Siedlungsentwicklung und Baugeschichte in Oberstdorf und Umgebung (Teil 6)

von Mathias Kappeler & Franz Vogler am 01.06.1989

Die weitere Entwicklung des Oberallgäuer Wohnhauses aus dem Flurküchenhaus

Das Flurküchenhaus hat den Bedürfnissen größerer und reicherer Bauernfamilien bald nicht mehr genügt; so wurden schon seit dem Dreißigjährigen Krieg großzügigere Grundrisse entwickelt.

Einfache Flurküchenhäuser in den Gebirgstälern um Oberstdorf sind zum Teil nur einstöckig gebaut. Die Kinder schliefen in solchen Häusern im niedrigen Dachgeschoß.

Die einfachste Möglichkeit zur Vergrößerung des Hauses war, ein zweites Stockwerk auf das Gebäude aufzusetzen. In Oberstdorf wurde vor dem Dreißigjährigen Krieg für das zweite Stockwerk oft eine holzsparende Spundwandkonstruktion gewählt, da bei den Schlafräumen keine besondere Wärmedämmung erforderlich war. Die nächste Möglichkeit der Erweiterung des Hauses war das Anfügen von Räumen im Grundriß. Hierzu eignen sich besonders Häuser mit giebelseitigem Eingang und der Flurküche längs zum First (s. Abb. Nr. 1 und 2).

Teil 6 Siedlungsentwicklung - Heft 15

Abbildung Nr. 1

Wohnhaus mit giebelseitigem Eingang am Christlessee.

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Abbildung Nr. 2

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Abbildung Nr. 3

An die der Stube gegenüberliegende Seite der Flurküche wurden zwei Räume angefügt; meist war dort ohnehin schon ein Wagenschopf oder eine offene Altane an das Haus angebaut, so daß diese Wirtschaftsräume einfach zu Wohnräumen umgebaut werden konnten. Die Küche wurde dann in der Regel in den neuen Räumen untergebracht.

Schwieriger war die Erweiterung des Hauses bei Häusern mit traufseitigem Eingang und quer zum First liegender Flurküche (s. Abb. Nr. 3 und 4).

Bei einigen alten Gebäuden mit querliegender Flurküche ist das Gaden genauso groß wie die Stube. Dies findet man besonders bei Gebäuden, die eine nachträglich eingefügte schmale Flurküche haben. Möglicherweise deutet dies auf ursprüngliche alt-oberschwäbische Mittertennenhäuser hin, die als Flur nur die Tenne hatten und deren Wohnhaus an der Vorderfront aus zwei gleich großen Räumen, der Stube und der Küche, bestand. Diese wurden später in Stube und Gaden umfunktioniert (s. Abb. Nr. 4, in „Unser Oberstdorf”, Heft 14, S. 311). Bei Häusern mit querliegender Flurküche konnte, sofern Platz vorhanden war, nur mehr längs des Gaden, anstelle des Wagenschopfes oder der Altane, ein Raum angefügt werden. Die Küche wurde dann in der Regel durch eine Querwand vom Flur abgetrennt. Die neue Kammer ist dann meist nur über die Küche erreichbar.

Letzte Möglichkeit der Erweiterung der Häuser war, ein drittes Stockwerk aufzusetzen. Ein solches Gebäude stand früher an der Stelle des »Wiener Wald« (vormals »Cafe Hesselschwerdt« bzw. Söllerhaus) in Oberstdorf. Wir geben am Schluß des Artikels eine Zeichnung dieses imposanten Bauernhauses wieder (s. Abb. Nr 10).

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Abbildung Nr. 4

Wohnhaus mit traufseitigem Eingang in Reichenbach.

Auffällig sind die kleinen vergitterten Fenster im obersten Stockwerk, die darauf schließen lassen, daß dieses Stockwerk ursprünglich zu Speicherzwecken genutzt wurde.

Werden die Besitzer dieses Gebäudes nach den Steuerbeschreibungen des Hochstifts Augsburg bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt, so stößt man auf einen Hans Lienhardt, der nach anderer Quelle zu Anfang des 17. Jahrhunderts Besitzer einer der Oberstdorfer Maierhöfe war (Auskunft von Leo Huber). Der „Speicherzweck” des zusätzlichen oberen Stockwerkes ließe sich für einen ehemaligen Maierhof gut erklären. Bei normalen Bauernhäusern waren, nach Aufgabe des Ackerbaus in Oberstdorf, keine Speicherräume mehr nötig; das obere Stockwerk konnte ausschließlich für Wohnzwecke genutzt werden.

Die Entwicklung des Wohnhauses im Kleinwalsertal (s. Abb. Nr. 5)

Die Entwicklung zum Flurküchenhaus ist im Kleinwalsertal anders verlaufen als im Oberallgäu.

Im Kleinwalsertal wurde, wie in Oberstdorf, ursprünglich, neben der Flurküche, auch in der Stube, auf der „Lüchte”, gekocht. Jedoch hatte das Bauernhaus des Kleinen Walsertales ursprünglich kein Gaden neben der Stube. Das Gaden befand sich als Oberstube über der Stube.

Auf ein früheres Einraum-Wohnhaus, mit darüberliegendem Schlafraum, bei den Vorarlberger Walsern konnte aus mehreren Quellen geschlossen werden. So beschreiben Fink und Klenze in ihrem Werk „Der Mittelberg” das alte Walserhaus als „5,7m breit und ebenso lang und ohne Giebel 4,84 m hoch” und „es war ... von Anfang an zweistöckig und bestand aus zwei niederen Stuben, die untere war Wohnzimmer, die obere Schlafkammer ”.

Nun haben Fink und Klenze vor der Herausgabe ihres Buches im Jahre 1890 sicherlich kein Walser Bauernhaus mehr im mittelalterlichen Zustand gesehen. Es waren jedoch damals noch wesentlich mehr alte Häuser vorhanden, die unverputzt und nicht geschindelt waren, und es ist anzunehmen, daß Fink und Klenze allein aufgrund der Konstruktion der Häuser auf ihre Darstellung der Entwicklungsgeschichte kamen.

Vor einer Betrachtung dieser Konstruktion zunächst jedoch noch eine weitere Quelle. Baumeister schreibt in seinem Werk „Das Bauernhaus des Walgaues und seiner waiserischen Seitentäler” vom Jahre 1895, von einem Bericht des 1833 geborenen Zimmermeisters Johann Martin Bertsch aus der Vorarlberger Walsersiedlung Damüls, daß es noch vor wenigen Jahrzehnten (also vielleicht um 1850) in Damüls einräumige Häuser, „Deija” genannt, gab, bei welchen man außerhalb am Giebel über hölzerne Nägel, welche in die Wand eingebohrt wurden, in das „Oberhaus” gelangte, das aus einem niedrigen, beiderseitig abgeschrägten Raum bestand, wo die ganze Familie schlief. Eine andere Möglichkeit, in das obere Stockwerk zu gelangen, war ein Schlupfloch in der Stubendecke überm Stubenofen, wie es auch in Oberschwaben und im Lechtal üblich war.

Wie passen nun diese Nachrichten zur Konstruktion der heute noch stehenden alten Walserhäuser?

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Abbildung Nr. 5

Am Gefüge der unverputzten Häuser lassen sich noch gut verschiedene Bauperioden feststellen. Deutlich erkennbar ist bei einigen alten Häusern im Kleinwalsertal, daß das Schlafzimmer („Gaden”) erst später an die Stube angebaut wurde. Manchmal ist heute noch das Haus im Bereich der Küche nur so breit wie die Stube, und das Schlafzimmer hängt als separater Block außen an der Stube (s. Abb. Nr. 6 und 7). Die neue Blockwand des Schlafzimmers wurde einfach mittels einer „Klebsäule” (s. Abb. Nr. 6) an das Eck der Stubenwand angebaut. Der First liegt bei diesen Häusern häufig noch über der Stubenmitte, da das Dach über dem angebauten Gaden einfach heruntergeschleppt wurde. Im Ortsteil Oberwäldele in Hirschegg, am Fuß des Kürenwaldes, steht sogar noch ein Haus, das nur die Breite der Stube besitzt.

Auch in Walser Siedlungen in anderen Tälern Vorarlbergs, Graubündens und im Wallis sind solche schmalen Häuser, die nur ein Zimmer breit sind, bekannt. Als Beispiel zeigen wir das Bild eines Hauses im Safiental (s. Abb. Nr. 8).

Nun sprechen Fink und Klenze ja von einem „Einraum-Haus”, d.h. es wäre noch zu prüfen, ob Stube und Küche früher in einem Raum vereinigt waren. Zwischen Stube und Küche sieht man häufig ähnliche „Klebsäulen” wie zwischen Stube und Gaden; jedoch gehen hier immer einzelne Querbalken über die ganze Traufseite oder zumindest über die Länge der Stube hinaus, d.h. bei den noch stehenden Gebäuden waren Küche und Stube in der Regel bereits bei Baubeginn als getrennte Räume vorhanden.

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Abbildung Nr. 6

Wohnhaus in Hirschegg mit nachträglich angebautem Gaden.

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Abbildung Nr. 7

Das Gaden des Wohnhauses der Abbildung Nr. 6.

Der Grundriß des Hauses entspricht im vorderen Teil dem Grundriß der Abbildung Nr. 5, mittleres Bild.

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Abbildung Nr. 8

Wohnhaus im walserischen Safiental im Graubünden.

Eindeutige Beweise für ein „Einraum-Haus” lassen sich also an der Konstruktion der heute noch stehenden Walser Gebäude nicht finden. Im Kleinwalsertal kann deshalb ursprünglich von im Grundriß zweiräumigen Häusern ausgegangen werden, die über der Stube einen zusätzlichen Raum oder Schlafraum hatten.

Die „Klebsäule” zwischen Stube und später ausgebautem Gaden wurde sogar noch als Konstruktionselement beibehalten, als das Gaden bereits beim Bau des Hauses mit vorgesehen war. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde sie jedoch nicht mehr häufig verwendet, so fehlt z.B. an den Walser Häusern in Gerstruben diese „Klebsäule” .

Der Name „Klebsäule” stammt u.E. aus der Schweiz; in Oberstdorf würde man dieses Konstruktionselement als „Anfaßsäule” bezeichnen. Allerdings gibt es in Oberstdorf dieses Konstruktionselement nicht in der ausgeprägt massiven Ausführung wie im Kleinwalsertal und in der Schweiz.

Besonders häufig ist dieses Konstruktionselement in der italienischsprachigen Leventina im Tessin zu finden. In den malerischen Dörfern auf den weltabgeschiedenen Terrassen über der lärmenden Gotthardstraße findet man noch viele im Blockbau errichteten Holzhäuser, bei denen meist eine Kammer mit einer oft auffällig verzierten Klebsäule an die Stube angebaut ist (s. Abb. Nr. 9).

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Abbildung Nr. 9

„Klebsäule” oder „Anfaßsäule” an einem Wohnhaus in Sobrio in der Leventina im Tessin.

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Abbildung Nr. 10

Bei den Kleinwalsertaler Wohnhäusern gab es in der Regel keine Probleme bei der Erweiterung des Wohnhauses. Zwar ist bei diesen Häusern die Flurküche immer quer zum First gebaut, jedoch behinderte bei den Paarhöfen des Kleinwalsertales kein Wirtschaftsgebäude die räumliche Entwicklung auf der Rückseite des Hauses. Der „Roschtel” und weitere Räumlichkeiten sind heute bei den meisten Kleinwalsertaler Häusern an die Flurküche angebaut worden.

Im nächsten Kapitel sollen die verschiedenen Holzbauweisen und deren Schmuckelemente beschrieben werden.

Fortsetzung folgt

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