Abfahrt der Reservisten vom Oberstdorfer Bahnhof.
Mobilmachung! Ein Wort, das ich als kleiner Bub erstmals hörte (lesen konnte ich noch nicht), als die Polizei im März 1938 nachts meinen Vater weckte, um zum Österreich-Einmarsch bereit zu stehen. Genau so war es meiner Mutter ergangen, als ihr Vater bei der Mobilmachung 1914 von Kaiser und König „zu den Fahnen gerufen“ wurde.
Mobilmachung! Gerade 100 Jahre sind vergangen, seit der I. Weltkrieg ausbrach und unsägliches Leid über den ganzen Erdball brachte. Viel wurde in der Folgezeit an Biertischen und in Parlamenten diskutiert und über Ursache und Schuld geschrieben. Es ist hier nicht der Platz, um über Politik und Machtverhältnisse im damaligen Europa zu schreiben und schon gar nicht ein Urteil zu fällen. Aber ich denke bei diesem Thema immer wieder an einen Ausspruch meiner Großmutter: „Ui Bock allui schticht it!”
Mobilmachung! Die politischen Spannungen des Jahres 1914 hatten sich hochgeschaukelt: Die Auslandsreisen von Gesandten verschiedener Staaten häuften sich und die Drähte der Geheimdiplomatie glühten. Es fehlte nur noch der berühmte „kleine Funke” ins sprichwörtliche Pulverfass. Mit anderen Worten: Es fehlte also der Grund, um mit „Anstand” einen Krieg beginnen zu können. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gattin Sophie, am 28. Juni in Sarajevo, war dann der Funke, der einen Weltbrand entfachen sollte. Es ist – wie gesagt – nicht die Aufgabe der Heftreihe „Unser Oberstdorf” und schon gar nicht meine, die damals verfehlte europäische Politik zu erörtern. Ich wage deshalb auch nur den Versuch, die damalige Stimmung hier im Markt Oberstdorf zu schildern.
Die Wogen der vaterländischen Hochstimmung nach dem gewonnenen „70er-Krieg” haben auch Oberstdorf erreicht. Jedes Jahr am 2. September, dem Tag der Schlacht von Sedan, wurde mit Bergfeuern und großen Reden der „Sedantag” gefeiert. Man ließ dabei Kaiser und König hochleben. Die jungen Männer trugen mit Stolz des „Königs Rock”, wenn sie ihre Militärzeit abdienten und es hingen in nicht wenigen Stuben Bilder aus dieser „aktiven Dienstzeit”. Auch mit entsprechend bemalten Bierkrügen und Porzellan-Tabakspfeifenköpfen hielt man die Erinnerung an die Kompanie oder das Regiment aufrecht. Der Veteranenverein war ein Hort, sich mit den einstigen Kameraden zu treffen, doch waren diese Traditionen meilenweit entfernt von Militarismus oder Kriegslüsternheit.
Die Informationen über die politische Lage in Europa kamen hier bei der Bevölkerung nur spärlich an. Fernsehen und Radio gab es noch nicht und nur wenige hielten sich eine Tageszeitung. Ja, und was diese Zeitung an Informationen bot, das war fein säuberlich „vorsortiert”, man könnte es als Hofberichterstattung bezeichnen; zudem waren die Geschehnisse, über die da berichtet wurde, weit, weit, ja sehr weit von Oberstdorf entfernt.
Mehr informiert war da schon ein Großteil von Oberstdorfs Gästen, denn sie waren es, die eine überörtliche Presse lasen. Sie sahen die drohende Kriegsgefahr. In Gasthöfen, Hotels und auf den Straßen diskutierten Grüppchen und Gruppen von „Fremden” das Geschehen; eine Abreisewelle war die Folge. Wohl denen, die noch vor dem Ultimo des Monats Juli die Eisenbahn nutzten, viele der später Reisenden blieben auf der Strecke „stecken”, denn ab der Mobilmachung waren die Bahnstrecken großteils für die Truppentransporte reserviert.
Als die drohende Kriegsgefahr offenkundig wurde, konnte die Stimmung in der einheimischen Bevölkerung unterschiedlicher nicht sein. Junge Heißsporne träumten von Siegen, ganz junge noch Ungediente meldeten sich freiwillig zum Militär und die Älteren mahnten, denn ihnen sagte die Lebenserfahrung nichts Gutes voraus. Aber lassen wir doch einen Zeitzeugen, den Bergführer Otto Rees, „de Logelar”, zu Worte kommen:
„[...] Im Orte herrschte Samstag auf Sonntag [Anm. 1. auf 2. August] reges Leben. War es doch für den Krieger der letzte, vielleicht der allerletzte Abend in seinem Leben, den er in der Heimat, bei Angehörigen, Bekannten und Freunden verbringen konnte. Die Gaststätten waren überfüllt, denn der frische Trunk auf den ersten Sieg durfte nicht fehlen.
Sonntag, 2. August: Erster Mobilmachungstag. Durchwegs bemerkte man ernste, ja betrübte Gesichter, die Stimmung war ziemlich gedrückt, denn daß der kommende Krieg wohl der furchtbarste werden wird und die früheren Kriege alle in den Schatten stellt, daran zweifelte niemand. Hochw. Geistl. Rat Heinle hielt in dichtbesetzter Kirche eine Abschiedspredigt an die ausziehenden Pfarrkinder. Bürgermeister Fritz Gschwender sprach nach dem Gottesdienstes auf dem Marktplatz zu den Männern, die nun Gut und Blut für Heimat und Vaterland opfern müssen, war jedoch so ergriffen, daß er kaum weiterreden konnte. Mittags mußten die ersten Oberstdorfer einrücken. Von Montag ab verkehrten nur noch drei Züge. Mittags 10 Uhr 57 Minuten, abends 7 Uhr 47 Minuten, nachts 1 Uhr 47 Minuten, da sämtliche Eisenbahnen der Militärverwaltung unterstellt waren. Das Gros der Reservisten marschierte Montag, den 3. August, 10 Uhr 47 Minuten, ab. Vor dem Gasthof zum Hirschen wurde aufgestellt. An der Spitze die Tambours Hans Lacher und Michael Berktold. Unter Trommelwirbel bewegte sich der Zug dem Bahnhof zu. Die Straßen waren dicht gefüllt von der Bevölkerung Oberstdorfs, alles, aber gar alles nahm Anteil an der großen Zeit und kein Auge blieb trocken beim Ausmarsch dieser kraftstrotzenden Männer. Jedermann wollte nochmals Abschied nehmen von den Söhnen Oberstdorfs, die der Zug von der blühenden, sonnigen Heimat hinweg in die Schrecknisse des Krieges führte. Nicht umsonst sagte am Bahnhof ein altes Mütterlein: „Die Russe weareed reacht gugge, wenn die Ma alle kummet”.
Jeder Tag war Zeuge neuer Einberufungen und jeden Tag hörte man das Trommeln als schaurige Marschmusik, bis der letzte Tambour auch eingerückt war. In ungefähr 14 Tagen waren alle gestellungspflichtigen Männer des Ortes zum Heeresdienst eingezogen. Etliche wurden als überzählig, andere als vorläufig untauglich entlassen. Am 1. September war die Einberufung des gedienten Landsturmes. Diese Ordre rief manchen guten Vierziger zu den Waffen. Alles war mit Siegeszuversicht beseelt. ,An Weihnachten bin ich doch wieder zuhause’ [...].”
Dieser Wunschtraum ging nicht in Erfüllung.
Welche Gedankengänge bedrängten den Einzelnen, der den Gestellungsbefehl erhielt, der von seinem täglichen Erwerb, seiner Feldarbeit, seiner Werkstatt, Backstube, vom Bau und schon gar von seiner Familie weggerissen wurde? Mit welchen Gedanken wohl Eduard Bußjäger, der Hirt von Bierenwang, Ludwig Kaiserswerth, der Hirt vom Hintertaufersberg, Hans Kennerknecht, der Untersenn vom Breitengehren, oder Stanislaus Speiser, der Senn von der Sölleralpe, den Gang ins Tal und den weiteren Weg gegangen sind? Alle vier Älpler kehrten nicht mehr in die Heimat zurück.
In bald jeder Familie blieb ein Platz am Tisch leer, ja es fehlten zwei, drei oder noch mehr Angehörige. Allein im August erreichte über 300 Oberstdorfer der Gestellungsbefehl. Wie sollte es weitergehen mit der Ernte? Wie sollte das Geschäft weiterlaufen, wo der Meister und die Gesellen fehlten? Wie sollte Feld- und Waldarbeit vor sich gehen, wo die besten Pferde abgeliefert werden mussten? Tausend Fragen drängten sich den Daheimgebliebenen auf und dazu die Sorgen um die im Felde Stehenden. Noch keine drei Wochen nach Kriegsbeginn kam die erste Todesnachricht aus dem Westen, wenige Tage später für drei weitere Opfer. Darunter auch der Tambour, der zum Monatsbeginn noch die Gruppe beim Gang zum Bahnhof angeführt hatte. Jeden Tag aufs Neue bangen, was bringt der Postbote heute? Einen Liebesbrief, ein Lebenszeichen ... oder eine Todesnachricht?
Viereinhalb Jahre Bangen, Hoffen, Hungern und Not hatten die Menschen vor sich. Dem Schlusssatz von Otto Rees, „es war durchwegs gut, daß man nicht wußte, was für eine schwere Zeit noch bevorstand“, kann man nur beipflichten. Es ist doch ein Jammer, dass sich gebildete Menschen nicht an einen Tisch setzen und über Probleme reden können. Nachdem Millionen Menschen zu Schaden gekommen und Billionen an Sachwerten zerstört sind, war es möglich zu sprechen über Probleme, deren Lösung zuvor mit einem Bruchteil an Kosten hätten geregelt werden können.
Und – was hat die Menschheit daraus gelernt?
Es werden heute Volksentscheide über acht oder neun Gymnasialschuljahre, über Rauchverbote in den Gaststätten oder über Studiengebühren (ich weiß, alles nur in Bayern) herbeigeführt, aber es bestimmen auch heute noch in jedem Volk Wenige über Krieg und Frieden. Warum muss in so einer einschneidenden Entscheidung nicht das Volk befragt werden?
Ich bin mir sicher, es würde sich nie eine Mehrheit für den Krieg finden, vor allem, wenn jene, die ihn wollen, ihn selbst ausfechten müssten.