Bäckermeister Ludwig Vogler,
Bürgermeister von 1888 – 1902.
Einst nur Landwirtschaft
Über Jahrhunderte war die Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle der Bewohner des oberen Allgäus. Besonders die Menschen in Oberstdorf, zuhinterst im Talkessel der Illerquellflüsse Trettach und Stillach lebend, hatten kaum eine andere Möglichkeit. Nur eine Straße, die den Namen eigentlich nicht verdiente, verband, von Sonthofen über Altstädten und Schöllang kommend, Oberstdorf mit der Außenwelt. Alle Waren von und nach Oberstdorf liefen über diesen holperigen Karrenweg. Nicht genug damit, in Altstädten und Burgberg war Straßenmaut fällig, in Sonthofen und Immenstadt wurde Pflasterzoll erhoben und in Stein und Bihlerdorf hatten die Fuhrleute beim Überfahren der Iller Brückenzoll zu entrichten. Diese Abgaben und die langen Wegstrecken verteuerten die Waren und hielten mögliche Investoren ab. Durch den Niedergang der Leinenweberei und damit des Flachsanbaues zwischen 1820 und 1840 verlor die Bevölkerung auch noch diese geringe Einkommensmöglichkeit. Not und teils Hunger wurden zum ständigen Begleiter der Menschen.
Die Gemeinde sucht Investoren
Als zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Industriezeitalter begann, versuchte man auch in Oberstdorf ein Stück von diesem Kuchen zu erhaschen. Eine Hoffnung zerbrach, als im Jahr 1825 die Gebrüder Bindschedler aus der Schweiz von dem Plan absprangen, „hinter den Halden” (im oberen Oybele) eine Fabrikanlage zu errichten. Der unterschiedlichen Wasserführung der Trettach und auch anderer Gründe wegen erschien den Schweizer Industriellen ein größerer Fabrikneubau in Blaichach erfolgversprechender. Die auf- gestaute Gunzesrieder Ache – oder der „Schwarze Bach”, wie sie im Volksmund heißt – lieferte dort die notwendige Kraft zum Betrieb von Spindeln und Webstühlen.
Nach dem Großbrand von 1865, bei dem über 900 Menschen obdachlos wurden, suchte die Gemeindeverwaltung gezielt nach Industrie-Investoren für Oberstdorf, um Arbeit zu bieten und die weitere Abwanderung zu stoppen. Ein von der ganzen Bürgerschaft einstimmig gefasster Beschluss ermächtigte die Verwaltung (heute Gemeinderat) in der »Allgemeinen Zeitung« in Augsburg folgendes Inserat zu schalten:
„Vorteilhaftes Anerbieten zur Errichtung eine Fabrikgeschäftes
Der Markt Oberstdorf, k.b. Bezirksamt Sonthofen, im Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg gelegen, besitzt hart am oberen Theile des Marktes durch den Trettachfluß eine sehr bedeutende und das ganze Jahr anhaltende Wasserkraft mit beträchtlichem Gefälle, welche zum Betrieb eines größeren Etablissements geeignet ist. Der Markt Oberstdorf hat durch den großen Brand am 6. Mai 1865 - 143 Privatwohnungen verloren, welche aber nun größtentheils wieder aufgebaut sind.
Um den Bewohnern des Marktes Oberstdorf, welche Gemeinde nach der letzten Volkszählung ca. 2.000 Seelen zählt, einen Verdienst zu schaffen, hat die Gemeinde beschlossen, diese so nahe und vortheilhafte Wasserkraft nebst dem hiezu bedürftigen Boden zur Erbauung eines größeren Etablissements und allfalsiger Weganlagen unter den vorteilhaftesten Bedingungen, wovon die wichtigste sein dürfte, daß in diesem Geschäft wenigstens 300 Personen aus der Gemeinde Verdienst und Arbeit finden können, an Unternehmer eines derartigen Geschäftes abzugeben.
Unternehmer werden zur Einsichtnahme der bezeichneten Wasserkraft, welche zur Zeit auf dem niedrigsten Stande des ganzen Jahres sich befindet, wie auch der sonstigen Verhältnisse und des benötigten Vertragsabschlusses hiermit freundlichst eingeladen.
Oberstdorf, 4. Februar 1867
Dünßer, Vorsteher
Die Markt-Gemeinde-Verwaltung
Radmüller, Gemeindeschreiber”
Vorsteher Dünßer ließ sich, in dem von Lehrer Radmüller verfassten Schreiben, für evtl. bevorstehende Verhandlungen einen Spielraum, denn er bot hier nicht Baugrund und Wasserkraft zum Nulltarif an, wozu ihn die Versammlung befugt hatte. Das kgl. Bezirksamt Sontofen stand der Sache wohlwollend gegenüber; aber es fanden sich keine ernsthaften Bewerber.
Für ein neuerliches Inserat in vorstehendem Sinne benötigte Vorsteher Josef Anton Dünßer erneut eine Vollmacht der Bürgerschaft. Um diese zu erhalten, erfolgte die
Bekanntmachung
Wegen Erbauung einer Fabrik in Oberstdorf ist ein Gemeindebeschluß nothwendig, es werden daher die sämtlichen Marktgemeindeberechtigten Glieder gleichfiel ob mänlichen oder weiblichen Geschlecht zur Berathung und Beschlußfassung auf heute Mittag 12 Uhr in das Schulhaus dahier vorgeladen.
In Anbetracht der Wichtigkeit des Gegenstandes hoft man rechtzeitiges und vollzäliges Erscheinen der Gemeindeglieder.
Oberstdorf den 7t Juli 1867
Die Gemeindeverwaltung
Dünßer Vorsteher”
„bekanntgegeben
d. 11. July 1867
Jeger, Gemeinde Diener”
Auch dieser gemeindliche Vorstoß zur Beschaffung von Arbeitsplätzen im Rahmen einer Industrieansiedelung verlief im Sande.
Die große Not zwangen Orts- und Marktgemeinde, unter Bürgermeister Franz Paul Brack, 1874 nochmals so eine Versuch zu starten, aber wiederum ohne Erfolg.
Der Oberstdorfer Johann Gschwender und dessen Söhne Friedrich und Otto versuchten nun in das günstige Angebot der Gemeinde einzusteigen und eine Goldleistenfabrik zu eröffnen, doch lehnte dies die Gemeindeverammlung mit 141 gegen 71 Stimmen ab. Neben anderen Gründen dürfte die geringe Zahl der in Aussicht gestellten Beschäftigten zur Ablehnung beigetragen haben. Friedrich und Otto Gschwender eröffneten im Jahr 1879 in der „unteren Mühle” eine Möbelschreinerei und Eiskastenfabrikation. Im Rahmen der Industrieausstellung in Nürnberg 1882 wurden solch Gschwendersche Eiskasten angeboten und auch prämiert. Das war jedoch das letzte, was man vom Oberstdorfer Eiskasten hörte.
Die Not zwingt zum Handeln
Als nun Oberstdorf 1888 an das Eisenbahnnetz angeschlossen war und dadurch die Transport- und Verkehrswege günstiger wurden, versuchte auch der neue Bürgermeister, Bäckermeister Ludwig Vogler, sein Glück mit der Industrieansiedelung. Er unterhielt auch Verbindungen zu den „Civil-Ingenieuren J. Widmann & A. Telorac” in Kempten, die sich mit der Planung von Wasserbauten und Fabrikanlagen befassten. Dieses Büro hat dann von sich aus die Planung einer Wasserkraftanlage und eines Fabrikgebäudes mit verschiedenen Varianten betrieben. Das geht aus einer Postkarte und einem Schreiben des Ingenieurs Telorac vom 17. Februar 1890 an Bürgermeister Vogler hervor. Mit der Postkarte kündigte er sein Erscheinen an:
„Herrn Bürgermeister Vogler, Oberstdorf
Ersuche Sie mir, morgen /: Dienstag, den 18.ds./Früh 7 Uhr 2 Meßgehilfen zur Verfügung zu stellen. Ich komme heute Abends 9.28 noch nach Oberstdorf, um eine Wassermessung vorzunehmen.”
Das Ergebnis seiner Untersuchungen und Messungen teilte er brieflich mit:
„Herrn Bürgermeister Vogler, Oberstdorf
Theile Ihnen ergebenst mit, daß die Eingabepläne für das Wasserwerk zu einer Fabrik an der Trettach fertig sind.
Weiter kann ich Ihnen mittheilen, daß sich eine äußerst gediegene Firma für die Erbauung einer Weberei in Oberstdorf interessiert und soll ich in deren Auftrag anfragen: wie weit die Gemeinde entgegenkommen will. Es soll das Projekt 1 mit der Fabrikanlage am linken Ufer in Betracht kommen. Die Säge des Gschwender wäre aber nicht nothwendig, da der neue Kanal erst unterhalb dieser Säge würde. Die Gemeinde hätte hauptsächlich für Abtretung des Wasserrechts an der Trettach und für eine billige Grunderwerbung zu sorgen. Da die Wasserwerksanlage an und für sich ziemlich theuer wird, so müßte natürlich die Grunderwerbung möglichst billig werden. Zur Kanal- und Fabriksanlage werden 6 - 7 Tagwerk erforderlich.
Bitt Sie nun die Sache mit Ihren Leuten im Vertrauen zu besprechen und mir gef. umgehend mitzuteilen: ob die Gemeinde auf diese Bedingungen eingeht. Und welcher Preis per Tagwerk zu zahlen wäre. Eventuell werde ich nächsten Montag mit den Herrn hinaufkommen zur Einsichtnahme der Situation. Die Sache hat große Eile und solte vielleicht schon in drei Wochen mit dem Bau begonnen werden.
Bitte auch noch um gef. Mittheilung, mit wieviele Arbeiter zur Zeit für eine Fabrik zu rechnen wäre. Im Interesse der Sache, sollte vorerst Alles noch möglichst geheim gehalten werden.
Mit freundlichsten Grüßen
Ihr ergebenster Telorac”
Enttäuschung
Wir kennen nicht die Wirkung, die dieser Brief aus Kempten ausgelöst hat. Wir kennen auch nicht die Antwort von Bürgermeister Vogler, aber sie muss sehr positiv gewesen sein. Und man stand in Oberstdorf „Gewehr bei Fuß” zu einem persönlichen Treffen mit dem Industriellen. Da kam mit Teloracs zweitem Brief vom 23. Februar die Ernüchterung.
„Herrn Bürgermeister Vogler, Oberstdorf
Bin im Besitz Ihrer werthen Zuschrift vom 21.d.M. Und theile Ihnen mit, das für morgen ein gemeinschaftlicher Augenschein beabsichtigt war. Nun erhalte ich aber soeben Nachricht, daß die Herrn wegen des Ausfalls der Reichstagswahlen, vorerst von dem Unternehmen abstehen. Das fluthartige Anschwellen der Sozialdemokraten und die bedeutende Erstarkung der Oppostion wird auf den Gang der Geschäfte schon Einfluß haben und glauben die Herrn daß bei diesen Aussichten in der nächsten Zeit nicht an die Erbauung von Fabriken gedacht werden kann.
Es thut mir Leid Ihnen dieß mittheilen zu müssen; ich selbst sehe die Sache nicht so schlimm an und hoffe daß sich die Situation in Bälde zum Besseren klären wird.
Mit freundlichsten Grüßen
Ihr ergebenster Telorac”
Die Ansiedelung eines Industriebetriebes und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen hatte hier durch die Veränderung der politischen Verhältnisse wieder einen Rückschlag erlitten. Obwohl in den Archivalien hier eine Lücke ist, scheint es, dass Bürgermeister Vogler und die Kemptener Ingenieure „am Ball geblieben” sind.
Nächste Nachricht über die „Fabrikansiedelung” und schlussendlich über den Namen des Investors finden wir Konkretes im „Beschlußbuch der Gemeindeverwaltung Oberstdorf vom 1. Januar 1888 – 27. Dez. 1900”. Bei dem geheimnisvollen Geldgeber handelte es sich um den in Kempten ansässigen Schweizer Industriellen Heinrich Gyr, der zwischenzeitlich auch die Spinnerei und Weberei in Blaichach übernommen hatte. Unter dem 11. Oktober 1893 ist zu lesen:
„Protokoll Sitzung des Gemeindeausschusses
der Marktgemeinde Oberstdorf
Anwesend: Bürgermeister, Beigeordneter
und 10 Ausschußmitglieder
Betreff:
Verkauf von Gemeindegrund und Überlassung der Wasserkraft zur Anlage einer mechanischen Weberei
Die Verwaltung der Marktgemeinde Oberstdorf hat in ihrer heutigen Sitzung, zu welcher sämmtliche im Gemeindebezirk anwesenden Mitglieder richtig geladen wurden und mehr als die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl erschienen sind, beschlossen:
I
Es wird der Gemeindeversammlung folgender Antrag zur Genehmigung unterbreitet:
II
Zur Anlage einer mechanischen Weberei von mindestens 300 Webstühlen wird an Herrn Heinrich Gyr in Kempten der erforderliche Baugrund zum Preise von M 10.– per Dezimal abgetreten.
III
Die dazu erforderliche Wasserkraft an der Trettach im sogenannten Bannholz Plan No 2734 b u. c wird an Herrn Hch. Gyr unentgeltlich abgetreten.
IV
Herr Gyr erhält das Vorkaufsrecht auf die Wasserkraft der Trettach unterhalb seines Unterwasserkanals bis zum Einflusse der Trettach in die Breitach.
V
Herr Gyr verpflichtet sich, im Monat Mai 1894 das Geschäft in Betrieb zusetzen und hiezu nur Angehörige der Gemeinde Oberstdorf, soweit taugliche sich melden, zu verwenden, und sind hiefür 180 Personen in Aussicht genommen.
VI
Weiters verpflichtet sich Herr Gyr zum Bau und zur Unterhaltung der durch den Kanalbau notwendig werdenden Brücken auf öffentlichen Wegen.
VII
Der im vorgelegten Plan bezeichnete Baugrund für die Fabrik und die Kanalanlage soll tunlichst nicht größer genommen und die Fabrikanlage selbst, d. h. der dazugehörige Grund von Herrn Gyr durch eine Umzäunung begrenzt werden.
L.U.
Vogler, Brgmstr. Huber, Beigeotn, J. A. Vogler, A. Kappeler, Michael Rietzler, Thomas Geißler, Ludwig Jäger, Leo Becherer, Leonh. Huber, Joseph Titscher, Adolph Tauscher, Thaddäus Schugg
Mit welchem Tempo die Sache nun vorangetrieben wurde, ergibt sich daraus, dass bereits zwei Tage später, am 13. Oktober, bei einer Gemeindeversammlung (Bürgerversammlung) der Beschluss des Ausschusses abgesegnet wurde. Bürgermeister Vogler versäumte keine Zeit und unterrichtete den Fabrikherrn noch am gleichen Tag mit einem Telegramm vom positiven Ergebnis der Abstimmung. Als Reaktion darauf erging folgender Brief des Herrn Gyr an die Gemeinde Oberstdorf:
„Kempten, 15. October 1893
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Vogler, Oberstdorf
Ihrem vorgestrigem freundlichen Telegramm entnahm ich, daß die Gemeindeversammlung genau nach meinen Anträgen Beschluß gefaßt hat und freut es mich sehr, daß somit der projektierte Webereibau in Oberstdorf gesichert erscheint. Ich hoffe zuversichtlich, daß sowohl die Gemeinde Oberstdorf, als ich selbst, immer Freude an diesem Übereinkommen haben werden, und danke Ihnen, Herr Bürgermeister, von Herzen für die Mühe, welche Sie sich in dieser Angelegenheit gegeben. [...] Die Eingabe des Conzessionsgesuchs an das kgl. Bezirksamt ist schon vorbereitet. [...]
Mit Hochachtung grüßt
Ihr ergebener Heinrich Gyr
Am 17. Oktober bestätigte Heinrich Gyr in einem Brief den Empfang des Beschlusses der Oberstdorfer Gemeindeversammlung „mit welchem ich in jeder Beziehung einig gehe”.
Am 20. Dezember 1893 protokollierte der kgl. Notar, Justizrat Ignaz Haggenmueller, in Immenstadt den Kaufvertrag für das Grundstück. Herr August Gyr handelte dabei für die Käuferin und Bürgermeister Ludwig Vogler für den Verkäufer, den Markt Oberstdorf. Für die Gesamtfläche von „neun Tagwerk sechs und sechzig Dezimalen gleich drei Hektar neun und zwanzig Ar” hatte die Firma Gyr einen Kaufschilling von 9.660 Mark zu entrichten, die Herr Gyr vor dem Notar in bar an den Bürgermeister aushändigte.
Der Bau beginnt
Mit welch atemberaubender Geschwindigkeit die Behörden arbeiten können, ist an dem Projekt erkennbar. Im Spätherbst 1893 ging der Antrag auf die baurechtliche und die wasserbaurechtliche Genehmigung beim kgl. Bezirksamt in Sonthofen ein. Über den Winter war auch die Hürde bei der Kreisregierung in Augsburg übersprungen und mit der Schneeschmelze des Jahres 1894 wurde der Bau begonnen. Bei einem Vorhaben dieser Größe heute völlig undenkbar, weil einige Dutzend Einsprüche so ein Werk zumindest auf Jahre verzögern und um Zig-Tausende verteuern würden.
Wasserkraftanlage, Weberei und Nebengebäude wurden gleichzeitig gebaut. Dabei fanden über 200 Männer Beschäftigung. Allein für den Ausbau der Wehranlage an der Trettach sowie die Ausschachtungen und Aufschüttungen zum Triebwerkskanal mussten tausende Kubikmeter Erde von Hand bewegt werden. Dutzende von Pferdegespannen waren über viele Wochen hinweg beschäftigt, das Aushubmaterial vom Unterwasserlauf zur Aufschüttung des Oberwasserkanals zu transportieren. Gleichzeitig musste Betonkies bereitgestellt und angeliefert werden.
Der Lageplan des gesamten Werksgeländes bei der Beantragung der Genehmigung für das Spulereigebäude im Jahr 1900.
1 = Webereigebäude, 2 = Kesselhaus, Schosserwerkstätte u. Maschinenzentrale,
3 = Spulerei, 4 = Magazin, 5 = Kamin,
6 = Kohlenstadel, 7 = Öllager,
8 = Betriebskantine („Speisesaal”),
9 = Pförtnerhaus, 10 = Obermeisterhaus,
11 = Waschküche u. Holzlege (für 9 u.10).
Die Weberei und alle Nebengebäude wurden in Ziegelmauerwerk ausgeführt. Allein für den 85 m langen und 23 m breiten zweistöckigen Hauptbau waren bei einer Mauerstärke von 53 cm mehrere hunderttausend Stück Ziegelsteine (Reichsformat) notwendig. Da hatte die Localbahn AG für die gesamte Baumaßnahme „einige” Waggon Steine zu transportieren und Oberstdorfs Fuhrleute durften viele, viele Fuhren vom Güterbahnhof zur Baustelle besorgen. Für die Fundamentierung und die Zwischendecken, die in Stahlbeton ausgeführt wurden, waren hunderte Fuhren Kies und Sand notwendig, die aus Trettach und Stillach herangeführt wurden. Dutzende Arbeiter waren notwendig, um in den Flussläufen das Bachgeschiebe durch Sandgitter zu werfen. In Ermangelung von Maschinen mischten noch ganze Mannschaften auf dem Blech Kies, Sand und Zement mit der Schaufel zu Beton.
Zur Lagerung der angelieferten Rohmaterialien und der fertigen Webwaren enstand nördlich, neben dem Webereigebäude, ein zweistöckiger Magazinbau mit einer Grundfläche von 35 × 13 m. Aus Feuersicherheitsgründen wurden Weberei und Magazin räumlich getrennt, waren aber im Obergeschoss durch einen Glasgang verbunden.
Südlich der Weberei ließ Herr Gyr eine Betriebskantine, „Speisesaal” genannt, errichten, wo die von auswärts kommenden Betriebsangehörigen in den Pausen ihr Essen verzehren konnten. Ein Vierfamilienwohnhaus, das sog. „Obermeisterhaus”, kam im Westen der Anlage zu stehen.
Leider konnte ich bisher keinen Werksvertrag mit einem Baumeister finden, aber es scheint, dass die damaligen Oberstdorfer Unternehmen mit dem Großbau überfordert waren und die Firma des Baumeisters Bufler aus Immenstadt verantwortlich war. Oberstdorf konnte auch allein die notwendigen Arbeitskräfte nicht stellen. Auswärtige Facharbeiter und Helfer mussten herangezogen werden. So ist auch das Gesuch des Löwenwirtes zu verstehen, über das im Protokollbuch berichtet wird.
„Protokoll vom 5. April 1894
Gesuch des Hermann Hofinger zum Löwen dahier um die Erlaubniß
zum Betrieb einer Wirtschaft an der Baustelle der von der Firma Hch. Gyr in Blaichach dahier zu erbauenden mechanischen_ Weberei.
Das Bedürniß im Sinne des Gesuches wird anerkannt, wenn dasselbe sich lediglich auf die Bauzeit beschränkt.
L.U.
Vogler, Brgmstr.
Huber, Beigdtn., Fritz Gschwender, Franz Geißler, Max Jäger,
Ludwig Jäger, David Berktold, Franz Schratt”
Ab diesem Zeitpunkt finden sich im Gemeindearchiv keine Akten mehr über den Bau der Baumwollweberei, die aber noch im Jahr 1894 in Betrieb ging. Mindestens wöchentlich einmal versorgte ein zweispänniges Pferdegespann den Filialbetrieb Oberstdorf mit Halbfertigprodukten (Baumwollzettel und Bobinen) aus der Spinnerei des Hauptbetriebes in Blaichach. Das fertige Baumwolltuch bildete dann die Rückfracht. Auf gleiche Weise wurden die Filialbetriebe „Lexenmühle” und „Nordpol” im Ostrachtal versorgt.
Das Vorhandensein dieses Industriebetriebes in Oberstdorf hatte auch Auswirkungen. Führte einst von der heutigen Oberen Bahnhofstraße in Richtung Osten zum Dummelsmoos nur ein Schrotweg, so war jetzt, allein schon zum Bau der Weberei, eine Straße notwendig. Ein Protokoll vom 17. November 1895 zeigt uns dies auf.
„Betreff: Festsetzung der Baulinien an der Fabrikstrasse
Die Gemeindeverwaltung beantragt, daß die Baulinien zu beiden Seiten der Fabrikstrasse, entsprechend den Vorschlägen des Herrn Amtstechnikers Schneider in Sonthofen dem Strassenzuge folgend, je 4 Meter von der Strasse zurück festgesetzt werden.”
Weitere Bauten werden notwendig
Mit der Wasserkraft des Werkskanals wurde die mechanische Weberei nach Fertigstellung betrieben. Diese Kraft, die mit Transmissionswellen übertragen wurde, reichte aus, um die Webstühle in den vier Sälen arbeiten zu lassen. Aber es stellte sich heraus, dass in den wasserarmen Monaten die erzeugte Energie zu gering war. Als Folge davon musste in den wasserreichen Monaten fast Tag und Nacht gearbeitet werden, während in den anderen Zeiten „Feierschichten” notwendig waren. Diesem Missstand wurde durch Investitionen im Jahr 1898 abgeholfen.
Wiederum nach den Plänen der Firma Widmann & Telorac erfolgte im Jahr 1898 eine Erweiterung der Heizungsanlage. Es entstand ein größeres Kesselhaus, eine anschließende Schlosserwerkstätte und eine erweiterte Maschinenzentrale. Mit zwei Flammrohr-Dampfkesseln „System Kuhn” wurden acht Atmosphären Druck erzeugt, um in der Zentrale eine Dampfmaschine in Bewegung zu setzen. Die Dampfkraft sicherte nun zusammen mit der Kraft der Turbine den Betrieb der Weberei ganzjährig, unabhängig von der Wasserführung der Trettach. Zu Spitzenzeiten wurden allerdings täglich bis zu 120 Zentner Kohle verheizt. Die Rauchgase wurden durch einen unterirdischen „Fuchs” in den 30,5 m hohen freistehenden Rundkamin geführt und, wie damals üblich, ungereinigt in die Umwelt entlassen.
Die „Fabrik” änderte die Gesellschaftsform und trat künftig als „Allgäuer Baumwollspinnerei u. Weberei Blaichach, vormals Heinrich Gyr” auf. Als deren Direktor fungierte Herr Rudolf Zellweger.
Der Zuzug von Arbeitskräften brachte neben der Wohnraumbeschaffung auch noch ein soziales Problem mit sich, nämlich die Gewährung des Heimatrechtes. Nach damaliger Gesetzeslage musste die Heimatgemeinde im Rahmen der Armenpflege für in Not geratene Mitbürger aufkommen, denn eine landesweite „Sozialhilfe” gab es noch nicht. Die Gemeinden versuchten daher für Personen, die sich außerhalb ihrer Gemeindegrenzen aufhielten, das Heimatrecht in der Aufenthaltsgemeinde zu erreichen. Allerdings ging die Gemeinde Oberstdorf bei den Arbeitskräften der Weberei kein großes Risiko ein, weil diese alle, nach den neuen Sozialgesetzen, kranken- und invalidenversichert waren. Ein Beispiel zeigt das Gemeindeprotokoll vom 23. April 1899 auf.
„Heimatrechtverleihung an den
Fabriknachtwächter J. G. Seltmann v. Eckarts
Es wird dem Fabriknachtwächter Johann Georg Seltmann von Eckarts, seit vielen Jahren in Oberstdorf wohnhaft und besteuert, auf Grund des Art. 16 Abs. 2 des Heimatgesetzes, in der Gemeinde Oberstdorf das selbständige Heimatrecht verliehen, nachdem die bisherige Heimatgemeinde Eckarts hierauf Anspruch auf Grund des Art. 7a des Heimatgesetzes erhoben hat.”
Die „Allgäuer Baumwollspinnerei und Weberei” zeigte sich schon früh als sehr sozial gegenüber den Mitarbeitern. So ging die Firma auch das Wohnungsproblem an. Die Gemeindeverwaltung hatte in der Sitzung vom 31. März 1900 über einen Bauantrag zu befinden.
„Plan über Erbauung eines Arbeiter-Wohngebäudes der Allgäuer Baumwollspinnerei und Weberei Blaichach in der Fabrikstraße [Anm.: heute Trettachstraße] dahier. Gegen den vorliegenden Bauplan besteht keine Erinnerung [Anm.: kein Einwand], wenn bei der Erbauung die für die Fabrikstraße bereits festgelegte Baulinie eingehalten wird.
Vogler, Brgmstr., Huber, Beigdtn., Leo Becherer, M. Jauß, L. Jäger, Franz Geißler, Max Jäger, Franz Schratt, David Berktold, Johann Huber, A. Kappeler”
Die Maurerarbeiten zu dem vierstöckigen Wohnbau wurden noch im gleichen Jahr von der Firma Bufler aus Immenstadt ausgeführt. Die Zimmermannsarbeiten besorgte Zimmermeister Josef Fidel Huber aus Oberstdorf. Im Jahr 1904 folgte ein baugleiches weiteres Haus mit acht Vier-Zimmer- Wohnungen. In diesen zwei „Fabrikhäusern” fanden 16 meist kinderreiche Arbeiterfamilien Unterkunft bei sozialer Miete.
Weberei und Wohngebäude waren Jahrzehnte unabhängig von der örtlichen Wasser- und Stromversorgung. Elektrizität lieferte die eigene Anlage, die in wasserarmen Zeiten von einer Dampfmaschine unterstützt wurde. Für das Trink- und Brauchwasser hatte die Firma am Dummelsmoos ein Wasserrecht erworben und das „köstliche Nass” floss von dort durch eine eigene Leitung in den Betrieb und bis in den vierten Stock der Wohngebäude. Auf den Lohnabrechnungen der Betriebsangehörigen standen daher neben den Abzügen für Lohnsteuer, Kranken- und Invalidenversicherung auch die für Strom, Miete und Wasser. Als es 1906/07 darum ging in Oberstdorf ein neues Schulhaus und eine „Kleinkinder-Bewahranstalt” (Kindergarten) zu erstellen, hat die Firma einen sehr namhaften Betrag als Spende eingebracht.
Das gesamte Werksgelände, einschließlich der Neubauten, der Wohngebäude an der Fabrikstraße und Teile der Kanalanlagen, wurde mit einem Staketenzaun eingefriedet. Nur durch das Eingangstor im Südwesten gelangte man auf das Betriebsgrundstück. Um unbefugten Zutritt zu unterbinden, entschloss sich die Firmenleitung 1890 ein Pförtnerhaus zu errichten und dort die Berechtigung für den Einlass zu prüfen. Dem nicht genug, gleichzeitig neben dem Bau des großen Wohnhauses und des Pförtnerhauses wurden Pläne für ein weiteres Betriebsgebäude, ein Spulerei, zur Genehmigung eingereicht.
„Blaichach, 9. Mai 1900
An das
koenigl. Bezirksamt
Sonthofen
Wir erlauben uns einem Kgl. Bezirksamte Sonthofen beifolgend doppelt mitgefertigte Baupläne zu einem Anbau an das Fabrikhauptgebäude unserer Filialweberei in Oberstdorf mit der höflichen Bitte zu unterbreiten uns hiefür gütigst Baubewilligung ertheilen zu wollen.
Je eine Baubeschreibung ist den Plänen beigefügt.
Hochachtungsvoll
Allgäuer Baumwoll Spinnerei u. Weberei Blaichach
vorm. Heinrich Gyr.
Zellweger Direktor.”
Am 15. Mai schickte das Bezirksamt den Vorgang an den „Herrn königl. Fabriken= u. Gewerbeinspektor” nach Augsburg, wo die Pläne bereits am 16. Mai überprüft und ohne Erinnerung zurückgeschickt wurden. Amtstechniker (heute Kreisbaumeister) Schneider prüfte diese nun seinerseits und am 20. Mai lagen die Pläne dem Bezirksamt wieder vor. Für heutige Verfahrensabläufe undenkbar, konnte sofort mit dem 22 m langen und 12 m breiten Bau begonnen werden. Neben Daten für Technik und Feuerschutz enthielt die Baubeschreibung der Firma Telorac auch Vorgaben für den Schutz der Bediensteten:
„[...] Im neuen Saalanbau werden 10 Arbeiterinnen beschäftigt und im anschließenden Saal des Hauptbaues 30 Arbeiterinnen, zusammen 40 Arbeiterinnen, für welche im Altbau 2 Sitzaborte vorhanden sind.
Die Ventilation des Anbaues wird an diejenige des Hauptsaales angeschlossen. Behufs der Versorgung der Arbeiterinnen mit frischem Trinkwasser ist in der südöstlichen Ecke des Anbaues ein laufender Brunnen vorgesehen.
Zur Ablegung von Kleidern ist im Altbau ein eigener Raum vorhanden, der auch noch für die im neuen Arbeitssaal beschäftigten Arbeiterinnen ausreichend groß ist. In diesem Raum ist auch für ausreichende Waschgelegenheit Sorge getragen. [...]”
Als der Betrieb nach den vorstehenden Baumaßnahmen voll lief, waren in den vier Websälen rund 120 Personen beschäftigt. Insgesamt dürften etwa 150 Personen in dem Betrieb Arbeit gefunden haben.
Für einen Ort der Größe Oberstdorfs stellte das Unternehmen eine erhebliche Steuerkraft dar. Die Bediensteten und ihre Familien waren für Handwerk, Handel und Gewerbe ein nicht unerheblicher Kundenstamm.
Über 100 Jahre sind seither vergangen, zwei Weltkriege und zwei Geldentwertungen haben ein völlig neues Umfeld geschaffen. Der Import von Gütern aller Art aus Billiglohnländern brachte eine Umschichtung der Industrie mit sich.
Bedingt durch den Niedergang der Textilindustrie in Deutschland ging im Jahr 1960 die „Allgäuer Baumwollspinnerei Blaichach” mit allen Liegenschaften in den Besitz der „Robert Bosch GmbH, Stuttgart” über. Nach verschiedenen Nutzungen der Oberstdorfer
Betriebsgebäude – zum Teil als Materiallager der Bundeswehrkasernen in Sonthofen – konnte der Markt Oberstdorf zusammen mit dem SWW (Sozialwirtschaftswerk) das Werksgelände erwerben. Die Wasserkraft wird heute von den Gemeindewerken zur Stromerzeugung genutzt. Nach Abbruch der Weberei, des „Obermeister- Hauses” und des Baumwollmagazins wurde das Areal dem Kindergarten- und Wohnungsbau zugeführt. Erst vor etwa vier Jahren fielen die beiden Wohngebäude an der Trettachstraße der Spitzhacke zum Opfer.
Heute erinnern nur noch das Pförtnerhaus, die Wasserkraftanlage und die ehemalige Betriebskantine der „Fabrik” an Oberstdorfs einzigen Industriebetrieb. Über sechs Jahrzehnte hatten viele hundert Menschen dort Arbeit gefunden.