Fünfmal Oberstdorf ?

von Dr. Thaddäus Steiner am 01.12.1993

Die Siedlung Oberstdorf hat einen Namen, der im deutschen Sprachgebiet wohl einmalig ist. Man braucht nur im Postleitzahlenbuch nachzuschlagen, um zu erkennen, wieviel prekärer die Lage für verschiedene Oberdorf oder gar Oberndorf ist, die sich voneinander nur durch Zusätze unterscheiden lassen. Oberstdorf kommt zum Glück nur einmal vor. Und da soll es diesen Namen mehrmals geben? Das gilt nicht für den deutschen Wortlaut, wohl aber für den Sinn des Namens und damit für das Benennungsmotiv zur Zeit der Namengebung.

Ein oberstes Dorf - und das ist ja die Bedeutung unseres Ortsnamens - müßte es doch vor allem in den Alpentälern, wo ja die Siedlungen nacheinander gegen den Talanfang immer höher hinaufsteigen, mehrmals geben? In der Tat, so ist es auch, freilich kein zweites Mal in deutscher Sprache. Mancher Oberstdorfer mag schon mit dem Auto das Rheintal aufwärts gefahren sein und dabei im rätoromanischen Oberteil, weit oberhalb Ilanz, nach Trun und Rabius, das Ortsschild Sumvitg, deutsch Somvix, gelesen haben. Das mag ihm sehr fremdartig vorgekommen sein, wie mir auch, zumal man die Lautfolge -vitg ( = tsch) auf deutsch gar nicht aussprechen kann. Sieht man aber die älteste urkundliche Nennung dieses Namens aus dem 12. Jh. (auch für Oberstdorf liegt sie aus dem 12. Jahrhundert, nämlich von 1141 vor, allerdings nur in der sicher beim Kopieren im 15. Jh. entstellten Form Oberstorff, die »de Sumovico« geschrieben wurde, kann man mit etwas Lateinkenntnissen erkennen, daß der Name aus zwei Bestandteilen besteht, die mit der Endung -o grammatisch aufeinander abgestimmt sind. Der erste Teil, lat. summus, bedeutet ’der oberste’, der zweite, vicus, bedeutet im Lateinischen ’Stadtviertel’, ’Gasse’, im Rätoromanischen aber ’Dorf’. Sumvitg/Somvix meint also nichts anderes als ’Oberst(es) Dorf’.

Freilich wird der Autofahrer bald darauf den stattlichen Ort Disentis/Muster passieren und sich vielleicht sagen, daß der Name Sumvitg doch sachlich nicht richtig sein könne. Das trifft für den heutigen Stand durchaus zu, doch war das nicht immer so. Disentis/Muster wurde, wie der zweite Name sagt, als monasterium = Kloster gegründet. Dies geschah schon sehr früh, bald nach dem Martyrertod des Heiligen Placidus am Anfang oder in der 1. Hälfte des 8. Jhs. Aus der Zeit zwischen 750 und 810 n. Chr. ist eine Gebetsverbrüderungsliste von 164 Mönchen des dort gegründeten Klosters überliefert mit der Überschrift »Nomina fra- trum de monasterio qui (!) vocatur Dersertinas«. Später, um 1220, heißt die Gemeinde »Comune de Desertina«, ihre Bevölkerung »homines case Dei Diserti- nensis«, also ’die Menschen des Gotteshauses von Disentis. Diese Formen erklären den Namen »Disentis« als Ableitung von lateinisch desertus ’verlassen, unbewohnt, unbebaut, verödet, leer’ usw. Er bedeutet also ’in der öden, unbesiedelten (wüstenhaften) Gegend’. Dies zeigt, daß oberhalb von Sumvitg ehemals keine nennenswerte Siedlung mehr existierte und daß der Name »Oberstdorf« für das heutige Somvix damals durchaus gerechtfertigt war. Ähnlich steht es ja mit Oberstdorf selbst auch, das heute nicht mehr das »oberste« Dorf ist, weil die später entstandenen Walserorte Riezlern, Hirschegg und Mittelberg viel höher oben liegen.

Wenn einmal das Prinzip der Namengebung des obersten Dorfes erkannt ist, wird man sich natürlich fragen, ob nicht auch in weiteren Alpensprachen solche Namen gebildet wurden. In der Tat gibt es im Französischen einen Ort namens Sommeville, allerdings nicht in den Alpen, sondern in der Gemeinde Chevillon an der Marne, ca. 20 km oberhalb von Saint-Dizier. Sommeville ist im Jahre 1101, also wieder im 12. Jh., erstmals beurkundet in der Form »summe ville«, was ebenfalls ’Oberstes Dorf’ bedeutet, nur daß hier das lateinische villa, statt vicus zugrunde liegt. Der Name wurde wohl nicht in erster Linie nach der Höhenlage vergeben, sondern nach dem Voranschreiten der Rodung das Marnetal aufwärts. Sommeville ist heute, wie schon der Blick auf eine Straßenkarte zeigt, längst nicht mehr der oberste Ort im Marnetal, war es vielleicht, objektiv gesehen, noch nie, sondern nur im Sinne eines Siedlungsvorstoßes von Saint-Dizier aus, doch konnte ich Näheres hierzu nicht ermitteln. Mit unserem Oberstdorf in der Lage vergleichbar ist dieser Ort jedenfalls nicht.

Die dritte romanische Alpensprache, das Italienische, bietet nun tatsächlich in den Alpen selbst einen Ort, der mit gewissem Recht als ein weiteres »Oberstdorf« aufgefaßt werden kann. Wie Sumvitg liegt Vicosoprano in einem bedeutenden Alpental, dem der Mera (Maira), besser bekannt unter dem Namen Bergell, und gehört ebenso zum Schweizer Kanton Graubünden. Dieses Vicosoprano, rätoromanisch Visavran gesprochen, ist schon 1096 in einer lateinischen Urkunde bezeugt, in der es heißt „. . . de vico qui cognominatur Supranus”, d. h. wörtlich „vom Dorf, das man nennt das Obengelegene”, bald darauf „Vico soprano”. Grammatisch liegt hier nicht die höchste Steigerungsform, der Superlativ, vor, sondern nur die erste, der Komparativ. Dennoch gibt der führende Kenner der Graubündner Namenwelt, Andrea Schorta, als Übersetzung von lateinisch superanus ’oben befindlich, oberst an.

Fu08nfmal Oberstdorf - Heft 23

Sumvitg in Graubünden

Fünfmal Oberstdorf - Heft 23

Vicosoprano im Bergell

Man kann also mit gutem Gewissen sagen, daß auch Vicosoprano »Oberstdorf« bedeutet, wenn auch der sprachliche Bau etwas anders ist als bei Oberstdorf, Sumvitg und Sommeville. Vicosoprano ist heute auch nicht mehr das oberste Dorf im Bergell. An der Wegvereinigung von Septimer und Maloja liegt Casaccia, dessen Name zu casa ’Hütte’ gebildet ist und noch auf den ganz einfachen Ursprung dieser Siedlung verweist. Es ist aber klein geblieben, noch kleiner blieb Löbbia, denn das Bergell ist eng und steil wie nur wenige der bedeutenden Alpentäler. Ein Schweizer Reiseführer urteilt noch heute über Vicosoprano: „Ohne die Paläste der Salis in Soglio beleidigen zu wollen, muß man doch Vicosoprano den Hauptort der Talschaft nennen.”

Von einem weiteren Vicosoprano, das mir früher völlig unbekannt war, habe ich erst Kenntnis erhalten. Es liegt nicht mehr in den Alpen selbst, sondern in deren Fortsetzung, dem Ligurischen Appennin, ostnordöstlich von Genua. Fährt man von Piacenza am Po das Tal der Trebbia aufwärts, trifft man auf Bobbio mit dem berühmten Kloster, das der Heilige Kolumban im Jahre 612 n. Chr. gegründet hat, nachdem er sich wegen des Mißerfolgs seiner Missionspredigt in Bregenz nach Italien gewendet hatte. Ein Stück talaufwärts mündet dann von Süden her der Aveto, in dessen später besiedeltem Tal die Gemeinde Rezzoaglio liegt. Zu dieser Gemeinde gehört das kleine, nach südlicher Sitte enggebaute Dörfiein Vicosoprano mit wuchtiger, alter Kirche, die nur sehr kleine Fensteröffnungen zeigt.

Das ganze obere Aveto-Tal gilt als herrliches Wandergebiet mit Wiesen, Alpweiden und Wäldern, im Winter sogar als Skigebiet, obgleich der höchste Berg, der Monte Maggiorasca, nur 1803 m Höhe erreicht, was durch die reichlichen Winter-Niederschläge vom Ligurischen Meer her wieder aufgewogen wird. Leider konnte ich über dieses Vicosoprano weder geschichtliche Nachrichten noch die genaue Lage gegenüber San Stefano d’ Aveto, dem zweiten Hauptort dieser Landschaft, ermitteln. Es scheint aber, daß auch dieses Vicosoprano heute nicht mehr das »oberste Dorf« ist, so daß es sein Schicksal mit den anderen obersten Dörfern teilen muß, nämlich von noch höher gelegenen in der Lage übertrumpft worden zu sein, aber nicht unbedingt auch an Bedeutung.

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