höhentraining, wir ersteigen die umliegenden Höhen, Udo und Walter bis auf 5.000 m. Wilfried ermahnt uns, langsam zu steigen, außerdem sollen wir seine medizinischen Fragebögen beantworten, dann verschwindet er im Bad und macht große Wäsche. Anschließend kann das Bad nur noch mit Bergstiefeln betreten werden, alles schwimmt.

Wir sehen zum ersten Mal unser Expeditionsgepäck wieder. Buddha sei Dank, es ist alles komplett; ein Lob für die Chinesen, sie sind perfekte Organisatoren.

Am späten Nachmittag verladen wir unser Gepäck auf einen LKW. Die schweren Säcke nehmen uns fast den Atem. Wir spüren die Höhe doch ganz gut. Im frühen Morgengrauen entschwindet Lhasa in einer Staubwolke. Vor unserem kleinen Konvoi - Bus, Jeep, LKW - liegen 350 km staubige Schotterstraße, zwei Pässe, 4.500 m und 5.100 m hoch, der heilige See Yamdrok (etwa so groß wie der Bodensee) und der große Tschörten von Gyantse. Im letzten Licht erreichen wir unser Etappenziel Shigatse, mit dem großen Thasi-Lumpo-Kloster, dem Sitz des Pantschen Lama.

14 Stunden Fahrt durch ein karges, verlassenes, grenzenlos weites, unheimlich schönes Land. Der Zufall führt uns im Thasi-Lumpo-Kloster in einen buddhistischen Gottesdienst. Die betenden und meditierenden Mönche scheinen uns fotografierende Störenfriede nicht zu sehen. Ergriffen und mit schlechtem Gewissen ziehen wir uns zurück. Der Gang über den Markt, eine Fahrt im Yakhautboot auf dem Tsangpo - wie schnell vergeht die Zeit! Udo und ich stöbern am Straßenrand einen Zahnarzt auf. Sein Instrumentarium, einschließlich Tretbohrmaschine, gleicht dem meines Urgroßvaters, dessen Geräte bei uns im Heimatmuseum hängen.

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Der Tschörten von Gyantse,
der größte Tibets

Von Shigatse nach Shekar, der letzten größeren Ansiedlung, sind es noch einmal 250 km, vorbei an nomadisierenden Yak- und Schafherden, über zwei Pässe mit ungefähr 4.500 m Höhe. Wir verstehen jetzt, warum Gebetsfahnen und Manisteine in größerer Zahl auf den Paßhöhen zu finden sind. Mögen auch uns auf der folgenden Talfahrt die Götter beschützen! Gang raus, Motor abgestellt, im Leerlauf jagen wir bergab - Autofahren in Tibet erscheint uns gefährlicher als Bergsteigen.

Feinster Staub erfüllt das Wageninnere. Wir vermummen uns wie Bankräuber, um nicht zu ersticken. Bei einer Bodenwelle schlägt Paul mit seinem Kopf eine große Delle in das Wagendach. Zum ersten Mal sehen wir unser Ziel, den Himalaja. Eine grandiose Aussicht: fünf Achttausender auf einen Blick. Makalu, Lhotse, Mount Everest, Cho Oyu, Shisha-Pangma füllen von Ost nach West den Horizont. Wir suchen unseren Changtse, beinahe winzig liegt er zu Füßen des mächtigen Everest. Am frühen Nachmittag erreichen wir Shekar. Der Dzong, die Burg über Shekar, eine Ruine, zerstört wie so viele Kulturdenkmäler der Tibeter beim Einmarsch der Chinesen vor 30 Jahren oder durch die Kulturrevolution.

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Mount Everest,
rechts darunter
"unser" Changste

Der Weg zum Changtse

Wir schlafen gut in einer Höhe über 4.000 m, die letzte Nacht in einem Bett für die nächsten 3 1/2 Wochen. Nach dem Frühstück mit Erdnüssen, sauren Gurken und süßem Brot geht’s ab in Richtung Everest-Base-Camp. Edi und ich, die Expeditionsleiter, sind privilegiert und fahren mit Yu, unserem Begleitoffizier, im Jeep; die restliche Mannschaft friert bitterlich im offenen LKW. Unsere warmen Sachen lagern bereits 110 km weiter. Querfeldein geht unser Weg. Ein letzter Paß mit 4.500 m. Der vielen Wildhasen wegen nennen wir ihn den Hasenpaß.

Drei Dörfer, in dieser Einöde leben immer noch Menschen, obwohl nichts mehr zu wachsen, zu gedeihen scheint, und dann das Rongbuk-Kloster, benannt nach dem mächtigen Gletscher, der vom Mount Everest genährt wird. Rongbuk, einst die höchste, dauernd bewohnte Siedlung Tibets, 5.100 m hoch, zerstört durch die Kulturrevolution. Wunderbare Fresken fallen heute der Witterung zum Opfer. Wenig weiter, am Fuße eines kleinen Moränenhügels - auf ihm befinden sich die Gedenktafeln der Everest-Opfer der letzten Jahre - schlagen wir unser Basislager in 5.150 m Höhe auf; unser Ziel, der Changtse, scheint in greifbare Nähe gerückt. Darüber, 1.300 Meter höher, alles überragend, der Mount Everest - Chomolungma - „die Göttin des Schnees”, 10.000 km von Oberstdorf. Wir sind ergriffen von dieser Reise, die 1 1/2 Jahre Vorbereitungszeit sind vergessen. Hoffentlich ist zu Hause alles wohlauf!

Auf dem historischen Weg über den östlichen Rongbuk-Gletscher, den ja bereits in den 20er Jahren die englischen Everest-Expeditionen und zuletzt auch Reinhold Messner genommen hatten, läuft auch unser weiterer Anmarsch in Richtung Changtse. Wir verzichten auf Träger, benützen statt dessen Yaks und den eigenen Rücken.

Lager 1 wird am 2. Oktober auf 5.600 m, Lager 2 am 4. Oktober auf 6.100 m am Fuße der Nordost-Flanke des Changtse errichtet. Feinfühlig treiben zwei tibetische Yaktreiber ihre halbwilden und doch sensiblen Tiere mit melodischem Pfeifen und gutem Zureden über Eis und Moränenschutt des Ostrongbuk bis Lager 2 . Nirgendwo im Himalaja tragen Tiere höher als hier.

Während unseres Aufstiegs über die Moräne entlang dem Strom der Eistürme, die wie riesige Haifischzähne aus dem Gletscher ragen, kommt unser Changtse immer besser ins Blickfeld. Von Lager 2 aus betreten wir Neuland, der weitere Aufstieg muß erkundet werden. Zuerst nordwärts über die 700 m hohe, mit Fels durchsetzte Eis-und Schneeflanke. Im Schutze eines Felsspoms errichten wir in dieser Flanke auf 6.400 m das Lager 3 . Vom Lager 3 geht es weiter über steiles Eis-, Schnee- und Schrofengelände, teilweise mit Fixseilen versichert, auf einem großen Rücken zum eigentlichen Beginn des 4 km langen, zuerst nordwärts, dann ostwärts verlaufenden Changtsegrates. Auf diesem Rücken wird am 13. Oktober Lager 4 auf 6.900 m eingerichtet. Wenn man vom Wind und den Minustemperaturen (nachts bis -30 Grad) absieht, war unser Vorhaben während der ganzen Zeit durch gutes Wetter begünstigt, so daß wir insgesamt sehr schnell vorankamen.

So erreichen am 14. Oktober 1982 mit Udo Zehetleitner und am 16. Oktober 1982 mit Paul Braun, Rudolf Frick, Ludwig Hösle und Martin Engler erstmals Menschen den 7.580 m hohen Changtse-Gipfel.

Eigentlich keinen Tag zu früh, am 17. Oktober, beendet ein Wärmeeinbruch mit Nebel und Schnee unser bisheriges Wetterglück, und vier Tage später lassen 30 cm Neuschnee die Rückfahrt vom Basislager nach Shekar zu einem langwierigen und ernsten Problem werden.

Die Rückkehr

Unser Ziel, erstmals den Nordberg des Mount Everest, den Changtse (das tibetische Wort Changtse bedeutet Nordberg) zu besteigen, haben wir erreicht. Die Rückkehr ist schnell erzählt.

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Frohe Gesichter im Basislager
nach der Gipfelbesteigung

Die immer stärker werdende Sehnsucht nach der Heimat (Ist es Heimweh?) beflügelt uns. Shekar - Shigatse - Lhasa. In Lhasa erfahren wir, daß Andi - mit Verdacht auf Lungenembolie war die Expedition für ihn vorzeitig zu Ende - wohlbehalten den Rückflug antreten konnte, seine Erkrankung blieb ohne Folgen. Wir freuen uns; auch wir sind alle gesund. Nicht immer ist das so.

Shopping und Sightseeing in Peking. Der chinesische Sportminister empfängt uns in der riesigen Volkskongreßhalle und beglückwünscht uns zur erfolgreichen Besteigung. Wir laden die Chinesen - besonders Yu und Ni, unsere ständigen Begleiter wurden Freunde - zu einem Gegenbesuch nach Oberstdorf ein. Ein herzlicher Abschied, ein überraschender, herzlicher Empfang durch unseren Alpenverein in München.

In Tibet futtersuchende Yaks in einer grandiosen und wüstenhaften Einöde, hier grasende Kühe im saftigen, grünen, lieblichen Allgäu. Auf dem Marktplatz empfängt uns Oberstdorf, Gratulation, viele Fragen werden beantwortet. Der Alltag hat uns wieder. China, Tibet, der Changtse sind Vergangenheit. Vergessen werden wir diese Reise wohl nie.

Kontakt

Verschönerungsverein Oberstdorf e.V.
1. Vorsitzender
Peter Titzler
Brunnackerweg 5
87561 Oberstdorf
DEUTSCHLAND
Tel. +49 8322 6759

Der Verein

Unser gemeinnütziger Verein unterstützt und fördert den Erhalt und Pflege von Landschaft, Umwelt, Geschichte, Mundart und Brauchtum in Oberstdorf. Mehr

Unser Oberstdorf

Seit Februar 1982 werden die Hefte der Reihe "Unser Oberstdorf" zweimal im Jahr vom Verschönerungsverein Oberstdorf herausgegeben und brachten seit dem ersten Erscheinen einen wirklichen Schub für die Heimatforschung. Mehr

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