Blauweiße und schwarzgelbe Grenzpfähle trennten Oberstdorf von Lechtal, Tannberg und Kleinwalsertal.
Grenzen, Landesgrenzen sind willkürlich von Menschen gezogene Linien, deren Überschreitung seit jeher mit allerlei Schwierigkeiten verbunden waren. Menschen gleicher Rasse, gleicher Sprache, ja aus gleichen Familien stammend, wurden gewaltsam getrennt. Bis in unsere jüngere Zeit starben sogar Menschen, die nichts Schlimmeres getan hatten, als eine von Politikern künstlich aufgebaute Barriere zu überqueren.
Über Jahrhunderte gab es keine Schwierigkeiten, wenn Bewohner des Tannbergs über die Birgeralp und den Salzbichl oder über den Schrofenpass nach Oberstdorf kamen, dort auf den Wochen- und Jahrmärkten einkauften und mit ihren Waren zurückkehrten. Es bereitete auch keine Schwierigkeiten, wenn von Oberstdorfer Seite Hunderte von Schlachtochsen auf den gleichen Wegen hinüber getrieben und von dort weiter bis ins „Welschland” verkauft wurden. Es verlangte sicher niemand ein Grenzpapier, als, 1661 beginnend, die Holzgauer Wallfahrer auf dem beschwerlichen Weg über das Mädelejoch zur wundertätigen Muttergottes nach Loretto pilgerten. Und noch näher liegend, war der Personen- und Warenverkehr zwischen Oberstdorf und dem Kleinwalsertal eine alltägliche Angelegenheit.
Im Osten, Süden und Westen stößt der Markt Oberstdorf an Tirol und Vorarlberg und es gab wohl Grenzen, doch wurde deren Überschreiten und der Handel hinüber und herüber großzügig gehandhabt.
Das Ende des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation” in der napoleonischen Zeit veränderte die Situation zum großen Nachteil für die Bewohner. Zwischen der „Gefürsteten Grafschaft Tirol” und dem Land Vorarlberg einerseits und dem neugeschaffenen Königreich Bayern wurde ein Grenze, eine echte Landesgrenze gezogen. Der Grenzübertritt war nur noch mit amtlicher Erlaubnis gestattet und der Warenverkehr unterlag den strengen Zollbestimmungen. Der Handel zwischen dem Lechtal bzw. Tannberg und dem Allgäu wurde zu einem erheblichen Teil in die Illegalität getrieben.
Besonders schwer trafen die harten Zollvorschriften die Bewohner des Kleinwalsertales. Durch hohe Berge vom Mutterland Österreich abgeschnitten, waren die Walser auf den Handel mit dem oberen Allgäu angewiesen. An der Walserschanze begann für sie das Ausland und jedes Stück Gerätschaft, jeder Sack Korn, der ins Tal geholt wurde, musste dort verzollt werden. Größere Warengeschäfte mussten gar in Oberstdorf im Zollhaus am Ortseingang getätigt werden. Die Lebenshaltungskosten der Talbewohner stiegen gewaltig. Zeitweise gab es eine totale Grenzsperre. Den Bauern des Tales war es nicht mehr möglich, selbst gezüchtetes Vieh ins Oberallgäu zu verkaufen und auch die einzige Handelsware, das Schmalz, konnte nicht mehr abgesetzt werden. In größter Not wurden Vieh und Schmalz über die Berge in den Bregenzerwald verbracht und dort feilgeboten. Natürlich nutzten die Händler die Notlage der Walser aus und so mussten diese oft um einen Spottpreis verkaufen, wollten sie Vieh und Ware nicht wieder über die Berge mit nach Hause nehmen. Von solch harten Maßnahmen betroffen, verarmte die Bevölkerung des Tales.
Bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts stellten die Walser in Wien den Antrag, an das bayerische Wirtschaftsgefüge angeschlossen zu werden, doch die bürokratischen Wege waren weit, sehr weit. Es lag aber doch mehr an den österreichischen als an den deutschen Behörden, dass die Zustimmung länger als 50 Jahre auf sich warten ließ. Erst am 1. Mai 1891 trat der Zollanschlussvertrag in Kraft, so dass im Tal die Mark-Währung galt und Waren zollfrei eingeführt werden konnten. Dies hatte zur Folge, dass deutsche Zöllner im Walsertal Dienst taten und das Zollamt von der Walserschanze nach Baad verlegt wurde. Nun mussten die Walser jene Waren verzollen, die sie aus ihrem eigenen Mutterland Österreich einführen wollten.
Das Zollkontrollwesen entlang der Grenzen wurde ausgebaut. So entstand kurz nach der Jahrhundertwende in Oberstdorf, neben dem Bahnhof, das neue Zollamt, dem ein Wohngebäude für Bedienstete und Stallungen für die Dienstpferde angeschlossen waren.
Abgesehen von gelegentlichen kleineren Schikanen verlief der Grenzverkehr über die folgenden Jahrzehnte meist ruhig. Bei Kriegsbeginn 1914 wurde auf deutscher Seite an der Walserschanze eine „Grenzwachstation” eingerichtet, diese sollte das Einreisen „feindlicher Spione” und dergleichen verhindern. Allerdings wurde in den Wochen und Monaten von der Grenzwacht kein Spion verhaftet und so wurden die tapferen Landesverteidiger alsbald wieder abgezogen.
Problematisch wurde es, als die Deutsche Reichsregierung am 29. Mai 1933 die „Tausendmarksperre” einführte. Aufgrund dieses Erlasses hatte jeder deutsche Staatsbürger, der eine Reise ins Nachbarland Österreich antreten wollte, an den deutschen Staat die Summe von 1.000 Reichsmark zu entrichten. Diese Auflage war eine wirtschaftliche Sanktion und traf den österreichischen Tourismus, der ja zum Großteil vom deutschen Gast lebte, ins Mark. Mit der Sperre war eine Schwächung von Österreichs Wirtschaft und folglich der Sturz der Dollfuß-Regierung beabsichtigt. Mit einbezogen in die Sanktion wurde das Kleinwalsertal ab 28. April 1934. Nach längeren Verhandlungen wurde die Tausenmarksperre im sog. „Juliabkommen” (11. 7. 1936) zurückgenommen. Auslöser für die „Strafmaßnahme” war, dass die österreichische Regierung dem bayerischen Justizminister Hans Frank die Einreise verweigert hatte, als dieser von nationalen österreichischen Kräften zu einer Propagandafahrt eingeladen worden war.
Kleinliche, ja geradezu schikanöse Auslegungen der Grenzbestimmungen führten in der Folgezeit auch in den Oberstdorfer Bergen zu Problemen. Der Heilbronner Weg führt an verschiedenen Stellen über österreichisches Hoheitsgebiet.
Mit Plakaten und Handzetteln wurden Touristen gewarnt und auf die kleinlichen Bestimmungen hingewiesen.
An der Rappenseehütte, am Waltenbergerhaus und an der Kemptner Hütte waren 1937 den ganzen Sommer über Zollbeamte stationiert, die den Grenzverkehr über den Heilbronner Weg zu überwachen hatten. Ohne ein Visum im Pass durfte niemand den Höhensteig begehen. Und kein Tourist durfte mehr als 10 Reichsmark an Bargeld mit sich führen. Dieser Erlass führte dazu, dass auf den Alpenvereinshütten Gelddepots eingerichtet wurden. So erhielt z. B. ein Tourist, der auf der Rappenseehütte beim Wirt Franz Kaufmann 20 RM eingeliefert hatte, eine Quittung über diese Summe. Aufgrund des Beleges zahlte auf dem Waltenbergerhaus der Wirt Alois Braxmair die Barsumme wieder aus. Peppi, die Tochter des Franz Kaufmann, erzählte mir einmal, dass dem Braxmair das Geld ausgegangen war und ihr Vater deshalb, mit einer gehörigen Summe im Rucksack, über den Heilbronner Weg seinem Nachbarn ausgeholfen hat. Sie, als junges Mädchen, hat den Vater beim Geldtransport begleiten dürfen.
Dieser bürokratische Blödsinn der Visapflicht am Heilbronner Weg bestand nur im Sommer 1937, denn im März 1938 erfolgte der „Anschluss” Österreichs. Die Touristen betraten dann auf dem Heilbronner Weg kein Ausland mehr, sie wanderten auf der ganzen Strecke innerhalb der Grenzen „Großdeutschlands”.
Was für ein Aufwand musste wegen dieser Anordnung betrieben werden: Auf jeder der drei Alpenvereinshütten waren rund um die Uhr zwei Zollbeamte anwesend, um den Touristen die notwendigen Visa auszustellen. Gelegentlich kontrollierten auch Streifen noch Passanten auf dem Höhensteig. Die geplagten Hüttenwirte mussten von den Alpinisten die Gelder entgegennehmen, sicher verwahren und Belege ausstellen. Die Gegenstelle hatte die Last der Auszahlung und dies meist in der Zeit, wo Wirt und Personal so schon belastet waren.
In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es wieder strengere Grenzkontrollen. Doch waren die ausführenden Organe in aller Regel menschlich. Ich entsinne mich sehr gut daran, dass beim Aufzug auf die Alpen im Rappenalptal Zöllner die „Beschlaghefte” (Auflistung des gesamten Viehbestandes auf einer Alpe) kontrollierten. Auch während des Sommers kamen die Beamten einige Male zur Nachschau. Allerdings verliefen diese Kontrollen ganz einfach. Ich war damals Hirt auf der Biberalpe und wenn die Kontrolleure kamen und fragten: „Hast noch alles?”, wurde auf mein „Ja“ ins Beschlagheft geschrieben: „Weidevieh am [...] auf Vollzähligkeit kontrolliert. O. B. [Unterschrift]” und der Fall war erledigt.
Wir können uns glücklich schätzen, heute in einer Zeit zu leben, wo solche Schikanen in unserem unmittelbaren Umfeld der Vergangenheit angehören. Wer fragt heute noch, wenn wir die Grenze zu unserem Nachbarland überschreiten, nach Pässen und mitgeführten Waren oder Geldsummen in einem gewissen Rahmen? Wer fragt noch nach einem zugelassenen Grenzübergang? Wer kontrolliert noch, wenn wir als Bergtouristen oder Skiläufer die weißblauen oder rotweißen Grenzpfähle hinter uns lassen? Niemand! Solche Freizügigkeiten, wie wir sie heute genießen, hat es davor zu keiner Zeit gegeben. Eine Überlegung in diese Richtung sollten unsere „Ewig- Jammerer” vielleicht einmal anstellen.