Der Biberkopf mit seinen 2.599 m Höhe ist der südlichste Gipfel Deutschlands. Der südlichste Punkt liegt am vorgelagerten Haldenwanger Eck um einige Meter „näher bei Afrika”.
Im Bild die Biberkopf-Nordflanke von der Kempter Scharte aus gesehen.
„Ich war hier am......”, und dann folgen Datum und Namen der Personen die einst diese Zeilen in das Buch auf „der südlichsten Hochwarte des Deutschen Reiches”, dem Gipfel des Biberkopfes, eingetragen haben.
Habe ich Buch geschrieben? Ich weiß nicht, ob es je ein echtes Buch war. Wenn ja, so liegen mir jedenfalls davon nur Fragmente vor; vergilbte, teilweise zerfledderte 20 Blätter im Oktav-Format, drei verrostete Heftklammern halten den „Schatz” zusammen.
Wenn man diese Blätter, die mit Bleistift oder Tintenblei beschrieben wurden, studiert und sich in die Zeit des Handelns zurückversetzt, erscheint vor dem geistigen Auge der Alpinismus alten Stils. Wir sehen den akademischen Alpinisten, der auch im Hochgebirge auf Schlips und Kragen nicht verzichten konnte. Wir sehen den von einem Führer begleiteten Fabrikanten oder Bankier, deren wichtigste Requisiten ein langer Bergstock und Wickelgamaschen waren. Wir sehen aber auch junge, tatenfrohe Bergsteiger, die, mit Seil, Pickel und Steigeisen bewaffnet, abseits der bekannten Routen neue Wege durch Wände und über Grate suchten. Wer war nun alles oben auf dem Biberkopf? Suchen wir doch einige interessante Eintragungen aus den „fliegenden Blättern” der Jahre 1915 bis 1919 heraus.
„1. August 1915
Ludwig Stepp, Nürnberg
Otto Angermann, Dresden, D-Ö-A-V
Paul Schindler, Dresden, Meißner Hochland und Österr. Touristenclub
Das alte Buch an den Hüttenwart abgegeben, das neue niedergelegt 1/2 5 [Uhr] von der Rappenseehütte Otto Angermann”
lautet der erste Eintrag im Gipfelbuch an dem Tag, an dem in Europa das zweite Kriegsjahr begann. Eine fränkisch-sächsische Expedition war es also gewesen, die dem Biberkopf ein neues Buch bescherte. Der Alpintourismus war noch sehr jung und der Krieg hielt die meisten bergbegeisterten jungen Männer davon ab, ihrer Passion zu huldigen; sie waren „zu den Fahnen gerufen” worden.
Am 6. August bestiegen zwei in Oberstdorf bestens bekannte Männer den Biberkopf: Kaplan Hartmann und der Kunstmaler Rudolf Scheller. Scheller, der Sohn des alten Oberlehrers, machte sich einen Namen als Zeichner, Maler und Radierer. Eine Reihe von Kunstwerken, darunter auch die Altarblätter des rechten Seitenaltars (Vierzehn Nothelfer) der katholischen Pfarrkirche in Oberstdorf, zeugen vom hervorragenden Schaffen dieses Künstlers.
Zwei Tage später, am 8. August, haben sich ein Karl Denk und Frau aus Gunzenhausen eingeschrieben. Dies wäre nicht besonders erwähnenswert, wenn dieser Mann nicht vier Tage später schon wieder den Gipfel bestiegen hätte. Diesmal war er aber in Begleitung von Max Förderreuther. Den Mann den Allgäuer Geschichtsfreunden oder Alpinisten besonders vorzustellen, hieße Wasser in die Iller gießen. Mit seinem großartigen Werk »Die Allgäuer Alpen«, einer Beschreibung von Land und Leuten, hat er sich selbst für immer ein Denkmal gesetzt. Daß der als Gymnasialprofessor in Kempten wirkende Förderreuther auch Vorstand der AV-Sektion Allgäu-Kempten und in dieser Funktion u. a. Mitinitiator des Heilbronner Weges war, sei nur am Rande vermerkt.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Voraussetzung für den nächsten Eintrag als alpine Leistung oder als bodenlosen alpinen Leichtsinn bezeichnen soll. Mit einer zierlichen, weiblichen Schrift steht da unter dem 18. August 1915 geschrieben:
„Im Schneegestöber und viel Neuschnee der Aufstieg. Auf dem Gipfel
herrliche Sonne, Friedel Freundeberg, Berlin-Wilmersdorf ”.
Begleitet wurde die Dame von John Kaiser aus Hamburg-Fuhlsbüttel, der allerdings Mitglied der DÖAV-Sektion Allgäu-Immenstadt war.
Vom 1. August bis zum letzten Eintrag des Jahres 1915 am 1. September haben insgesamt 29 Personen den Biberkopf bestiegen.
Der erste Gipfelstürmer im Jahr 1916 war dann am 8. Juli wieder ein Berliner. Am 24. Juli folgte ihm ein Allgäuer Bergsteigerpaar: Ignaz Mayer und Aurelie Oswald aus Lindenberg, Mitglieder der AV-Sektion Oberstaufen, die – damals noch selten – über den Ostgrat zum Gipfel aufgestiegen waren.
Einem Familienausflug gleicht der Eintrag vom 3. August 1916:
„Emil Gutermann, Rentner, Schachen bei Lindau, DÖAV Sekt. Lindau,
Hellmuth Gutermann, 8/20 bay. Inf. Rgt [Anm.: 8. Komp. des bay. Inf.- Reg. Prinz Franz],
Richard Gutermann, Haubusch bei Hildburghausen, Thüringen, z.Z. Oberstdorf.
Abmarsch Rappenseehütte 2 Uhr NM, Ankunft 4 3/4 Uhr NM, etwas bedeckt, Aussicht beschränkt.”
Ab August 1916 mehren sich nun die Eintragungen von Soldaten. So heißt es am 6. August:
„Fr. Sommerlad, Frankfurt a/M., z.Zt. Oberjäger im G.P.Z. Fischen, DÖAV Frankfurt a/M.,
Franz Schmidt, Frankfurt a/M. z.Zt. Blaichach.”
Dieses „Oberjäger im G.P.Z. Fischen” heißt „Unteroffizier im Gebirgs- Patrouillen-Zug Fischen”. Immenstadt, Sonthofen, Fischen und Oberstdorf waren zu gewissen Zeiten während des Ersten Weltkrieges Ausbildungsstandorte für die deutschen Gebirgstruppen. In Blaichach lag einige Zeit eine Maschinengewehr-Kompanie. Dieser schien Franz Schmidt angehört zu haben. So wie die beiden jungen Männer haben viele die Gelegenheit genutzt, in den Bergen das grausame Erleben an der Front für kurze Zeit zu verdrängen, zum Vergessen waren die Eindrücke zu schrecklich und die Zeit in der Heimat zu kurz.
Am 13. August folgten dann wieder zwei Zivilisten. Ohne Rang, Titel und sonstigem steht da schlicht und einfach:
„Janson, Kempten; Hengeler, Kempten.”
In Kreisen des Alpenvereins sind das zwei klingende Namen für hochangesehene Personen. Prof. A. Janson, Vorsitzender der AV-Sektion Allgäu-Kempten, und sein, wie es in alten Schriften heißt, „Sektionssäckelmeister” (Kassier) haben von ihrem Stützpunkt aus, der Rappenseehütte, die Gipfeltour unternommen. Die Namen Janson und Hengeler erscheinen auch in späteren Jahren wieder.
Am Maria Himmelfahrtstag, dem 15. August, ist für das Jahr 1916 die vorletzte Eintragung erfolgt. Irene Stoeber aus Kempten ist unter starkem militärischen Schutz zum Gipfel aufgestiegen. Hans Meiser, Oberleutnant in der „Ersatz-Gebirgs-Maschinen-Gewehr-Kompanie” (ein herrliches Wort!) Immenstadt und Hans Ahr, Leutnant in der gleichen Einheit, haben die – vermutlich junge – Dame eskortiert.
Für die Bergsteigerei scheint es ein schlechter Herbst gewesen zu sein, denn mit dem 27. August 1916 enden die Einträge in das Gipfelbuch für dieses Jahr. Zum frühen Ende der Biberkopf-Besteigungen trug vielleicht auch der Umstand bei, daß die Hütte am Rappensee zeitweise als Hochgebirgsstützpunkt für die Truppenausbildung diente. Der Berg war – wie es auch sei – ab Ende August verwaist. Erst am 18. Juni 1917 ließ sich wieder ein Mensch auf dem herrlichen Aussichtspunkt blicken.
Kein ganzes Dutzend Bergsteiger schrieb sich danach im Gipfelbuch ein, bis es am 30. Juli 1917 auf dem Biberkopf fast zu einem kleinen Gedränge kam. Ein „Patrouillenkommando der 3. Komp. des Ersatz-Gebirgs-Batl. Leutkirch” hat da den Gipfel eingenommen. Am gleichen Tag haben Dr. Müller aus Kiel und Kurt Schreiber aus München eine neue Buchhülle hinaufgebracht und die alte, ausgediente Blechkassette umweltschonend mit hinuntergenommen. Das war aber noch nicht alles für diesen Tag. Der militärischen Invasion war es sicher nicht peinlich, als dann noch ein paar junge, hübsche Mädchen auftauchten. Cenz und Sabina Jäger vom Scheibenhaus in Oberstdorf, begleitet von ihrem Bruder Anton und der Adlerwirtstochter Josepha Zobel, erschienen auch noch auf dem Gipfel. Ob die Biberkopftour Schuld trug, daß die beiden Letzteren kurz nach dem Krieg heirateten, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ein leuchtender Stern am alpinen Himmel ging dann am Mittwoch, dem 8. August 1917, auf:
„Walter Flaig, (Chef Stab 20. I.D.) 9 Uhr V. [vormittags] Sektion, Schwaben’ D.OE.A.V.”
lautet militärisch korrekt die Eintragung. Begleitet wurde der bekannte Alpinist und Silvretta-Schriftsteller von
„Maria Mündorff aus Gundersheim, Rheinhessen, und Lisa Fechter, Calw, Sektion Schwaben.”
Waren 1916 schon im August die letzten Eintragungen erfolgt, so drängten 1917 auch noch im Herbst Touristen auf den Biberkopf.
Für den 26. September ist zu lesen:
„Oberstleutnant Cnopf und Frau, München”.
Nach dem Krieg wurde dieses Ehepaar in Oberstdorf ansässig, lebte im königlichen Jagdhaus, betrieb dort eine „Bridge-Schule” und veranstaltete Turniere in dieser „Sportart”.
Tage später schrieb sich ein:
„Käthi Wurm, Augsburg, ohne Führer.”
Ein Spaßvogel schrieb später darunter: „Als Wurm alle Hochachtung!”
Es schien fast, als habe der Oberstdorfer Jungfrauenbund am 2. Oktober 1917 eine Vereinsausflug unternommen. Lauter junge Mädchen haben sich in das Buch eingetragen:
„Maria Weitenauer, Mathilde Weitenauer, Lina Mayer, Resa Weitenauer, Sophie Brutscher, Sina Brutscher, Anna Schratt, Sina Schratt, Mina Geißler, Anna Wagner, Hanna Geißler, Elsa Volderauer mit Führer Weitenauer”
ist da zu lesen. Unter dem Namen ihrer Schwester Sophie hat Sina Brutscher geschrieben:
„Ich, als Schatzersatz [Anm.: Sophies Freund war an der Front] erlaube
mir, mich einzutragen in dieses Buch. Gipfelgeheul folgt später.”
Darunter steht in gestochener Sütterlinschrift geschrieben:
„Die Richtigkeit dieses Berichtes bestätigt Fritz Weitenauer.”
Das war ein Scherz dieser lustigen Gesellschaft, denn einen Fritz Weitenauer hat es in dem Umfeld nie gegeben. Bei dem „Fritz” handelte es sich um Frieda, die vierte Tochter des Bergführers Wendelin Weitenauer. Dieser hat anscheinend mit seinen Töchtern und deren Freundinnen eine Herbstausflug ins Gebirge gemacht.
Die Führer Wendelin Weitenauer sen., Franz Schraudolph, Kaspar Schwarz sen. und Xaver Steiger, damals alle schon „in der zweiten Lebenshälfte”, sind mit ihren Touristen auch an anderen Stellen in den Blättern vermerkt. Die Beifügung „Senior” bei den Führern Schwarz und Weitenauer ist angebracht, weil deren Söhne gleichen Vornamens später ebenfalls als Führer tätig waren.
Auch der zweite Sohn von Wendelin Weitenauer, mit Namen Alois, hat sich als autorisierter Bergführer betätigt.
Am 4. Oktober war dann für das Jahr 1917 Schluß. Erst acht Monate später erfolgte der nächste Eintrag:
„3. Juni 1918, Sergeant Ross,
Uffz. Mast, 3. Komp. Württb. Geb. Batl.
Sektion Schwaben DuÖAV Aufstieg von Warthüber Westgratin 4 3/4 Std.
Durch Schnee Aufstieg beschwerlich, Ankunft 1 Uhr.”
Im Kleinwalsertal lag eine württembergische Gebirgseinheit zur Ausbildung. Die beiden Soldaten dürften dieser Einheit angehört haben, daher auch der Aufstieg von Westen (Lechleiten), der vom Walsertal her, über den Gemstelpaß, näher lag.
Nachdem Carl Mühlegg aus Sonthofen am 20. Juli 1918 aufgestiegen war, vermerkte Max Paulus aus Plauen im Vogtland anderntags:
„Die letzte Stunde Kletterei ohne Weg, da dieser noch tief unter Schnee.”
Alpenvereinsmitglieder aus Sektionen von Freiburg bis Königsberg und von Essen bis Innsbruck schrieben sich fortan ein. Den Schriften und Berufen nach zu urteilen sind es hauptsächlich Herrschaften in „gesetztem Alter”. Bei den jüngeren Männern ist meist der militärische Dienstgrad vermerkt. Der Erste Weltkrieg geht dem bitteren Ende zu und auch die Blätter des alten Gipfelbuches lichten sich. Nach einer Reihe von Fehlseiten sticht auf dem letzten Blatt noch ein Eintrag hervor:
„18. Sept. 1919
Dr. Felix Rothschild,
Lily Rothschild, Frankfurt a./M., mit Führer Schraudolph.”
Bergführer Franz Schraudolph, der Sohn des legendären Führers Johann Baptist Schraudolph von Einödsbach, war als alpiner Begleiter ein begehrter Mann. Nicht nur die Rothschilds, auch König August von Sachsen („Macht euern Dreck alleene!”) gehörte zu seiner Kundschaft. Den König hatte er ein Jahr zuvor u. a. in der Schweiz auf den Mont Blanc geführt.
Achzig Jahre sind seit dem letzten Eintrag in das alte Gipfelbuch vergangen. Der freistehende Biberkopf, der vermutlich bei der Landvermessung zwischen 1818 und 1820 erstmals bestiegen wurde, ist einer der lohnendsten Aussichtsberge in den Allgäuer Alpen. An einem schönen Tag steigen heute mehr Touristen hinauf als damals in einem ganzen Sommer. Der Biberkopf erträgt es mit Geduld!