Die Heimat

von Regina Zirkel-George am 01.06.1991

Die alte Mariann ist eine freundliche und kluge Frau. Sie hat in einem langen Leben viel gesehen in ihrem Dorf und weiß noch recht gut, wie es gewesen ist, als Oberstdorf noch nicht entdeckt war, als es noch ein Nestlein in den Bergen gewesen, das wenige Turisten kannten. Sie weiß, wie es vor siebzig Jahren war, wie allmählich die Fremden kamen, wie die einfachen Gasthöfe und die übrigen Bauernstuben nicht mehr reichten, wie gebaut und gebaut wurde und schließlich das Heute entstand.

Aber wenn sie so erzählt, merkt man leicht, die Mariann unterscheidet sich bei solcher Erzählung von anderen alten Leuten: Sie bedauert die Entwicklung nicht, sie trauert keiner „guten, alten Zeit” nach. Und ein Zweites ist zu merken: Sie spricht nicht von der „Heimat”, vom durch Generationen vererbten Anwesen, das dem schwäbischen Bauern sonst so viel wert ist. „Mein Vater hat ein Bauerngeschäft im Obermarkt gehabt”, erzählt sie wohl, „und einen Auszug in der Spielmannsau.” Und doch möchte niemandem geraten sein, sie deswegen Heimatgefühles bar zu nennen. Im Gegenteil! Sie bringt den Beweis für die Heimatliebe der Oberallgäuer insgesamt durch den Nachweis der Seßhaftigkeit der Geschlechter in diesem Dorf und seinen Talgebieten.

Durch mehr als 600 Jahre sind viele Namen erhalten und daß es nicht auf dem gleichen Hause geschehen ist, das lag an dem Brauche der Erbteilung der kleinen Höfe. Die Heimat, das ist dieser Talkessel mit den einmündenden Tälern, mit dem weiten Rahmen seiner Berge, mit seinen Häusern und Menschen, jetzt und alle Zeit.

Ende März, wenn der Schnee schmilzt und die ersten Stare in den Beinden schreien, da wartet die Mariann einen schönen Sonntagnachmittag ab. Und dann bindet sie ihr Kopftuch fest, nimmt ihres verstorbenen Mannes Stock zur Hand und wandert den Dorfbach hinab, soweit es nur geht. Das ist freilich ein wenig bequemer Weg; aber sie liebt ihn, weil an ihm noch die ältesten Häuser liegen. Und sie muß diese alten Bekannten besuchen, muß sehen, ob die Birn- und Apfelbäume in den Grasgärten wieder so blühen werden wie in ihrer Zeit. Schnell geht sie den schmalen, schlüpfrigen Pfad, überspringt den Bach wohl auch ein paar Mal, bis dorthin, wo ein Zaun dem Wege Einhalt gebietet. Es sei der malerischste Teil des Dorfes hier, sagen die Fremden, wenn sie mit Mariann sprechen; für sie ist es nur der vertrauteste, wenn sie auch garnicht hier wohnt.

Dann wendet sie sich hinüber, der Walserstraße zu, und folgt ihr mit festen Schritten nach Westen, zur Walserbrücke. Es wurde viel neues Oberstdorf zu beiden Seiten dieser Straße gebaut. Mariann beschaut es im Vorbeigehen. Sie weiß, wem wohl dies und jenes Haus gehört und sie bildet sich ein Urteil, wohlwollend, aber aus Gründen.

Diese Walserstraße. Mariann kann endlos erzählen von ihr, die immer ein Sorgenkind der Oberstdorfer gewesen, bis sie in neuester Zeit vom Reiche übernommen wurde, das sie endlich richtig ausbaut. Denn sie ist doch' ungeheuerlich belastet durch den Verkehr in das Kleine Walsertal. Nein, auch Mariann findet es reichlich, was sie von Autos überholt wird. Sobald sie die Brücke hinter sich hat, nimmt sie deswegen den Wiesenweg zur Rechten, mag auch die Straße in noch so günstigen Windungen die Steigung nehmen, die der Höhenrücken zwischen Stillach und Breitach bietet. Noch ein zweites und drittes Mal quert ihr Stufenweg die Straße, aber dann führt er steil hinauf zu Marianns Ziel, zur kleinen Kapelle auf dem Jauchen.

Der Jauchen ist ein zu Oberstdorf gehöriger Weiler auf der westlichen Höhe, die vom Söllereck herab bis zum Zusammenfluß von Stillach und Breitach fällt. Ein paar Bauernhöfe stehen da oben im Sonnenschein und ein winziges Kapellchen ist gegen Oberstdorf zu an den Fußweg gebaut. Die Weidegründe derer vom Jauchen sind einmal aus der Oberstdorfer Allmende abgeteilt worden und so werden die Jauchener wohl zuerst hinaus- gezogene Oberstdorfer gewesen sein. Das Kapellchen birgt keinerlei Schätze, ist aber uralt. Die Bank vor dem Kirchlein ist alt und schmal, aber sie ist Marianns Ziel. Denn von hier überblickt Mariann am liebsten die Heimat.

Unten in der Tiefe liegt das Dorf, und wenn es auch in der letzten Zeit gewaltig nach links und rechts, nach Nord und Süd gewachsen ist, kann man doch noch recht deutlich erkennen, daß die Dorfanlage ursprünglich zu beiden Seiten des Dorfbaches gemacht wurde, jener künstlichen Verbindung von Trettachfluß und Stillach. Das war, neben den vielen einfachen Hausbrunnen, die ursprüngliche Wasserleitung des Dorfes, lange bevor die bequeme Wasserleitung mit der Brunnenstube unter der Seealpe gebaut wurde. Als 1865 das ganze Mitteldorf mit 148 Häusern, mit Schule und Kirche und Rathaus und Krämereien abbrannte, da haben die Dorfgenossen den unheimlichen Brand aus diesem Bach bekämpft.

Die Heimat - Heft 18

Damals trug der Kirchturm, dessen Kupferdach heute leuchtend grün übers Tal winkt, noch ein Schindeldächlein und Mariann weiß zu erzählen, wie sich dieses Dächlein durch Funkenflug entzündete und wie das Feuer gleich einer grausenhaften Schlange blitzschnell von der Spitze in spiralig gewundenem Zuge abwärts fuhr.

Von diesem Brande erzählt Mariann gern, denn er war das größte Erlebnis ihrer Jugend. Links dort drüben, unweit des Bahnhofes, in dem Hause, wo heute das Kaffee Brüggemann ist, gleich über dem langgestreckten Postgebäude kann man es ein wenig sehen, da ist der Brand ausgekommen und ganz rechts drüben, unterm Krappberg, da sieht man die Kapellen zu St. Loretto, wo dann lange Zeit der Gottesdienst abgehalten wurde. Der dunkelgrüne Waldfleck rechts neben der Kirche? Das sei der Fuggerpark und noch ein paar andere Villengärten, links draußen aber liege das Krankenhaus und der Waldfriedhof, denn der alte Gottesacker bei der Kirche dürfe schon seit Jahren nimmer belegt werden. Ihr Vaterhaus im oberen Markt erklärt sie genau, von der hell leuchtenden Kiesgrube und der darunter sichtbaren Mühle ausgehend, aber man muß es wohl mit den Augen der Liebe suchen können, um es zu sehen.

Dann aber wandert Marianns Blick weiter in die Täler hinein. Da, gerade gegenüber, wo die Seilbahn hinaufführt, liegt zwischen Schattenberg und Rubihorn das Hochtal der Seealpe eingebettet. Wie ein breiter Trog ist es und die langen, hellen Streifen, die von den Gipfelgraten hineinziehen, lassen Lawinenbahnen glauben. Die Seealpe selber, Mariann erzählt es genau, stand früher weiter hinten im Talgrund und ist wiederholt ein Opfer der Lawinen geworden. Heute steht sie wohlgefügt neben der Zwischenstation der Bergbahn, aber auch seit dieser letzten Zeit sind öfters Schnee-Riesinnen bis nah an das Haus gefahren.

Am Ende dieses Tales sieht man die Stützen der Bahn wieder aufsteigen, zur vielbesuchten Bergstation, die das Wander- und Skigebiet des Nebelhorns vermittelt. Da, hinterm Rubihorn, liegt das Nebelhorn versteckt, das so ein berühmter Aussichtsgipfel ist. Ob das Rubihorn viel bestiegen wird? Von der Oberstdorfer Seite aus gehen Jägersteiglein hinauf, am liebsten nehmen es aber die Bergsteiger von der Gaisalpe her. Die liegt da drüben, hinter dem dunklen Rubingerwald, unter dem jetzt noch schneeweißen, im Sommer so schönen grünen Dreieck des Entschenkopfes und ein wunderschöner Waldweg führt am Hang des Rubihorns hinüber, den Mariann an warmen Herbsttagen besonders liebt, wenn die Buchen golden leuchten. Der helle, breite Riß am Rubihom? Mariann lacht: Das ist wirklich nichts weniger als eine Straße für Menschen, das ist das Bachtel, durch das die große Grundlawine im Frühling niedergehen muß. Denn, „Wenn die Bachtellände noch nicht gegangen ist, ist’s noch nicht ernst mit dem Frühling.”

Und riesenhafte Lawinen sind es auch, die das Oytal oft lang bis in den Frühling hinein abriegeln, jenes wunderschöne Tal, das doch die meisten Menschen von irgend einem Film her kennen. Woher der Name kommt? Eine Oy oder eine Oyb, das ist, was man sonstwo eine Aue nennt, und daß all diese fünf Quertäler zur Trettach einen Bach entsenden, das ist wohl nicht verwunderlich. Der dunkle, steilwandige Berg, der sich da rechts vom Schattenberg über dem Oytal aufbaut? Das ist die Höfats. Und Mariann tut eine tiefen Atemzug, wenn sie den beschaut und schweigt ein wenig. Wer sie aber dann weiterfragt, der kann hören, daß dieser schwierigste der Allgäuer Berge mit seiner trügerischen Grasnarbe und seinen wunderbaren Edelweiß Sternen so viele Menschen verlockt, die ihm nicht gewachsen sind und daß Marianns Mann bei einer Bergung dort selber um sein junges Leben gekommen ist.

Er war Bergführer und Mariann hat die große Liebe zu den Bergen mit ihm geteilt, aber der stolzen Höfats, der ist sie nun gram. Mariann schaut weiter: Im nächsten Tal, im Gerstrubener, ist sie noch vor wenigen Jahren zur Herbstkirbe gewesen und das gestorbene Dörflein hallt da jedes Jahr eine Nacht vom Frohsinn heimischer Menschen. Während der Sommerzeit sind selten Einheimische da oben, außer, sie haben Arbeit als Hirten mit dem Vieh, als Jäger oder als Bergheuer. Bergführer treten selbstverständlich auch in die Sommerwirtschaft, aber in der Hauptsache sind es doch die Fremden, die Bergfreunde und Kurgäste des Oberallgäus.

Durch das Hölltobel steigen sie gern hinauf und lassen den feinen Sprühregen des hohen Wasserfalles auf einer schmalen, in die Schlucht hinausgebauten Kanzel über Gesicht und Haare stäuben. Und das Gerstrubener Tal, wie das nächste, das Traufbachtal, liegen im großen Pflanzen- und Tierschutzgebiet. Still sein und schauen und lauschen können soll man dort oben.

Vom Traufbachtal habt ihr noch nichts gehört? Das ist das nächste, weltvergessene Quertal und der Traufbach mündet bei Spielmannsau in die Trettach ein. Und dort ist Marianns zweite Kinderheimat gewesen, jener Auszug, den ihr Vater im Sommer bewohnte mit Familie und Vieh. Bis gegen Weihnachten, bis das Heu verfüttert ist, bleibt man da draußen und zieht dann, oft schon durch den Schnee, ins Dorf zurück. Freilich, das fünfte Tal hat Mariann noch nicht genannt, das Sperrbachtal, durch das man auf die Kemptner Hütte steigt und das vom Kratzer begrenzt wird, jenem seltsam zackigen Berg, den man vom Dorf aus immer wieder links vom Himmelschrofen sieht, der aber hier von diesem verdeckt ist.

Die Heimat - Heft 18

Was dort gegen Südosten mitten im Blickfeld hegt, hinter dem langgestreckten, dunklen Himmelschrofenzug, grauzackig und jetzt noch voller Schnee, der in den Rissen und Schrunden selbst im Hochsommer selten vergeht, das sind - Mariann sagt es, als ob sie ihre Kinder vorstelle, das sind die Gipfel der Mädelegabelgruppe. Stolz zählt sie die Namen auf und knüpft dabei an, wie oft „er”, dessen Freund der alte Schraudolph zu Einödsbach gewesen ist, diese Gipfel bestiegen habe. Mariann selber? Im Herbst hatte er sie einmal mitgenommen auf den Heilbronner Weg. Und sie wird ganz in Erinnerung versunken und spricht von Felsgestalten, die Leben gewonnen haben, und von singenden Wasserläufen.

„Man sieht von den Wassern deiner Heimat so wenig von deinem Lieblingsplatz aus”, mag man wohl Mariannen sagen. Aber sie schüttelt den Kopf. Die Stillach hätte man ja eben überschritten und man sähe die Walserbrücke gar wohl da unten. Die Trettach sei durch das Bannholz, den dunklen Waldstreifen unter dem Rubihorn bezeichnet, vom Faltenbach könne man manchmal den hohen Wasserfall unter dem Seealptal glänzen sehen. Der Moorweiher und das Bad freilich, die lägen über Loretto hinterm Wald und auch der Freibergsee sei vom Wald und vom rechts abfallenden Söllereck verdeckt.

Die Breitach rauschte jenseits der Höhe, die sich hinter dem Jauchen aufrecke und sie und die Klamm und das verstreut liegende Tiefenbach gehörten mit allem, was rechts der Walserstraße sei bis zur Schanz doch auch noch dazu. Fast wird Mariann ein wenig böse: Vom Flugzeug aus sähe man natürlich noch mehr, aber auch nur, wo man Augen habe. Ob sie wohl mit dem Flugzeug über diese Bergwelt hinweggleiten wolle? „Fürchten tät ich’s nicht!” sagt Mariann lächelnd, „aber ich gehr es auch nicht! Ich weiß meine Heimat so. Und jetzt geht es heim. Denn die Leut und die Arbeit, die gehören auch zur Heimat.”

Und die Greisin setzt ihren Stock hart auf den Boden und geht mit eiligen Schritten hinab, nach Oberstdorf.

Wenn man sie am Abend vor der Tür sitzen sieht, dann raucht sie genießerisch ihre Pfeife, die Mariann, die typische Altoberstdorferin.

Im Bergverlag Rudolf Rother, München, erschienen 1938 sechs Erzählungen von Regina Zirkel-George unter dem Titel: „Oberstdorfer Bilderbuch.” Die Erzählung „Die Heimat” ist daraus entnommen.

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