Als Rohrmoos noch eine Welt für sich war - Kindheitserinnerungen aus den dreißiger Jahren

von Bewohnerin/Rohrmoos am 01.06.1998

Rohrmoos, ca. 6 km von Tiefenbach entfernt, war in früherer Zeit durch seine Abgeschiedenheit fast nur den Einheimischen bekannt. Heute ist es ein viel und gerne besuchtes Ausflugs- und Wanderziel, im Sommer und im Winter, eigentlich zu jeder Jahreszeit. Aufgrund der günstigen Höhenlage und seines niederschlagsreichen Klimas ist Rohrmoos schon seit Jahren zu einem Domizil der Langläufer geworden. Die Größe des Weilers hat sich seit meiner Kindheit nicht verändert: 6 Wohnhäuser, eine Gaststätte, Stallungen und ein großes Stadelgebäude. Zwischen Forsthaus und Gasthaus steht die alte Holzkapelle aus dem 15. Jahrhundert. Eigentümer dieser Siedlung ist Fürst Waldburg-Wolfegg.

Meine Eltern zogen etwa 1932 nach Rohrmoos, mein Vater war Förster, und wir bewohnten das Holzhaus südwestlich der Gaststätte. Im Forsthaus lebte der Forstverwalter mit seiner Familie. Ich war damals vier Jahre und meine Spielgefährten, drei Buben, zwischen zwei und sechs Jahren.

In den dreißiger Jahren waren die Winter noch hart und streng, damals lag der Schnee oft mehrere Meter hoch, und die Bewohner lebten wochenlang so gut wie abgeschnitten von der Außenwelt. Sich rechtzeitig mit Lebensmitteln einzudecken war sehr wichtig. Ein großes Problem betraf auch die ärztliche Versorgung im Krankheitsfalle, hier mußten nach Möglichkeit alte Hausmittel herhalten. Bei günstiger Witterung kämpfte sich der Postbote auf Skiern von Tiefenbach nach hier - eine sportliche Leistung.

Für uns Kinder waren diese Zeiten natürlich ein Paradies, wir hatten ja nicht die Sorgen der Erwachsenen. Der sogenannte Ernst des Lebens begann, als eine von Fürst Waldburg-Wolfegg eingestellte Lehrerin, Fräulein Anwald, in Rohrmoos einzog. Im Forsthaus wurde im Dachgeschoß ein kleiner Raum als Schulzimmer eingerichtet, mit einer Schulbank, einer großen Tafel und einem Schreibtisch für unser „Fräulein”, wie wir sie nannten. Der Vormittag war schon etwas anstrengender als in einer üblichen Schule, wir mußten schwer aufpassen, immer wollte sie etwas von uns wissen. Es gab schon Zeiten während des Unterrichts, da kamen uns Ideen, die nicht dem Lernpensum entsprachen. In einer Mansarde, einer sogenannten Arrestzelle für kleine Schwerenöter, mußten wir selten, aber doch hin und wieder die Sachlage überdenken. Aber im großen und ganzen kamen wir sehr gut mit unserer Lehrerin aus.

Ihr Quartier hatte sie im Forsthaus, die Verpflegung wurde im Wechsel zwischen den beiden Familien verabreicht.
Gleich nach der Schule und den Hausaufgaben hielt uns nichts mehr im Haus. Wir bauten Schneeburgen, gruben lange Höhlen, sprangen von den Holzlagern in den weichen Pulverschnee, wo man bis über die Ohren darin versank. Der ältere Sohn des Nachbarn war unser „Oberbefehlshaber”, und wir mußten parieren. An den Hängen wurden Bahnen zum Skilaufen getreten und kleine Schanzen errichtet mit „Wettkämpfen”, Siegerehrung und Preisverteilung, wie es sich gehörte. Trotz dicker Skihosen und Jacken einschließlich der praktischen Wickelgamaschen waren wir meistens naß bis auf die Haut, aber oft erst in der Dämmerung zog es uns heim in die warme Stube.

Im Frühjahr, wenn es langsam etwas wärmer wurde, tauchten auch die alljährlichen Kurgäste des Wirtes auf, die Rohrmoos jahrelang treu blieben. Es war ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen, und besonders im Fasching, wenn das beliebte „Kränzle” in der Wirtsstube durchgeführt wurde, da ging’s hoch her, und das war für uns eine Mordsgaude mit maskiertem Abfahrtslauf und allem Drum und Dran.

Der Herr Pfarrer Hacker von Tiefenbach besuchte uns auch von Zeit zu Zeit, im Winter auf Skiern und im Sommer per Motorrad, mit seiner Haushälterin auf dem Rücksitz; er gab uns Religionsunterricht. Wenn wir ihn draußen an der Schattwaldhütte mit dem Fernglas sichteten, griffen wir schnell zu unseren Büchern, man konnte ja nie wissen, was er für Fragen auf Lager hatte. In der Kapelle wurde dann die Messe gelesen mit Beichtgelegenheit und hl. Kommunion - für uns immer eine aufregende Sache, denn jeder hatte etwas auf dem Kerbholz. Der Hubert fragte mich einmal, ob es mir innen auch so leicht danach ist, was ich nur bestätigen konnte. „Das werden wohl die Sünden gewesen sein, die wir jetzt los sind”, meinte er.

Ein wichtiges Ereignis in unserer Kinderzeit ist der Klausentag gewesen. Wenn wir uns zurückerinnem, wie romantisch diese kalten, klaren Winternächte im Mondschein oft waren, der glitzernde Schnee und die darin versunkenen Häuser, durch die schmalen Fußwege untereinander verbunden, war das schon wie in einem Märchen. Wenn ich dann aber vom Forsthaus drüben die Glocke bimmeln und die Ketten rasseln hörte, wußte ich, daß Knecht Ruprecht auf dem Weg zu mir war. Da verging die ganze Romantik, und das Herz rutschte in die Hosen.

Allein auf einem Stuhl, ohne Mutters Schutz, versprach ich das Blaue vom Himmel herunter und betete so andächtig wie nie im ganzen Jahr. Wenn dann die Äpfel und Nüsse aus dem Sack rollten und der Ruprecht sich mit einem gutmütigen Brummeln verabschiedete, dann war die Welt für mich wieder in Ordnung. Die Sache wiederholte sich etliche Jahre, bis wir einmal auf Umwegen erfuhren, daß hinter dem Nikolaus ein Knecht vom Gasthaus steckte. An diesem Abend war der Klausenbesuch nur kurz. Ich stand vor ihm, die Hände bis zu den Ellbogen in den Taschen der Skihose vergraben, und zwinkerte ihm zu. Von Angst war keine Spur mehr festzustellen. Er mußte plötzlich furchtbar lachen, warf seinen Rupfensack auf den Boden, polterte die Stiege hinunter und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ähnlich erging es ihm auch bei meinen Gefährten.

Für die Jäger war die Winterzeit sehr schwierig, da gab es keinen Ski-Doo. Mit Schneereifen und Skiern mußten sie sich mühsam einen Weg zu den Wildfütterungen bahnen, was auch für die Jagdhunde sehr anstrengend war. Rüben und Kastanien wurden im Herbst als Vorrat deponiert. Wir durften manchmal auch beim Zerkleinern mithelfen und haben die Rüben getestet, die übrigens ganz gut schmeckten. Nach dem Auslegen des Futters verkrochen wir uns im Heustadel und konnten so das hungrige Wild aus nächster Nähe beobachten.

Der Winter, so gern wir Kinder ihn mochten, dauerte schon sehr lange, oft bis in den Monat Mai hinein. Wenn in Oberstdorf die Straßen staubten und die Blumen blühten, lag Rohrmoos noch im Winterschlaf. Höchstens an den Südhängen fing es an zu apern, wo wir uns warme, sonnige Plätze zum Spielen suchten. Es gab natürlich zwischendurch schon auch eine etwas mildere Witterung, aber die war selten.

Der Sommer war in Rohrmoos sehr schön, das Vieh wurde von draußen hereingebracht, es kam wieder Leben ins Tal. In der Sennküche, oberhalb des Gasthauses, wurde die Milch zu Butter und Käse verarbeitet.

In den Sommerferien kamen auch Fürsten- und Grafenkinder, da hat sich schon etliches getan. Wir waren dann ganz froh, wenn es wieder ruhig wurde und Rohrmoos uns allein gehörte. Wir haben mit selbstgebastelten Pfeilen und Bogen geschossen, beobachteten Eidechsen und haben Schnecken gezüchtet. Jeder hatte einen Roller, nur waren die Straßen nicht so schön eben und glatt, wie wir es heute gewohnt sind. Zum Baden gings meistens an den kleinen Bach, die Starzlach. Interessant war auch, wenn wir mit den Erwachsenen zum Fischen durften oder auf die Jagd. Unsere Geduld wurde schon sehr auf die Probe gestellt, wir durften uns auf dem Hochsitz kaum rühren. Wenn es dann soweit war, hätte ich am liebsten laut gehustet, so leid hat mir der schöne Hirsch oder Bock getan. Im Herbst trafen die Fürstlichkeiten zum Jagen ein. Sie wohnten oben im Jagdhaus.

Noch eine Episode fällt mir gerade ein. Mein gleichaltriger Gefährte, sein jüngster Bruder und ich sollten das Haus hüten. Die Eltern der Buben waren zu Besorgungen nach Tiefenbach gefahren. Da überkam uns fast gleichzeitig ein unheimlicher Drang, unsere Kochkünste zu verwirklichen. Die Küche war frei, weit und breit kein Feind in Sicht. Zuerst holten wir einen Kübel Kartoffeln aus dem Keller, wuschen sie fachgerecht, machten Feuer im Herd und setzten einen Wassertopf voll Kartoffeln auf. Soviel hatten wir unseren Müttern schon abgeschaut. Dazu sollte es Spiegeleier geben. Wir dachten so an zehn bis zwölf Stück. Das machte einen solchen Spaß, wenn ein Ei nach dem anderen in die große Pfanne flutschte.

Manchmal rutschen auch Schalen mit rein, denn so einfach war die Sache nicht. Jeder wollte ja möglichst schnell viele Eier einschlagen. Endlich waren die Kartoffeln weich, wir haben sie geschält, geschnitzelt und mit Fett rausgebraten. Es war eine erschreckende Menge, die fast nicht zu wenden war. In der Küche rauchte und dampfte es, und wir düsten mit feuerroten Köpfen hin und her. Es entwickelte sich ein starker Geruch nach Angebranntem, der sich mit Windeseile durch die ganze Wohnung bis hinunter ins Stiegenhaus ausbreitete. Ja aber wer sollte das alles essen, wir hatten überhaupt keinen Hunger.

Unser Jüngster war an unserem hastigen Treiben recht unbeteiligt und beobachtete ziemlich skeptisch aus einem Küchenwinkel, was da vor sich ging. Wir hatten ihn als Opfer auserwählt und klemmten ihn auf einem Stuhl hinter den schweren Küchentisch, türmten ihm eine entsprechende Ladung auf einen Teller; aber so einfach war das nicht, er war schon des öfteren als eine Art Versuchskaninchen ausgewählt worden. Infolgedessen hatte sich bei ihm eine sehr starke, eigenwillige Protesthaltung entwickelt. Er preßte den Mund wie einen Schraubstock zusammen und probierte trotz aller guten Worte nicht einen Löffel voll.

Mittlerweile hatte es schon lange zwölf Uhr geschlagen in der kleinen Kapelle nebenan, wir aber hatten davon nichts gehört und gesehen. Plötzlich ein scharfer Pfiff - unten stand mein Vater wie das jüngste Gericht. Ich war natürlich zum pünktlichen Mittagessen nicht erschienen. Ich wußte, es würden keine so angenehmen Dinge sein, die jetzt auf mich zukamen. Fluchtartig verließ ich den grausigen Ort und hörte zu allem Übel schon die Familie Forstverwalter die Stiege heraufkommen. Mein Kumpel war inzwischen mit größter Hektik beschäftigt, die wichtigsten Indizien verschwinden zu lassen und kippte beide Pfannen in den Abfallkübel, was allerdings nicht mehr viel nützte. Das Ende der Geschichte war ziemlich schmerzvoll!

Eines Tages brachten die Jäger ein mutterloses Gamskitz mit heim. Im Forsthaus wurde ein kleiner Verschlag im Keller gezimmert, für uns Kinder ein wichtiges Ereignis. „Peterle”, wie wir ihn tauften, wurde zuerst mit der Flasche aufgezogen und entwickelte sich prächtig. Er war so zahm wie ein Hund. Wir hatten viel Spaß mit unserem Spielgefährten. Wir sammelten Tannenbart, eine seiner Lieblingsspeisen, die er sich aus unseren Hosentaschen holte. Als wir ihm wieder einmal einen Besuch abstatteten - wir lockten ihn über die Treppe ins Stiegenhaus -, hatte er einen schönen Asperagusstock entdeckt, den er mit Begeisterung vertilgte, sehr zum Leidwesen der Hausfrau. Es wurde Frühling, und eines Tages schlug die Abschiedsstunde. Schweren Herzens entließen wir ihn in die Freiheit. Wir haben ihn noch einige Male ziemlich nah bei den Häusern gesehen. Vielleicht hat sich Peterle auch noch gerne an uns erinnert.

Zu unserer Zeit gab es gleich neben dem Gasthaus ein kleines Waschhäusle mit einem Holzbrunnen davor. Hier konnte man Wäsche waschen, natürlich alles von Hand. Am meisten haben mir immer die Riesenmengen von Wäsche aus dem Gasthaus imponiert, wenn die Gästebetten noch hinzukamen. Die Arbeit der damaligen Hausfrauen war nicht leicht, es mußten ja auch die Innenräume, Treppen und Fußböden, welche alle aus Holz waren, geputzt und gescheuert werden. In jedem Haus war ein zentraler Wasseranschluß. Wir hatten auch elektrisches Licht mittels einer Wasserturbine, die von einem kleinen Stauweiher, dem sogenannten „Lichtwasser”, wie wir es nannten, gespeist wurde.

Der damalige Wirt war für die Stromversorgung verantwortlich. Wenn er allerdings abends früher müde war und ins Bett wollte, schaltete er ab, und es wurde dunkel in allen Häusern. Für diesen Notfall hatte man immer Kerzen oder Taschenlampen in Reichweite. Wir hatten auch schon einen Radioapparat, den sogenannten Volksempfänger. Gebügelt wurde mit dem Kohlebügeleisen. Später hat man die Kohle durch erhitzte Eisenplatten, die in das Bügeleisen eingelegt werden konnten, ersetzt.

Ich glaube, weil Rohrmoos in Privatbesitz des Fürsten geblieben ist, wurde es von der allgemeinen Entwicklung und Vermarktung weitgehend bis heute verschont. Ein solches Kleinod wird immer seltener und wertvoller, hoffen wir, es bleibt noch lange für den Ruhe suchenden und naturverbundenen Menschen erhalten.

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