Gedenkbäume in Oberstdorf

von Dr. Kurt Eberhard am 01.06.1991

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an bestimmte Vorgänge aus der Vergangenheit zu erinnern. Wenn wir das in etwas feierlicher Weise tun, dann gedenken wir dieser Ereignisse. Der Duden gibt klar Auskunft, wie dieses Verbum zu verstehen ist: „ . . . an jemanden oder an etwas ehrend, anerkennend zurückdenken, erinnern und sich dementsprechend äußern”. Wir gedenken zum Beispiel der Toten, wir gedenken in einer Feier der Opfer einer Katastrophe. Das Wort klingt etwas steif, aber vielleicht wird es gerade deswegen von manchem geschätzt. Auch als Substantiv wird es im gleichen Sinn gebraucht: Er sprach Worte des Gedenkens.

Zum Gedenken an eine verstorbene Persönlichkeit oder ein historisches Ereignis veranstalten Städte und Gemeinden, Vereine und Institutionen > Gedenkausstellungen <. Einer solchen Ausstellung geht fast immer eine > Gedenkfeier < mit mehr oder weniger geschätzten > Gedenkreden < voraus. Ist dieses Ereignis von überörtlicher, allgemeiner Bedeutung, dann gibt die Post eine besondere Briefmarke heraus, eine > Gedenkmarke <, auf die die Philatelisten meist schon warten. Andere Sammler, die Numismatiker, freuen sich in diesem Zusammenhang auf eine gelungene > Gedenkmünze <. Die bildliche Darstellung auf dieser Münze, die nicht für den Geldverkehr bestimmt ist, soll uns meist an eine berühmte Persönlichkeit erinnern. Eine > Gedenkminute <, eine Schweigeminute, hat den Zweck, ein regionales oder überregionales Ereignis besonders hervorzuheben.

Auch eine Feierstunde zum Gedenken an jemanden oder an etwas wird aus diesem Grund gehalten, wir erleben eine > Gedenkstunde <. Damit die Erinnerung nicht von Zufälligkeiten abhängig ist, werden mehr oder weniger geschmackvolle > Gedenkstätten < angelegt, > Gedenktafeln < mit der entsprechenden Inschrift angebracht oder > Gedenksteine < gesetzt. Meist werden diese Stätten, Tafeln und Steine an bestimmten Tagen, an > Gedenktagen < enthüllt, der Öffentlichkeit gezeigt. Und Menschen, die sich gern an Erlebtes erinnern, halten besondere Ereignisse schwarz auf weiß fest, sie führen ein Erinnerungsalbum, ein > Gedenkbuch <.

Wir sehen: Es gibt einige Formen, sich an etwas zu erinnern oder erinnern zu lassen. Eine davon, die der Duden freilich nicht erwähnt, ist das Einpflanzen von > Gedenkbäumen <. Ganz neu ist diese Art des Gedenkens jedoch nicht.

Am bekanntesten ist der sog. Freiheitsbaum. Er gilt als republikanisches Freiheitssymbol. Die ideelle Wurzel hat er sicher in einem alten Brauch. Im Frühjahr 1790 wurden in Frankreich auf vielen Stadt- und Dorfplätzen unter großer Anteilnahme der Bevölkerung feierlich junge Eichen gepflanzt. Der Nationalkonvent, die Verfassunggebende Versammlung in der Französischen Revolution, ordnete im Januar 1794 sogar das Nachpflanzen solcher Bäume per Gesetz an. In den angrenzenden Ländern, vor allem im Rheinland, wurden diese Bäume trotz behördlicher Verbote ebenfalls gepflanzt. - Noch im 19. Jahrhundert, z. B. 1848, wurden Freiheitsbäume in Frankreich, in der damals bayerischen Pfalz und in Italien eingesetzt. - In Nordamerika entwickelte sich die Fichte im Verlauf der Unabhängigkeitskämpfe gegen die Briten im 18. Jahrhundert zum Freiheitssymbol.

Bäume haben es den Menschen schon zu allen Zeiten angetan. So spiegelt der Baumkult die Verehrung göttlicher Mächte in Gestalt von Bäumen wider. In Sage und Märchen haben Bäume (und Sträucher) eine große Bedeutung. Im religiösen Bereich sprechen wir vom Baum des Lebens, Baum des Paradieses, Weltenbaum, Baum des Orakels. Und in unserer Zeit kennt wohl jeder den Maibaum und den Christ- oder Weihnachtsbaum, wenn auch nicht jeder über das damit verbundene Brauchtum Bescheid weiß. Bei der Hochzeit und bei der Geburt eines Kindes wurde früher öfter und wird manchmal heute noch ein Baum gepflanzt. Nicht um schrittweise eine Aufforstung zu betreiben, wie vielleicht ein Ökologe denken könnte.

Dem Brauchtum nach war hier an eine magische Beziehung gedacht: Das Gedeihen des Baumes sollte sich auf das Brautpaar bzw. auf das Neugeborene auswirken".

Schon der bedeutende römische Schriftsteller Plinius d. Ä. (23 - 79) berichtet, daß die Linde seit alters in Ehren gehalten wird. Bei Germanen und Slawen nahm sie unter allen Bäumen den Ehrenplatz ein. „Davon zeugen zahlreiche Ortsnamen und die vielen heiligen, historischen oder tausendjährigen Linden”. Aus der Geschichte kennen wir Gerichtslinden, Burglinden, Dorflinden, Brunnenlinden.

Bei vielen indogermanischen Völkern wurde die Eiche als heiliger Baum verehrt. Er hatte eine magische Bedeutung. Kelten, Germanen und Slawen opferten in Eichen-Hainen. „Erst im 18. Jahrhundert wurde die Eiche in Deutschland zum Symbol des Heldentums und löste darin in gewisser Weise die Linde ab”. Seit Anfang des vorigen Jahrhunderts, besonders seit den Befreiungskriegen 1813/15, wurden bei uns Gedenkeichen, auch Siegeseichen genannt, gepflanzt. Die > deutsche Eiche < wurde zu einem feststehenden Begriff, manchmal auch ironisch gemeint.

Diese kurze kulturgeschichtliche Betrachtung der Bäume im allgemeinen und der Eiche und der Linde im besonderen wurde deshalb vorausgeschickt, weil es sich bei den Gedenkbäumen in Oberstdorf um diese beiden Baumarten handelt.

Am 3. Oktober 1990, nachmittags, pflanzte Bürgermeister Eduard Geyer in Anwesenheit von Oberstdorfer Gemeinderäten und Staatsekretär Alfons Zeller (von nur wenigen Zuschauern umgeben) am Südostrand des Kurparks eine Eiche. Gemeindegärtner Theo Brücksch gab die fachliche Anleitung. Während einer kleinen Feierstunde (für den musikalischen Rahmen sorgte die Musikkapelle Schöllang) wiesen Geyer und Zeller auf die große Bedeutung dieses Tages für das deutsche Volk hin. Es war der Tag der Wiedervereinigung, „ein großer Tag, wie ihn die Geschichte nicht so leicht bereithält”, betonte der Bürgermeister.

Niemand konnte damals voraussehen, daß es nach fünfundvierzigjähriger bzw. einundvierzigjähriger Trennung so schnell nicht mehr zwei Staaten auf deutschem Boden, sondern ein einiges Deutschland geben wird. > Einigkeitseiche < könnte man deshalb diesen Gedenkbaum im Oberstdorfer Kurpark nennen. „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland”, beginnt die dritte Strophe des Deutschlandliedes. Sowohl Bürgermeister Geyer als auch Staatssekretär Zeller betonten in ihren Ausführungen den Symbolgehalt des Baumes.

Die Einigkeitseiche war nicht der erste Gedenkbaum, der in Oberstdorf gepflanzt wurde. Der Oberstdorfer Chronist Franz Alois Schratt (1868 — 1963) führt in seinem > Jahrhundertbuch < unter dem Jahr 1871 an, daß „südlich vor dem Pfarrhaus eine > Friedenslinde < gesetzt” wurde. Und aus einem Artikel, der knapp sechzig Jahre später im > Oberstdorfer Gemeinde- und Fremdenblatt < erschien, erfahren wir, daß dieser Baum im Lindenacker an Martini (11. November) 1871 gepflanzt wurde. Eine Woche darauf, am Samstag, 18. November 1871, wurde in Oberstdorf das Veteranenfest abgehalten. Ein Gesprächsthema war dabei sicher die Pflanzaktion an Martini. Der Grund, hier eine sog. Friedenslinde zu setzen, war die Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges im Frieden von Frankfurt im Mai 1871.

Beim Lindenacker handelt es sich um den heutigen Kurpark. An seiner Südostseite, etwa fünfzehn Meter von der oben genannten Einigkeitseiche entfernt, wurde die Linde gepflanzt. Der Name > Lindenacker < ist freilich erheblich älter. Für dieses ehemalige Ackerland südlich der Kirche wurde in einem Beleg von 1483 angegeben: „Vor dem dorff gelegen, stoßt uffwertz uff die Straß und herinwerts an des Pfarrer hoffbiend”.

Diese Friedenslinde war aber nicht der einzige Gedenkbaum, der 1871 gepflanzt wurde. Am gleichen Tag dieses Jahres setzten die Oberstdorfer „bei der Apotheke”, gemeint ist die ehemalige > Düll’sche Siegfried-Apotheke <, jetzige Apotheke am Kurplatz, eine sog. Kaiserlinde. Sie wurde am Martinitag bei der Fahnenweihe des Veteranenvereins „als zartes Bäumchen” gepflanzt, schreibt das > Oberstdorfer Gemeinde- und Fremdenblatt« in einem Rückblick. Die Linde sollte an die Errichtung des deutschen Kaiserreiches erinnern. Der gemeinsame militärische Sieg aller deutschen Fürstentümer im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hatte die deutsche Einigungsbewegung stark gefördert.

Bis zum Ersten Weltkrieg umgab den Gedenkbaum „ein schützender Zaun und ein Stückchen grüner Rasen”. Schon bald nach dem Krieg wurde dieser Schmuck beseitigt. Und am 16. April 1930 kam das Ende der Kaiserlinde. Sie wurde auf Anordnung der Straßenkommission gefällt. „Dem gesteigerten Verkehr der neuen Zeit war dieser ehrwürdige Baum als Hindernis im Wege.” Dem Berichterstatter wahrscheinlich Karl Hofmann (1899 - 1985) im Auftrag seines Vaters, war wohl ganz wehmütig ums Herz, wenn er 1930 (!) schreibt: „Wieviel Veränderung, Umwälzung und Fortschritt hat die Linde in Oberstdorf seit jenen stillen Tagen um 1871 bis zu der heutigen Zeit des Motors und der Maschine gesehen?

Wie hat sich das bescheidene, einfache Leben von damals gegen den vornehmen bunten Kurbetrieb unserer Zeit verändert! Die Menschen und ihre Ansichten und Bedürfnisse haben sich bedeutend gewandelt, und diesen ist auch die Oberstdorfer Kaiserlinde geopfert worden.” - Der Verfasser schließt seinen Artikel mit einem nüchternen, sachlichen Ausblick in die Zukunft und auf die „neuen, kommenden Probleme”.

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Brunnackerweg 5
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