Zeitungsausschnitt 1. April 1926
Bericht über den Gebirgstrachtenverein
Wie wir in Teil III berichteten, hatten die schrecklichen Ereignisse des 1. Weltkriegs (1914 - 1918) auch in Oberstdorf das Trachtenvereinsleben eingestellt. Erst im Jahr 1920 wurde die Vereinstätigkeit langsam wieder aufgenommen. Vier Jahre später stand sie dann wieder auf festen Füßen.
Der Neubeginn brachte einige Veränderungen bei der Gebirgstracht mit sich: Vergleichen wir ein Bild der Schuhplattler von 1914 (vgl. Bild S. 290) mit dem von 1924 (vgl. Bild S. 291), so fällt auf, daß bei der Frauentracht Hut und Flaumfeder nicht mehr vorhanden sind. Der Halsausschnitt der Bluse ist großzügiger, die Ärmel aber sind enger geworden. Auch das Schälkle (kurzer Tuchkittel) fehlt, der Rock ist verkürzt, und bei den Schuhen setzte sich der modische Spangenschuh durch.
Auch bei der Männertracht hat sich das Bild verändert. Anstelle der Flaumfeder tritt verstärkt der Gemsbart auf. Gleichzeitig ist der Hut anders geformt. Die grüne Weste verschwindet mehr und mehr und wird nur noch von älteren Personen getragen. Bei den Strümpfen hat der einfarbig graue Modelstrumpf allgemeine Anerkennung gefunden.
Im übrigen scheint die Begeisterungsfähigkeit unter den Vereinsmitgliedern groß gewesen zu sein. So wurden unter der Vorstandschaft von Otto Kerle (1. Vorsitzender), Ludwig Titscher, Xaver Witsch, Josef Braxmair, Wilhelm Geiger, Hans Sehrwind, Wilhelm Math, Josef Joas, Franz Zobel und Ernst Rueß (vgl. Bild S. 292) umfangreiche Vorbereitungen für das kommende 25jährige Vereinsjubiläum, das im Juli 1926 stattfand, getroffen. Der abgedruckte Zeitungsausschnitt vom 1. April 1926 aus dem „Oberstdorfer Gemeinde- und Fremdenblatt” vermittelt einen kleinen Einblick in die Programmgestaltung dieses großen Tages.
Das Fest, zu dessen Gelingen die gesamte Oberstdorfer Einwohnerschaft beitrug, war, begünstigt durch das sprichwörtlich gute Wetter, ein voller Erfolg (vgl.Bild S. 293). Noch heute kommen unsere Alten regelrecht ins Schwärmen, wenn sie von den farbenfrohen historischen Trachtengruppen und Musikkapellen erzählen, die aus Tirol, Vorarlberg, dem Schwarzwald und aus dem nahen Walsertal gekommen waren. Einen nachhaltigen Eindruck hinterließen die schneidigen Trachtler aus Garmisch-Partenkirchen und der Patenverein aus Hindelang sowie viele Gruppen aus der näheren und weiteren Allgäuer Umgebung. Eine große Anzahl Oberstdorfer beteiligte sich in Gebirgstracht am Fest. Auch bezüglich der Ausstattung der Festwagen hatte der Verein einen Riesenaufwand an Arbeit geleistet! Besonderen Anklang fanden die „Lebenden Bilder” aus der Schwedenzeit (1935 durch Bilder aus der Pestzeit ergänzt), die von Otto Hengge, Franz Alois Schratt und Wilhelm Math entworfen und zusammengestellt worden waren.
Zur Ausrüstung dieser „Lebenden Bilder” hatten jedoch die vorhandenen historischen Trachtenstücke aus Oberstdorfer Truhen und Kästen bei weitem nicht ausgereicht. Wir erfahren dazu aus den Aufzeichnungen von Wilhelm Math, wo es im Wortlaut heißt: „1926 werden bei der Firma Saumweber in München 80 Kostüme für lebende Bilder und anderes bestellt.” Auf dem Bild S. 294 sehen wir eine Gruppe Oberstdorfer in historischer Tracht, wie sie am Fest teilgenommen hat. Natürlich handelt es sich dabei um die besagten „Saumweber Trachten”, um Trachtenstücke also, die aus ganz Schwaben zusammengewürfelt waren. Es soll jedoch erwähnt sein, daß die Radhaube, die Mathilde Berktold trägt, aus Oberstdorfer Privatbesitz stammte.
Der Gedanke lag also nahe, nach der eigenen alten Tracht zu forschen. Und so reifte in der Vorstandschaft der Wunsch, die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem vergangenen Fest auszuwerten. Wilhelm Math und Josef Joas (beide auch im Museum tätig) gingen im Auftrag des Vereins daran, die alte Oberstdorfer Tracht zu rekonstruieren. Während Joas sich um die Wiederbelebung der alten Trachtentänze bemühte, fand Math in der Oberstdorfer Diplomhandarbeitslehrerin und Paramentenstickerin Anna Jäger eine fachkundige Mitarbeiterin. Daraus erklärt sich, daß heute in Oberstdorf zwei Trachten aus zeitlich unterschiedlichen Epochen getragen werden, nämlich die Gebirgstracht der Schuhplattler und die rekonstruierte Tracht der Barockzeit der oberen Pfarreien des Allgäus.
Dieser Entschluß der Vorstandschaft von 1926 ist auch deshalb bemerkenswert, da er in den Reihen der Vereinsmitglieder in der Folgezeit keineswegs immer auf Zustimmung stieß. Ja, er sorgt bis in unsere Tage immer wieder für Gesprächsstoff, wenn es um die Frage geht, was nun „alt” und was „neu” ist. Trotzdem müssen die alten Trachtler bald Anhänger gefunden haben; denn bei Wilhelm Math heißt es wiederum: „Am Trachtenball, 8. 1. 1927, wurde der alte Hochzeitstanz zum erstenmal aufgeführt. Auch die Dri liderne Strümpf wurden von älteren Mitgliedern in historischer Tracht gezeigt.” Aber selbst hier dürfte es sich noch nicht um die „Barocktracht” gehandelt haben, wie sie uns heute bekannt ist. Der Entwicklungsprozeß reichte vielmehr bis in die ersten fünfziger Jahre. Wilhelm Math und Anna Jäger leisteten hier Pionierarbeit im wahrsten Sinn. In mühevoller Kleinarbeit trugen sie ihre Erkenntnisse zusammen.
Angefertigt wurden die ersten Frauentrachten von Anna Jäger. Anfangs hielt sie sich dabei noch an die Vorbilder aus der Biedermeierzeit. Es handelt sich hier um Trachtenröcke und Mieder aus Rohseide in verschiedenen Farben (vgl. Bild S. 295 und Teil II, Heft 11/87). Wilhelm Math schreibt: „1934. Alt-Oberstdorfer Frauentracht 1. mal auf der Fronleichnamsprozession vertreten.”
Bald erkannten jedoch die Reformer, daß sie noch weiter zurückgreifen müßten, um auf eine einheitlichere Linie zu stoßen. Als Anschauungsmaterial dienten ihnen hier neben den Hinweisen des Walser Chronisten Alfons Köberle:
1. Die Lithographie von Nikolaus Drexel (1795 - 1851) „Oberstdorfer Ursprung der Iller”, heute Heimatmuseum Oberstdorf.
2. „Oberstdorfer Tracht”, Aquarell von Claudius Schraudolph. 1832. Allgäuer Heimatmuseum.
3. Die Votivtafeln in Loretto und in der Frauenkapelle in Fischen.
4. Die Beschreibung von Pfarrer Stützle, Kempten 1848; „Die katholische Pfarrei Oberstdorf oder die Schweiz im Kleinen”, Seite 6 f.
Man muß dabei bedenken, daß Wilhelm Math und Anna Jäger weder die Ausführungen von Felix Dahn noch die heutigen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Trachtenforschung bekannt waren. Das Ergebnis ist umso beachtlicher, da es als weitgehend identisch mit der Oberpfarrtracht der Barockzeit, der Blütezeit der Volkstrachten also, gelten kann.
Die ersten Exemplare dieser Art entstanden Anfang der 40er Jahre, wobei Frau Jäger die roten Mieder teilweise kunstvoll in Gold und Silber bestickte. Um diese Zeit stieß die Trachtenschneidermeisterin Fanny Seeweg zum Arbeitsteam Math/Jäger. Diese große Autodidaktin stellte ihr umfangreiches Können und ihre ganze Heimatliebe in den Dienst der historischen Tracht und führte das begonnene Werk von Anna Jäger weiter. Sie verhalf dieser Tracht zum großen Durchbruch und war auch maßgeblich an der Vervollständigung der Männertracht in den 50er Jahren beteiligt. Heuer, am 5. September 1988, ist die allseits geschätzte Frau, die wegen ihres unverwüstlichen Humors schon als Oberstdorfer Original gelten konnte, verstorben.
Somit sind wir am Ende unserer „Kleinen Oberstdorfer Trachtengeschichte” angekommen. Noch braucht sich der Oberstdorfer Trachtenverein keine Sorgen um den Nachwuchs beider Trachten zu machen. Es plattelt oder tanzt sowohl bei der Gebirgstracht als auch bei der Historischen Tracht jeweils eine Kinder- und Erwachsenengruppe.
Wie wir sehen, muß es das Anliegen aller Trachtenfreunde sein, gleichgültig, welche Tracht sie nun bevorzugen, diese möglichst stilecht, der jeweiligen Zeitepoche entsprechend zu erhalten und zu tragen. Nur wenn unsere Jugend bereit ist, sich mit der Heimat und ihrer Tradition zu identifizieren, wird es möglich sein, das Bestehende am Leben zu halten. Das heißt, daß Tracht nicht gleichbedeutend ist mit dem augenblicklich so populären „Trachtenlook” und als bloßes Modewerk gebraucht wird. Die rechte Einstellung kann hier nur durch die Familie übermittelt werden. Bleibt zu hoffen, daß dies trotz der großen Überfremdung, die Oberstdorf in den vergangenen Jahren erfahren hat, möglich sein wird.
Schuhplattlergruppe des Oberstdorfer Gebirgstrachtenvereins nach dem 1.Weltkrieg, im Jahre 1924.
Linke Gruppe von li. nach re.:
Josef Vogler - Gusti Brutscher
- Lise Schedler - Sina Zobel
- Luise Braxmair - Franz Zobel
Rechte Gruppe hinten von li. nach re.:
Sepp Joas - Johanna Rohrmoser
- Wilhelm Zobel - Clemens Zobel
- Michl Besler
Mitte von li. nach re.:
Josef Lang - Otto Egger - Wilhelm Schöll - Ludwig Leising (Spieler) - Hans Jäger
Unten von li. nach re.:
Resa Niesl - Alfred Zobel - Paula Rietzler - Lise Weitenauer
Oberstdorfer Festteilnehmer von 1926 in historischen Trachten der Firma Saumweber, München.
Von li. nach re.:
Josefa Braxmair (Geagls Martes Föhl) - Mathilde Berktold (Fidelese Wible) - Franz Xaver Kaiser (Bäckerei) - Jule Menz (Krappberg) - Mathilde Jäger (Küefar Dunelar) - Josef Schratt (Schüechtar) - Berta Gschwender (Säge)
Mathilde Jäger und Berta Gschwender tragen die Oberstdorfer Werktagstracht. Man beachte die altdeutsche
Hemd-Bluse ohne Gollerkragen!
Gruppe in Historischer Oberstdorfer Tracht, heute.
Von li. nach re.:
Claudia Schraudolf - Margret Titscher - Fidel Joas - Otto Mäx Schall - Judith Althaus
Es handelt sich hier um die rekonstruierte „ Oberpfarrtracht ” aus der Barockzeit. Judith hat das Halstuch in alter Form gebunden. Diese Form wäre vor allem dann denkbar, wenn keine Kopfbedeckung getragen wird.
Oberstdorfer Schuhplattlergruppe, heute.
(Detaillierte Beschreibung in Heft 12/1987)
Stehend von li. nach re.:
Toni Merath (Spieler) - Hannes Thaumiller - Michl Renn -
Thea Kinzel - Annemie Berktold - Hannes Kreittner - Getrud Geiger
Sitzend von li. nach re.:
Elisabeth Schleich - Willi Geiger - Elisabeth Math - Werner
Griesche
Als „Beauftragte” der Historischen Tracht Oberstdorf in Trachtenfragen möchte ich hier noch einmal niederlegen, wie nun das „Häs” getragen werden soll.
Mädchen und Frauentracht
Männertracht
Etwaige künftige Reformer der Historischen Tracht werden gebeten, sich an die in Klammer aufgeführten Vorschläge zu halten. Diesbezügliche genauere Hinweise sind bei Felix Dahn aus dem Auszug der „Bavaria”, Heft 10/86, zu ersehen.
gez. Marie Luise Althaus
Schriftliche Quellen: Aufzeichnungen von Wilhelm Math, Oberstdorf. Totenbuch der Familie Schraudolf, Reute. 1865 - 1936.
Anmerkung: Für die freundliche Unterstützung bei der Abfassung des gesamten Berichts danke ich Frau Johanna Schedler, Frau Frieda Math, Frau Anni Boikart, Frau Anna Seeweg, Herrn Fidel Joas sen., alle Oberstdorf.