An Maries Geburtstag

von Eugen Thomma am 01.12.2015

„Ach, sie wissen gar nicht wie schön sie es hier haben. Sie leben hier doch das ganze Jahr über im Urlaub. Wir müssen unsere 14 Tage oder drei Wochen teuer bezahlen und sie dürfen ständig in dieser bezaubernden Landschaft leben. Sie haben ja gar keine Ahnung, unter welchem Stress wir leben und hier diese Ruhe und Beschaulichkeit.” Das sind so Sprüche, die jeder Alphirte, jeder Bergbauer und Bewohner unserer Hochtäler kennt, sie schon vor vielen Jahrzehnten hörte und auch heute noch hören muss.

Diejenigen, die solche Weisheiten von sich geben, verbringen einen sorgenfreien Tag in der herrlichen Landschaft und das bei schönem Wetter. Dieses Glück sei ihnen von Herzen gegönnt. Wo aber sind diese Leute bei Regen, Nebel, Sturm und Schlagwettern, wo sind sie bei eisigen Kältegraden, bei meterhohen Schneeverwehungen und Lawinengefahr? Wo sind sie? Zu Hause in der warmen Stube oder am Arbeitsplatz, der heute mit dem Auto, dem Bus oder der Bahn bequem und sicher und kaum abhängig von der Witterung erreicht werden kann. Welche Erschwernisse gerade die Bewohner der Täler, in Oberstdorf „Teelrar” genannt, im Laufe eines Lebens hinnehmen müssen, bedenken selbst nur wenige Einheimische. Ein oder zwei Stunden Fußmarsch – zum Teil noch mehr – waren notwendig, um zum nächsten Ladengeschäft, Bäcker, Arzt, Tierarzt, Apotheker, ja, zur sonntäglichen Kirche zu kommen. Und dabei spreche ich jetzt vom Sommer oder zumindest der schneefreien Zeit.

Die Neuzeit hat wohl durch verbesserte Verkehrswege, durch Kraftfahrzeuge, Telefon und Funk den Bewohnern große Erleichterungen gebracht, aber auch heute noch steht der Mensch den Gewalten der Natur hilflos gegenüber. Wir haben das gerade durch die Hochwasserlage und die gewaltigen Vermurungen des Jahres 2005 wieder erlebt.

Welche Sorgen, Nöte, Ängste hatten die Menschen vor dem Winter, wo sie öfters Tage und Wochen von der Außenwelt völlig abgeschnitten waren. Werden die Vorräte für Mensch und Vieh ausreichen? Sind Haus und Stall den gewaltigen Schneemassen gewachsen? Und ist das Haus sicher, dem im letzten Winter die Lawine schon so nahe gekommen war? Die Menschen konnten kaum auf Hilfe warten. Sie mussten sich selbst helfen.

Die Bergbauern kannten die Gefahren, mussten aber immer wieder hinaus in die Natur, um das Bergheu oder das im Herbst geschlagene Holz herunter zu holen. War z. B. die Quelle, die dem Haus für Mensch und Vieh Wasser spendete, versiegt, barg schon der Gang zum nächsten Wasser neben unsäglichen Mühen auch Gefahren. Bei den riesigen Schneemengen war an ein Freischaufeln des Weges nicht mehr zu denken. Man watete bis zum nächsten Bach und trieb einige Stück Jungvieh in der entstandenen Gasse so lange hin und her bis ein regelrechter Trampelpfad entstand. Dann konnte das Vieh am Bach getränkt und für das Haus das notwendige Wasser herangeschafft werden. Bei einer Reihe von Gehöften drohte außerhalb des Hauses schon bei den geringsten Verrichtungen Lebensgefahr.

An Hand einer kleinen Geschichte, die sich vor gut 100 Jahren zugetragen hat, möchte ich so eine Situation beleuchten. Der ältere Bruder und eine Cousine der „Titelheldin”, mit denen ich so manche Stunde zusammengesessen habe, haben mir den Vorgang, unabhängig voneinander, schon vor mehr als 25 Jahren erzählt. So, wie ich die Geschichte gehört habe, habe ich sie damals aufgeschrieben und so gebe ich sie heute wieder.

Am 16. Januar des Jahres 1907 kündigte sich im Stillachtal am Anatswald bei dem Bauern und Jagdgehilfen Seraphin Berktold, besser gesagt bei dessen Ehefrau Maria, Familienzuwachs an. Zu der bevorstehenden Geburt sollte in Oberstdorf die Hebamme geholt werden. Dies war zwar kein weltbewegendes Ereignis, doch ließen die äußeren Umstände unsere Geschichte entstehen.

Der Winter 1906/07 war im Allgäu der Jahrhundertwinter. Schneehöhen von mehr als zwei Metern und über 30 Kältegrade bannten nicht nur in Oberstdorf die Bewohner meist in die Häuser. Das Leben draußen erstarrte förmlich. Wer nicht zwingend hinaus musste, blieb in der warmen Stube oder der Werkstatt. Nur die Schulkinder freuten sich, denn sie durften zu Hause bleiben. So waren die Verhältnisse in Oberstdorf, im „Tal” (Stillachtal) war es noch weit schlimmer. Wenn auch die Kälte dort etwa gleich war, so wuchs die Schneehöhe vom Ried in Richtung Birgsau ständig. Lawinen bedrohten die Straße von der „Speirube” (Westabhang des Himmelschrofen gegenüber der Zimmeroybrücke) bis zum Anatswald. Straße habe ich geschrieben? Ich meine natürlich den Schotterstreifen, der hochtrabend als Straße bezeichnet wurde. Der Untergrund spielt in unserer Geschichte allerdings keine Rolle, denn er war mehrere Schuh hoch mit Schnee bedeckt. Links und rechts türmten sich Schneewände von mehr als Mannshöhe auf. Vom „Tal” führte nur diese eine schlittenbreite Hohlgasse ins „Dorf” und jene Gasse war auch schon wieder mit einer dicken Neuschnee- decke ausgepolstert.

Marie - Heft 67

Der Weiler Birgsau im Stillachtal um das Jahr 1905

So waren die Verhältnisse, als Mathies Jochum seinen aus dem benachbarten Lechtal stammenden Knecht Maniel (abgeleitet von Emanuel) einspannen und die Hebamme in Oberstdorf holen hieß. Der berg- und wettererfahrene „Leachtlar” band zwei Schlitten übereinander, spannte das Ross ein und nahm den Kampf gegen die Natur auf.

Entlang dem ganzen Leiterberg watete das Pferd bis zum Bauch im Schnee. Dann und wann galt es schon abgegangene kleinere Neuschneelawinen zu queren. Immer hatte Maniel dabei ein Auge hangaufwärts gerichtet, denn immer neue „Länden” stoben zu Tal und bedrohten Mann und Ross. Schaumflocken bedeckten bereits das brave Tier, das, instinktiv die Gefahr witternd, den Weg für den Fuhrmann bahnte.

Marie - Heft 67

Der Knecht Maniel (li.) in späteren Jahren, mit einem Freund im Rappenalptal. Im Hintergrund der Weg zur Angererhütte und auch zur Mindelheimer Hütte.

An der größten Gefahrenstelle, der „Flucht”, dort wo heute „Deutschlands längste Lawinengalerie” die Zufahrt ins Stillachtal und zur Fellhornbahn sichert, erwartete das Gespann eine besondere Überraschung. Eine kleinere Staublawine hatte den Weg total verschüttet. Was sollte der Fuhrmann tun? Unter normalen Umständen wäre er hier umgekehrt, um Hilfe zu holen, aber Maniel wusste ja, was er für einen Auftrag hatte. Er wagte also den Versuch. Auf seinen Fuchsen konnte er sich verlassen, denn mit ihm arbeitete er im Bergwald bei der Holzbringung zusammen. Mit hocherhobenem Kopf arbeitete sich das Pferd durch die Schneemassen, so dass die pulvrige Pracht auf seinem Rücken wieder zusammenfiel. Unter Aufbietung aller Kräfte kamen Mann und Ross durch den Wall und erreichten nach Stunden Oberstdorf.

Schnell war der treue Vierbeiner gefüttert und getränkt. Zwischenzeitlich hatte die alarmierte Hebamme ihre sieben Sachen gepackt und nun ging’s auf dem gleichen Weg zurück ins Tal. Nur, dass jetzt auf dem oberen der beiden Hornerschlitten die eingemummte Geburtshelferin mit ihrem vollgepfropften Deckelkorb saß.

Abgesehen von den Strapazen und den ausgestandenen Ängsten ging alles gut bis zum „Kalten Brunnen”. Südlich der Stelle, wo heute die Brücke über die Stillach nach Faistenoy und zur Fellhornbahn führt, scheute plötzlich das Ross und drängte zurück. Dem Fuhrmann war durch den Pferdeleib die Sicht nach vorne versperrt. Erst als er zu der schreienden Geburtshelferin auf den Schlitten sprang, sah er die Ursache des Aufenthalts. Ein Hirsch drang von vorne auf das Pferd ein, das ängstlich wiehernd zurückwich.

Marie - Heft 67

In der Talenge, der „Flucht”, tost rechts die Stillach und links ragt ein steiler Felskopf empor. Dies war einst eine der größten Gefahrenstellen des Weges ins Stillachtal.

Marie - Heft 67

Der im Sommer so idyllisch wirkende Fahrweg, entlang dem Leiterberg, war in der ganzen Länge von Lawinen bedroht.

Links und rechts mehr als mannshohe Schneewände, das scheuende Pferd, auf dem Schlitten die kreischende Hebamme, Maniel war in großen Nöten. Er versuchte durch Schreien den Hornträger zu verscheuchen, doch nur mit dem Erfolg, das sich das Tier jetzt gegen ihn wandte. Das war dem guten Mann dann doch zu bunt. Er riss das „Zillschitt” (Waagscheit) von der Land und versetzte dem Hirsch einen solchen Schlag, dass dieser sofort zusammenbrach. Mit Hilfe der zitternden Frau zog der Fuhrmann den so unwaidmännisch hingestreckten „König des Bergwaldes” zur Seite und zwängte sich mit Ross und Schlitten durch die enge Gasse hindurch. Maniel kam gut nach Anatswald und lieferte dort die sehnlichst erwartete Hebamme ab. Sie war gerade noch recht zu ihrer Verrichtung angekommen.

Der Hirsch muss durch irgend einen Umstand erschreckt worden sein und wurde im „Eldrach” talauswärts flüchtig. Plötzlich sah er in der engen Wegbiegung das Pferd vor sich. Wie die Hebamme später erzählte, hatte das Tier mehrmals versucht die seitlichen Schneewände zu erklimmen. Dazu reichten dem ermatteten Hirsch aber die Kräfte nicht mehr. In höchster Not hat er dann Ross und Fuhrmann angegangen.

Ach ja, die Hebamme, die hat ihren Auftrag ausgeführt und einem gesunden Mädchen in die kalte und verschneite Welt geholfen. Marie, wie die Mutter, wurde es getauft. Wäre es ein Bub gewesen, hätte er sicher Hubertus heißen müssen. Aber Marie wurde ein sehr hübsches Mädchen und später auch eine sehr tüchtige Frau. War schon die Geburt mit der winterlichen Gefahr der Lawinen verbunden, so wollte es das unerbittliche Schicksal, dass eine Lawine in Mariens späteren Lebensweg eingriff. Ihr erster Ehemann ist im Alter von erst 31 Jahren beim Heuzeug durch eine Lawine ums Leben gekommen**.

Maniels „Wildfrevel”, der zudem noch in der gesetzlichen Schonzeit erfolgte, war eine klare Situation des strafrechtlichen Notstandes. Seraphin, Maries Vater, gab dem niedergestreckten Hornträger, der sich nochmals hochrappelte, den Fangschuss. Das Geweih des Hirsches, der aus dem Revier des Prinzregenten Luitpold von Bayern stammte, ist heute noch im Besitz von Mariens Sohn. Oberförster Wolfgang Hohenadl hatte die abnorme Trophäe der kleinen Marie als bleibende Erinnerung an die besonderen Geschehnisse an ihrem Geburtstag geschenkt.

Wenn in unserer Wohlstandsgesellschaft der Schneepflug eine halbe Stunde später als üblich kommt, scheint schon eine Welt einzustürzen. Der aufgeschobene Schneehaufen vor dem Garagentor ist schon Grund genug, um zum Telefon zu greifen und eine geharnischte Beschwerde loszulassen. Ach ja, sobald der Schnee geräumt ist, muss die Fahrbahn auch schon gestreut sein. Verschiedene Menschen können es nicht verstehen, dass sich die Natur nicht mit Geld dirigieren lässt.

Marie - Heft 67

Der Vater der kleinen Marie, der Jagdgehilfe Seraphin Berktold (re.), mit seinem Schwager Adolf Vogler, nach einer Adlerjagd 1905.

Marie - Heft 67

Das abnorme Geweih des ungeraden „Achters”

Im Sperrbachtobel, durch den heute der Fernwanderweg E 5 zur Kemptner Hütte und zum Mädelejoch hinauf führt, findet sich ein Kreuz und eine bronzene Gedenktafel. Diese künden von der gefahrvollen Arbeit der Bergbauern beim winterlichen Heuzug und erinnern an den Unglücksfall vor 80 Jahren. Im Laufe der Jahrzehnte hat der Zahn der Zeit an den Gedenkstätten genagt. Vergangenen Sommer hat sich Franz Ohmayer dieser angenommen und mit Verwandten der Opfer Verbindung aufgenommen. Die Familie Brutscher hat die Renovierung übernommen, so dass die Gedenkstätte wieder in würdiger Form von dem Unglück kündet.

Marie - Heft 67

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