Der Verfasser hat sich im Teil I dieses Beitrags („ Unser Oberstdorf“, Heft 1, S. 15-19) zunächst mit dem Verhältnis zwischen dem Landgericht Sonthofen und der Gemeinde Oberstdorf und dem Hintergrund, nämlich der Revolutionszeit 1848/49, befaßt. Er hat dann erläutert, wie in jener Zeit die Wahlberechtigung und das Wahlverfahren bei den Wahlen zur deutschen Nationalversamm lung in Frankfurt und zum bayerischen Landtag in unserer Heimat gehandhabt wurden.
Andere „instructive Weisungen“ zum „Wahlgeschäft“
Wer heute seine Wahlberechtigung ausüben will, muß in ein Wählerverzeichnis eingetragen sein. Im Prinzip galt das Mitte des vorigen Jahrhunderts auch schon. Kurios, um nicht zu sagen haarsträubend, war aber die Art, wie dabei verfahren wurde. Im Ausschreiben des Landgerichts Sonthofen an den Gemeindevorsteher von Oberstdorf, Alois Rietzler, vom 24. Oktober 1848 wurde dazu folgendes angeordnet: „Damit nun die Gemeindeglieder alle diejenigen Bürger kennen lernen, welche a. die Wahlmänner wählen, und b. welche zu Wahlmännern gewählt werden können, so erhält der Gemeindevorsteher in der Anlage das vom königlichen Rentamte angefertigte Verzeichniß der sämmtlichen steuerpflichtigen Individuen in der Gemeinde mit dem Auftrage, dieses Verzeichniß sogleich nach dem Empfange von Mann zu Mann zu durchgehen, bey Jedem das Lebensalter in der Rubrik der Bemerkungen einzutragen, diesem Eintrage sogleich die Bemerkung beyzufügen, im Falle das eine oder andere Gemeindeglied schon wegen Verbrechens oder Vergehens criminell prozeßirt und verurtheilt worden ist... endlich dann dieses Verzeichniß bis zur Vornahme der Wahl aufzulegen, diese Auflage aber sogleich in allen Ge meindeorten bekannt zu machen. . .“
Ganz eindeutig ist das auch in dem ausführlichen und übersichtlich angelegten Wahlprotokoll ausgedrückt, das noch am Wahltag, am 30. November 1848, in Oberstdorf angefertigt wurde: „ ... diesen Einträgen zugleich die Bemerkung beizufügen, wenn das eine oder andere Gemeindeglied schon wegen eines und welchen Verbrechens oder Vergehens prozessirt und abgestraft wurde.. Wie immer, so wurde z.B. auch im Mai 1855 in Oberstdorf auftragsgemäß „öffentlich bekannt gemacht“: „Zugleich wird bemerkt, daß das rentamtliche angefertigte Verzeichniß der Steuerpflichtigen bei dem Gemeindevorsteher Dünßer zu jedermanns Einsicht aufgelegt sey.“
Auch auf diese Weise sollte und konnte man also seine Mitbürger „kennen lernen“. Vom Persönlichkeitsrecht, das heute in jeder freiheitlich-demokratischen Verfassung garantiert ist, hielt man damals offensichtlich nicht allzuviel.
Gemeindevorsteher Rietzler wurde im gleichen Ausschreiben angewiesen, dieses Verzeichnis „zur Wahl mitzubringen und dem Commissär zu übergeben“, also dem Wahlleiter, der für die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl verantwortlich ist. Man sollte annehmen, daß es dafür keine geeignetere Person geben könnte als den örtlichen Gemeindevorsteher. So selbstverständlich war das aber durchaus nicht. Bei der „Wahl zu der allgemeinen deutschen Volksvertretung“ am 25. April 1848 war in Oberstdorf derkönigl. Assessor v. Edel vom Landgericht Sonthofen als Wahlcommißär tätig und bei der „Wahl der Wahlmänner für die bayer. Landtagsabgeordneten“ im Mai 1855 war es der königl. Gerichtsarzt Dr. Karrer.
Für die dazwischen liegenden beiden Landtagswahlen im November 1848 und im Juli 1849 wur de dann doch der Oberstdorfer Gemeindevorsteher berufen, der auch „das erforderliche Papier zu diesen Wahlen und die nöthige Anzahl von Stimmenzettel“ erhielt. Die Form, in der das geschah, würden wir heute wohl als demütigend empfinden. „In Ermanglung des erforderlichen Landgerichts-Personals wird Gemeindevorsteher Rietzler mit Beyzug des Gemeindepflegers Brutscher als landgerichtlicher Wahlkommißär für Oberstdorf und Schöllang ernannt.“ Auch nicht gerade die feine Art, wenn einem mitgeteilt wird, daß man gern einen anderen hätte! „Dieselben“, nämlich Rietzler und Brutscher, „haben daher zur näheren Information über Verfahren dieser Wahlen in den nächsten Tagen bei Landgericht dahier zu erscheinen.“
Dieser Vorgang zeigt die grundsätzliche Einstellung des Sonthofener Landrichters in auffallender Weise; denn es wäre weder die Entsendung eines Landgerichtsbeamten nach Oberstdorf noch das kränkende „In-Ermanglung“ notwendig gewesen. Schon im April 1848 hatte das bayerische Staatsministerium des Innern in seinen „instruktiven Weisungen“ (Punkt 4) festgehalten: „Zu Kommisären für die vorzunehmenden Urwahlen können nicht nur Beamte, sondern jeder hiezu als genügend befähigt erkannte zur Urwahl Berechtigte bestimmt werden“. Diese „Weisungen“, die auch im „Kreis-Intelligenzblatt von Schwaben“ abgedruckt waren, gingen an die Regierung in Augsburg und von hier an alle Vorstände der Landgerichte. Und da „durch allerhöchste Verordnung“ auch die Gemeinde Oberstdorf zur Abnahme dieses zweimal wöchentlich erscheinenden, für den Jahrgang drei Gulden kostenden Amtsblattes verpflichtet war, wußte auch Alois Rietzler Bescheid.
Alle landgerichtlichen Ausschreiben mußten in jener Zeit öffentlich „wort deutlich
verkündet“, „verrufen“, „abgelesen“ werden. ln älteren Anweisungen ist am Schluß
der Zusatz angebracht: „Zum Verrüfe in der Gemeinde Oberstdorf.“ „Diesem landgericht-
lichen Aufträge ist auch gehörig entsprochen worden“, schrieb der Oberstdorfer Protokollführer diensteifrig nach einer Wahl in die Niederschrift. Der Gemeindediener mußte mit der Gemeindeschelle in den Gassen des Marktes oder vom Fenster des alten Rathauses amtliche Nachrichten „ausschellen“. Die
letzte Oberstdorfer „Gmuindsschealle“ ist in unserem Heimatmuseum
(Raum 22)
zu sehen.
Persönlicher Stil des Landrichters
Der Stil der Bürokratie im allgemeinen und der des Sonthofener Landrichters im besonderen wird mit folgender Anordnung ganz getroffen: „Gemeindevorsteher von Oberstdorf erhält somit den Auftrag, sich mit allen seinen männlichen volljährigen Gemeindeangehörigen . . . früh 7 Uhr bei dem Gastwirth zur Sonne . .. einzufinden, damit das Wahlgeschäft sogleich beginnen kann.“ Inhalt und sprachliche Form dieser Anweisung erinnern eher an die Ankündigung eines Morgen appells beim Militär, an das Antreten zur Befehlsausgabe als an die Durchführung freier Wahlen. Man muß den Eindruck gewinnnen, daß hier nicht das Volk selbstbewußt, aus freien Stücken zur Wahlurne ging, um seinen politischen Willen kundzutun, sondern daß der Landrichter als der Repräsentant des Staates das Volk zur Wahlurne befahl. Der königliche Landrichter läßt wählen!
Wie der Niederschrift zu entnehmen ist, lief dann das „Wahlgeschäft“ in Oberstdorf genau nach Anweisung ab. Es „haben sich die unten im Protokolle aufgeführten stimmfähigen Gemeindeglieder heute . . . dahier eingefunden und wurde der Wahl-Act vom Wahl-Commißaer mit einer passenden Anrede an die Wähler eröff net ... die gedruckten Stimmenzettel . . . unter die Anwesenden vertheilet, und dann zur Wahl selbst geschritten, indem der Wahl-Commißaer die sämtlich anwesenden Gemeindeglieder nebentreten, dann Einen nach dem Andren wieder vor treten, die Wähler mit den Numern ihrer Wahlzettel, wie nachfolgt, ins Protokoll aufnehmen . . . ließ“.
Geradezu unvorstellbar erscheint aber das Ganze, wenn man bedenkt, daß zum Zeitpunkt der Bekanntmachung dieses landgericht-lichen Ausschreibens, also im Frühjahr 1848, nicht nur kleinere Unmutszeichen im Lande zu bemerken waren, sondern revolutionäre Versammlungen, Demonstrationen und Erhebungen in Berlin, München, Wien und in kleineren deutschen Städten eine unruhige Zeit ankündigten. Im März dankte der bayerische König Ludwig I. zugunsten seines Sohnes Maximilian II. ab; freilich nicht nur aus politischen, sondern auch aus privaten Gründen. - Mit dem Wort „Revolution“ verbinden wir die Vorstellung von Veränderung und Gewalt. Landrichter Thalhauser war zwar „beim Volke besonders unbeliebt“ , es ist ihm aber im Verlaufe der Revolution nicht nur kein Haar gekrümmt worden, sondern er ordnete in souveräner Weise weiterhin an, als ob nichts geschehen sei.
Es erscheint sehr zweifelhaft, ob der Landrichter echte Beziehungen zur Bevölkerung gehabt hat. Auch schloß er sich, wie er selbst berichtet, „gegen seine Untergebenen außerhalb des Dienstes vollständig ab, weil er jedem mißtraute". Vollständigkeit und Objektivität fordern natürlich die Ergänzung, daß Thalhauser mit seinem Umgangston nicht allein stand. Bittere Klagen über „ungebührliches“ Benehmen der Beamten gegenüber dem „einfachen Mann“ wurden bereits im Februar 1848 von der „Kempter Zeitung“ vorgebracht ". Und es kam wohl auch nicht von ungefähr, daß man „in Schwaben am altbayerischen Beamtentum nur seine Kriecherei nach oben und seine Grobheit nach unten sah“.
In diesem Zusammenhang bereitet es schon einige Schwierigkeiten, den folgenden Satz aus den ministeriellen „instruktiven Weisungen“ (Punkt 22) vom April 1848 zu kommentieren: „Es ist der ausdrückliche Wille seiner Majestät des Königs, daß die Freiheit der Urwähler von Seite der Behörden, sowie der ernannten Wahlcom missäre insbesondere, "in keiner Weise beeinträchtigt" werde“. Nur Fragen kann man hier anschließen: Wie sollten sonst eigentlich Wahlen abgehalten werden? Wie ist bisher denn gewählt worden?
Thalhauser und Rietzler
Beim Lesen verschiedener amtlicher Texte könnte man vielleicht zu dem Schluß kommen, es habe zwischen Landrichter Thalhauser und Gemeindevorsteher Rietzler Unterschiede in bezug auf den politischen Standpunkt gegeben. Das wäre frei lich ein falscher Schluß. Zu Meinungsverschiedenheiten gar konnte es schon deshalb nicht kommen, weil der Oberstdorfer Vorsteher um seine Meinung nie gefragt wurde. Alois Rietzler stand den liberalen Forderungen der Zeit sehr ablehnend gegenüber. Deshalb befanden sich auch der Oberstdorfer Arzt Dr. Joseph Groß und andere Einwohner in scharfem Gegensatz zu ihm. - Nicht ohne Grund ist Rietzler in einem Untersuchungsbericht, den die Kreisregierung in Augsburg 1852 für das Gesamtministerium in München erstellt hat und der das politische Verhalten bestimmter Personen während der Revolutionszeit 1848/49 beurteilt, in der „Weißen Liste“ aufgeführt. Von ihm konnte „persönliche Aufopferung gegen die Feinde des Königs und der Staatlichen Ordnung, bei strenger Berufserfüllung ersprießlich stes dienstliches Wirken“ berichtet werden.
Thalhauser war seiner ganzen Art nach „ein eingefleischter Konservativer“ . Bei zwei Vorfällen Ende des Jahres 1848 hat aber der Landrichter den Gemeindevorsteher in grober Form zurechtgewiesen. Zu einer echten Konfrontation ist es aber auch hier aus den oben genannten Gründen nicht gekommen. Rietzler wurde für mangelnde politische Aufsicht in Oberstdorf bzw. für seine geradezu rührende Ungeschicklichkeit verantwortlich gemacht.
Einmal ging es um „politische Wühlereien und Umtriebe“, wie der Landrichter Ver sammlungen im Oberstdorfer Schulhaus bezeichnete; dann um einen „Aufrufzettel des Volksvereins zu Kempten für die Landtagswahl betreffend“. Alois Rietzler mußte nach einer „landgerichtlichen Aufforderung“ vom 29. Dezember (!) umgehend erklären, „durch welche Dinstes-Instruktion oder wessen Veranlaßung oder Ansichten geleitet“, er sich „verpflichtet gehalten habe, den fraglichen Aufruf unter seinen Mitbürgern zu verbreiten“. Der Gemeindevorsteher beeilte sich, wie seinem Entwurf zu entnehmen ist, die ganze Angelegenheit zu verharmlosen: schließlich seien auch andere Aufrufe dieser Art in Oberstdorf im Umlauf gewesen, „welche dem Inhalt nach mit dem Kempter Aufruf übereinstimmten“. Auch habe der Gemeinds Diner... zwar einige Exemplare in den Wirtshäusern liegen laßen, obwohl schon solche dort selbst in den Zeitungen angelangt seyen.
Die noch übrigen Exemplare liegen bey dem gehorsamst Unterzeichneten vorräthig, was nicht schon zu Packpapier verwendet wurde“. Er sehe ein, so hält er in seinem Konzept fest, „daß diese s eine leichtsinnige Handlung für mich war, weil ich nicht zum Expetitionswesen berufen bin. - Dann allerdings drehte er den Spieß um und machte das von der bayerischen Regierung und den Kammern im Juni 1848 verabschiedete „Edikt über die Freiheit der Presse und des Buchhandels“ verantwortlich. „Indeßen“, so notierte Alois Rietzler, „ist es sonderbar, daß die verantwortlichen Redakteure schreiben dürfen, was sie wollen, und der gemeine Mann, welchem solches zuge schickt wird, nicht sollte lesen dürfen“. Es erscheint freilich zweifelhaft, ob der Gemeindevorsteher in der endgültigen Abfassung seiner Antwort an das Landgericht diese Formulierung verwendet hat.
„Seine Gnaden der Herr Landrichter“
Der Ton, in dem die landgerichtlichen Ausschreiben abgefaßt sind, hat sich während des Zeitraums, der in unserer Abhandlung dargestellt worden ist, nie geändert. So wird in einer Mitteilung vom November 1848 angeordnet, daß die Wahl „Morgens 8 Uhr präcis beginnen werde, daher alle wahlstimmfähigen Gemeindeange hörigen hiezu rechtzeitig vorzuladen seyen, und auch zu erscheinen haben, im Falle dieselben nicht durch Krankheit, Altersschwäche oder sonst ehehafte (= rechtsgül tige) Ursachen hievon gehindert sind“. Das „mißliche Verhältnis zwischen der ländlichen Bevölkerung und »Seiner Gnaden dem Herrn Landrichter« . . . zeigt sich mehr oder weniger stark in allen Schriftstücken Thalhausers.
Dieser herrische, herablassende Stil wurde in der damaligen Zeit sicher nicht als sympathisch empfunden, aber er stellte wohl auch nichts derart Außergewöhnliches dar, daß man in Oberstdorf deshalb aufbegehrt hätte. Dabei gehörte Oberstdorf nicht gerade zu den „folgsamen“ Gemeinden im Sinne der Vorgesetzten Behörden, wählte es doch bei den „gesteuerten“ Landtagswahlen im Juli 1849 im Gegensatz zu den meisten Orten im Allgäu immer noch liberal.
Es könnte aber doch sein, daß mancher Leser beim Betrachten der in unserem Artikel zitierten Textstellen aus den Akten verwundert oder gar ärgerlich den Kopf schüttelt und sich fragt: Wie ist es möglich, daß der Gemeindevorsteher und die Oberstdorfer Bevölkerung sich vom Landrichter derart gängeln und schurigeln ließen? Wer so fragt, sollte auf keinen Fall die allgemeinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts herrschten, außer acht lassen. Auch darf nicht vergessen werden, daß der einfache Bauer und Handwerker jener Zeit in seinem Leben kaum nach München oder Augsburg gekommen ist, um dort etwa die „hohen Herren“ der Regierung sehen und hören zu können.
Diesen Herren konnte er auch nicht bei Wahlversammlungen in seinem Oberstdorfer Wirtshaus mit Argumenten begegnen. Das moderne Massenmedium Fernsehen gab es nicht, das ihm diese Herren in seine Wohnstube gebracht hätte, um sich ein Urteil bilden zu können. Für ihn war deshalb der königliche, „allmächtige Landrichter“ nicht nur ein Mensch mit einem großen Maß an Amtsautorität, sondern er war, wie zu Anfang dieses Artikels schon kurz dargelegt, der unmittelbare Vertreter des Staates, fast möchte man sagen, er war der Staat. Und dieser Staat war nach dem damaligen Verständnis für die Mehrzahl der Menschen die von Gott gegebene Obrigkeit. So war es seit Menschengedenken fast immer gewesen.
Was heutzutage vielleicht zu viel angegriffen und in Frage gestellt wird, das ist da mals - von Ausnahmen abgesehen - häufig ohne spürbare Kritik hingenommen worden. Daß dann von denen, die sich rührten, auch Fehler gemacht wurden, ist nur zu verständlich. Treffend schrieb im Juli 1848 der Kemptner Jurist und Redak teur Balthasar Waibel: „Wir sind eben alle in politischen Dingen noch Kinder, die durch Stolpern und Fallen das Gehen lernen müssen“.
Nur wenn man versucht, sich in diesen gesamten Sachverhalt hineinzuversetzen, wird man ein gerechtes Urteil fällen können.