Ein Buch, das nicht übersehen werden sollte, das viele Möglichkeiten eröffnet

von Dr. Thaddäus Steiner am 01.12.1986

Historisches Ortsnamenbuch von Bayern. Schwaben Bd. 7: Landkreis Sonthofen. Bearbeitet von Richard Dertsch. München 1974.

Vor nunmehr 12 Jahren ist dieses Werk von Dr. Richard Dertsch erschienen. Es war sein viertes Ortsnamenbuch nach Kaufbeuren, Markt Oberdorf und Kempten. Damit ist das Allgäu die namenkundlich besterforschte Landschaft Bayerns geworden; denn außer dem Altlandkreis Füssen fehlt kein Teil mehr, nachdem Heinrich Löffler 1973 auch den Landkreis Lindau bearbeitet hatte. Lohnt es sich denn nach über einem Dutzend Jahren noch von diesem Werk zu sprechen, wenn doch immer wieder gesagt wird, die Wissenschaft mache heute viel schnellere Fortschritte als noch vor einem halben Jahrhundert? Es lohnt sich sehr, kann die Antwort darauf nur heißen; denn mit diesem Buch liegt ein ausgesprochenes Grundlagenwerk vor.

Ortsnamen - Heft 10

Dr. Richard Dertsch 1894-1981
mütterlicherseits aus Tiefenbach stammend.

Was will eigentlich ein Historisches Ortsnamenbuch und was bietet es?

  • Seine erste Aufgabe ist, historische, das bedeutet praktisch urkundliche oder sonst original überlieferte Belege für die Namen aller bestehenden und abgegangenen Siedlungen einer bestimmten Landschaft zu sammeln und ihr Vorkommen genau nachzuweisen.
  • Die zweite Aufgabe ist es dann, diese Namen in ihrer ursprünglichen und späteren Gestalt sprachlich zu deuten.
  • In einem dritten Schritt soll - wenigstens in Bayern - der Gesamtbestand an Namen eine sprachliche und historische Auswertung erfahren.

Es scheint nun auf den ersten Blick, daß diese Aufgaben und ihre Lösung nur einen kleinen Kreis interessierter Spezialisten ansprechen würden. Dies wäre eine sehr verengte Sichtweise; denn die Ergebnisse sind nicht für die Sprachwissenschaft alleine interessant, sondern besonders für die Siedlungsgeschichte, ja oft genug für die Landesgeschichte überhaupt. Ein Gesichtspunkt überragt aber gerade im Allgäu alle anderen noch bedeutsam: Franz Ludwig Baumanns „Geschichte des Allgäus” ist bekanntlich eines der besten landschaftlich begrenzten Geschichtswerke Deutschlands. Sein entscheidender wissenschaftlicher Mangel besteht aber darin, daß es keine Quellenangaben enthält, so daß es ohne umfangreiche Vorarbeiten weder überprüft werden kann, noch als sichere Grundlage benutzt werden darf, auf der man fraglos weiterbauen könnte.

Gerade diese Lücke schließt das Historische Ortsnamenbuch weitgehend. Es gibt nämlich zu jeder Ortsnamenform die Quelle an, woher die Namenform und mit ihr natürlich die geschichtliche Nachricht über den jeweiligen Ort stammt. Damit ist das Historische Ortsnamenbuch zu einem Quellenwerk allerersten Ranges geworden, auf das vor allem für die ältere Geschichte immer wieder als Grundlage zurückgegriffen werden kann und natürlich auch zurückgegriffen werden sollte, wenn der Verfasser nicht zum eigenen Schaden hinter dem einmal erreichten wissenschaftlichen Stand freiwillig zurückbleiben will.

Richard Dertsch, mütterlicherseits über die Familie Riezler aus Tiefenbach stammend, war ja von Beruf Archivar und zwar ein sehr gewissenhafter, der viel und mühsame, oft entsagungsvolle Grundlagenarbeit geleistet hat, nicht nur für Mainz, wo er Stadtarchivar gewesen war und wo man ihn in dankbarer Erinnerung hat, sondern auch und gerade fürs Allgäu. Dies kann jeder bestätigen, der einen Überblick über die Quellenhefte der Allgäuer Heimatbücher besitzt. Nicht weniger als sechs von ihnen sind von ihm erarbeitet.

Richard Dertsch hat zu den deutschen Urkunden des Tiefenbacher Pfarrarchivs Regesten angefertigt, 34 Stück mit Ortsnamen- und Personenverzeichnissen. Er hat - zusammen mit Hanna Homann - einen Aufsatz mit dem Titel „Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte von Tiefenbach bei Oberstdorf’ verfaßt und auch über die „Familiennamen der Pfarrei Tiefenbach 1540 - 1800” gearbeitet.

Wenn er eine Nachricht oder einen Beleg nicht ins Ortsnamenbuch aufgenommen hat, so ist höchste Wachsamkeit und Kritik gegenüber solchen Nachrichten am Platze. Ein paar Beispiele mögen das zeigen:

  • Nicht selten kann man die Behauptung lesen, die Alpe Gelchenwang habe im Jahre 820 Käse an den fränkischen Hof in Kempten geliefert. Ein Blick ins Historische Ortsnamenbuch zeigt, daß es sich hier um eine „Legende” handelt.
  • Andere Berichte wollen von einer Ritterburg anstelle der Kirche auf der Schöllanger Burg wissen und nennen gar die Namen angeblicher Burgherren aus den Jahren 1320 und später. Wieder lohnt es sich, Richard Dertschs Werk zu Rate zu ziehen und zu erfahren, daß erst seit 1350 dieser Name Burg belegt ist und seither immer eine Kirche samt zugehöriger Pfarrei (Schöllang) bezeichnet hat, niemals eine Ritterburg. Dies kann schon sprachlich nicht der Fall sein, weil es in den Quellen im Gegensatz zu heute niemals „die” oder „auf der Burg” heißt, sondern stets „uff dem Burg” und ähnlich, was deutlich die männliche Form erkennen läßt, die mutmaßlich dasselbe bedeutet wie Berg.
  • Oder ein drittes Beispiel: Immer wieder kann man lesen, die Kirche von Bühl am Alpsee sei auf den Grundmauern einer Ritterburg entstanden, deren Besitzer den Hof Zaumberg an das Kloster Weingarten gestiftet hätten. Weder unter Zaumberg, noch unter Bühl kann man dafür eine Bestätigung finden. Es liegen hier wieder einmal phantasievolle Schlußfolgerungen vor, die der urkundlichen Stützen entbehren. Die Stifter des Hofes Zaumberg nach Weingarten, ein Brüderpaar namens Gotebold und Chuonrad ( = Konrad), sind ihrer Herkunft nach nämlich völlig unbekannt. Ihre Namen decken sich allerdings verdächtiger Weise mit denen aus dem Grafengeschlecht derer von Wallerstein um 1120/1140, den vermutlichen Stammvätern der Grafen von Öttingen.

Natürlich ist das Historische Ortsnamenbuch weder absolut fertig, noch unfehlbar. Wie jedes menschliche Werk kann es verbessert werden und ist schon ergänzt worden. Für die Bände Kaufbeuren, Marktoberdorf und Kempten hat dies Richard Dertsch selbst noch getan. Für Sonthofen hatte er schon im Vorwort zu diesem Band gesagt, daß wohl vor allem für die Alpen manches verbessert werden würde. Dies ist in der Zwischenzeit schon geschehen, aber zweifellos ist auch heute die Belegermittlung noch nicht vollständig. Dasselbe gilt natürlich auch für manche Ortsnamen und teilweise sogar deren Deutung.

Für Schöllang hatte z. B. Dertsch die ältesten Belege aus den Jahren 1339 und 1344 ermittelt, in der Form „Scheillnanch” und „Schellnanch”. Da beide aber nicht original aus diesen Jahren stammen, sondern in später ausgestellten Urkunden aus früheren, verlorenen übernommen sind, hatte Dertsch diesen Formen mißtraut und war zur Deutung von den Schreibungen ohne n nach dem ll ausgegangen. Sein Ergebnis mußte daher falsch werden. Inzwischen hat sich nämlich herausgestellt, daß im Stadtarchiv Kempten noch eine Originalurkunde von 1335 vorliegt, in der zwar nicht der Ortsname Schöllang, aber doch der davon abgeleitete Familienname, wohl des nach Kempten übersiedelten ehemaligen Ortsadelsgeschlechtes, vorkommt. Die dort beurkundete Form Schellnanch bzw. Schellnang bestätigt das n als echt, daher ist es nicht möglich, daß im ON Schöllang das sagenhafte Jagdtier Scheich enthalten ist.

Man muß einen Genitiv von mhd. schelle/schel darin annehmen, was ’Zuchthengst’ bedeutete oder aber von einem Namen *Scello, der sich im Familiennamen Schöll fortsetzte und wieder ursprünglich ’Hengst’ bedeutete, so wie von zwei angelsächsischen Königen überliefert ist, daß sie Hengist und Horsa, d. h. Hengst und Roß hießen. Zufall muß man es nennen, wenn etwa für Beilenberg ein neuer indirekter Erstbeleg auftaucht. Im Lehenbuch des Damenstiftes Lindau von 1356 ist z. B. eine Aelle Bülenbergin aus dem heutigen Wohmbrechts verzeichnet, die ihren Familiennamen zweifellos vom eigenen oder elterlichen Herkunftsort Beilenberg führte. Solche Ergänzungen werden noch auf lange Sicht gelegentlich wieder möglich sein und könnten, etwa fürs westliche Kreisgebiet, bei wenigstens einem Dutzend Kleinsiedlungen heute schon gegeben werden. Sie ändern aber nichts an der grundsätzlichen Qualität dieses Werkes, das gegenwärtig noch lange nicht ausgeschöpft ist. Hierfür gibt es erst Ansätze.

1966/67 hat der inzwischen ebenfalls verstorbene Fritz Langenbeck in einem fast 150 Seiten langen Aufsatz auf der Grundlage des Historischen Ortsnamenbuches Kreis Kempten „Fragen der Allgäuer Siedlungs- und Ortsnamenkunde” behandelt und auch die Struktur der Allgäuer Familiennamen mitberücksichtigt. Für den Altlandkreis Sonthofen steht eine solche Untersuchung noch aus, nur einzelne Vorstudien, z. B. über die Ortsnamen auf -berg sind inzwischen auf der Grundlage von Dertschs Arbeit begonnen worden. Lediglich die Erforschung der Alpnamen ist inzwischen auf der Basis von Dertsch einen Schritt weitergegangen und hat einen Baustein zur Geschichte der Allgäuer Alpwirtschaft bereitgestellt. Vielfach, aber nicht immer, erwähnt werden im Historischen Ortsnamenbuch die Vereinödungen. Hier wurde bei der letzten Neuerscheinung über die Vereinödung eine Chance verpaßt, dadurch, daß die 1904 von Hanns Dorn erstellte Liste der Vereinödungen unverändert übernommen wurde, obschon der heutige Leser nach den teilweise veralteten Schreibungen die Orte manchmal gar nicht mehr identifizieren kann, was schon Dorn vereinzelt nicht gelang. Ein erheblicher Teil der Probleme hätte durch die Nutzung von Dertschs u. a. Ortsnamenbüchern gelöst werden können, so die Fehlbezeichnungen Steppen (Nr. 72; richtig: Neppen), Eselstall (Nr. 666 statt Hesselstall), die kaum mehr erkennbaren Dietratsberg (Nr. 49, heute Graben), Egisried (Nr. 74, heute Eizisried), Wag und Bühl (unter Nr. 18 und 37; richtig: Wagenbühl), vielleicht auch Scheiden, Auslands, Griebel und zahlreiche nichtamtliche veraltete Schreibungen. Daß bei Nr. 379 der Liste nicht Tiefenbach bei Sonthofen, sondern in der Gd. Oberstdorf gemeint sein konnte, wäre bei Dertsch nachzulesen gewesen.

Wie eine ganze Reihe von Fehlern bei konsequenter Kontrolle am Historischen Ortsnamenbuch hätte vermieden werden können, macht eindrucksvoll ein Vergleich der 1985 erschienenen „Chronologie des Landkreises Lindau” in ihrem älteren Teil mit dem einschlägigen Ortsnamenbuch klar. Natürlich gilt dies auch und gerade für namenkundliche Versuche, die bei Neudeutungen erst dann den Anspruch erheben können, ernst genommen zu werden, wenn sie sich mit den Ergebnissen von Richard Dertsch auseinandergesetzt haben.

Nutzen wir doch die Möglichkeiten, die sich uns mit dem Historischen Ortsnamenbuch des Altlandkreises Sonthofen eröffnen und treten mit ihm in eine fruchtbare Auseinandersetzung ein!

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