Ein leuchtendes Zeugnis gotischer Zier und Herrlichkeit
Die Reichenbacher feierten am 22. Juli dieses Jahres mit Freude und Stolz das 500jährige Jubiläum ihres Kleinods in der St.-Jakobus-Kapelle, genannt Kappl.
Die südöstlich über dem Dorf zwischen Viehweiden gelegene Bergkapelle wurde 1540 (Jahreszahl im Dachstuhl) neu erbaut, wobei die spätgotischen Umfassungsmauern des Altarraumes stehen blieben. In dem eingezogenen, gerade geschlossenen Chor leuchtet ein Juwel spätgotischer Schnitzkunst auf. Lange Zeit unbeachtet, und auch in seiner künstlerischen Bedeutung nicht erkannt, ist der Altar jetzt ein Anziehungspunkt sakraler Schönheit des Mittelalters für Gäste und Einheimische geworden.
Auch wenn die letzte Renovierung 1952 leider eine unglückliche Neufassung erbrachte, ist der Kraft und der Reinheit der Figuren kein Abbruch geschehen. Bei dieser Gelegenheit gelangte die bemalte Rückwand des Schreines als Tafelbild an die südliche Wand des Langhauses und überrascht dort den Besucher wegen seiner Größe, Farbigkeit, figürlichen Bewegtheit und Spannung.
Der 1495 datierte Choraltar (die Jahreszahl ist am überhöhten Sockel der Mittelfigur aufgemalt) stellt die Gottesmutter mit sechs Heiligen vor (v.l.n.r.): Elisabeth, Johannes den Täufer, Vitus, Barbara, Sebastian, Katharina. Daß diese Anordnung nicht die ursprüngliche gewesen sein kann, zeigen die in gotischen Buchstaben am Schreinsockel aufgemalten Namen der Heiligenfiguren, nämlich in der Reihenfolge von links nach rechts: s’iohaes baptista, sancta kathrina, sancta maria, sancta elisabeth, sanctus Sebastian.
Mit Ausnahme der Mariendarstellung stammen diese vier kraftvollen und ausdrucksstarken Holzfiguren mit den über den Standsockel fallenden Kleidersäumen aus der am 21. August 1479 mit drei Altären von dem Augsburger Weihbischof Ulrich zu Ehren der Jungfrau Maria in Schöllang geweihten Kapelle, deren Hauptgnadenbild, nämlich die zugehörige Muttergottes, sich in der späteren Pfarrkirche bis heute erhalten hat. Sie bildeten den Choraltar, der zu Ehren der Jungfrau Maria, der hl. Elisabeth, der hl. Katharina und der hl. Anna errichtet worden war.
Neuere Forschungen schreiben die ehemals Schöllanger Figuren einer Werkstatt Kemptener Bildschnitzerei zu, die sich aus der Schule Hans Multschers entwickelt hat. Früher als „Meister des Wirlingser Ursulaschiffs” bezeichnet, wird der namentlich bislang Unbekannte, der in der Allgäuer Bildschnitzerei des letzten Drittels des 15. Jahrhunderts eine führende Stellung einnimmt, nach seinem frühen Hauptwerk, den Figuren des Altares der Katharinenkapelle von Imberg, benannt. Stilistisch eng verwandt mit der Reichenbacher hl. Elisabeth ist beispielsweise eine hl. Felicitas in der Alpenländischen Galerie Kempten wie auch die Muttergottesfigur in Imberg und eine hl. Helena in Rechtis.
Die zu diesen Figuren des Meisters des Imberger Altars nicht zugehörigen Maria mit Kind, Vitus und Barbara, jetzt als Mittelgruppe im Reichenbacher Altar, bilden überaus fein gestaltete Memminger Arbeiten unter Ulmer Einfluß (Ivo-Strigel-Werkstatt).
Die ehemalige Altarrückwand zeigt den Heimgang Mariens auf eindrucksvolle Weise: Die Gottesmutter liegt in einem mächtigen hölzernen Bett auf blau-weiß kariertem, großem Kissen im Sterben. Um sie herum haben sich die Apostel in Trauer, Gebet und Beistand versammelt; an ihrer Spitze teilt Petrus in liturgischer Kleidung (Chormantel), die Sterbegebete verrichtend, das Weihwasser aus, daneben spendet der Lieblingsjünger Jesu, Johannes, den letzten Segen. Zu Füßen der gotischen Bettstatt brennt auf hohem Leuchter die Kerze als Zeichen des Übergangs zum ewigen Leben. Es sind Allgäuer Apostelköpfe, kantig und herb, und daher eher der Kemptener Werkstätte zuzuordnen, die auch die ehemals zum Schöllanger Altar gehörigen fünf Figuren geschaffen hat.
Die Rahmung des Altars mit Vorgesetzten Säulen, Blattwerk, Konsolen und schmuckvollem Aufsatzgiebel, in den ein Rundbild der hl. Anna Selbdritt sowie zwei sitzende Engel sich befinden, ist aus frühbarocker Zeit (erste Hälfte des 17. Jahrhunderts). Die reich mit Ranken und Zweigen ausgeschmückte Maßwerkzone dagegen gehört bis auf geringfügige Ergänzungen zum gotischen Bestand.
Der mittelalterliche Reichenbacher Kappl-Altar bedeutete dem Menschen bis weit hinein in die Neuzeit Lebenshilfe und Lebensbegleitung. Jeder der Heiligen hatte eine wesentliche Aufgabe zu erfüllen bzw. Zeugnis abzulegen für die Nachfolge Christi: an erster Stelle die Gottesmutter als bedeutendster Zeuge der Menschwerdung Gottes; an zweiter Stelle Johannes der Täufer, auf das Lamm Gottes weisend als wichtigster Verkünder des Lichtes; der Märtyrer Sebastian als Helfer bei Seuchen und Krankheiten; der Blutzeuge Vitus, einer der Vierzehn Nothelfer; Barbara und Katharina, die als die »Virgines capitales« gelten und als Nothelferinnen besonders verehrt wurden (Barbara ist den Sterbenden Beistand und schützt vor Unwetter und Feuersgefahr, Katharina hilft bei Sprachhemmungen); Elisabeth als die Schutzpatronin der Armen, Rechtlosen und Kranken. Und schließlich mahnt der Tod Mariens an das Sterben des Christen, das von den Zeichen und Gebeten der Kirche tröstlich und beruhigend begleitet wird.
Wie das mit Eifer und Liebe durch die Reichenbacher Dorfgemeinschaft vorbereitete und gestaltete Altarsjubiläum im Juli dieses Jahres bewies, hat der Kappl- Altar seine ursprüngliche Aufgabe, nämlich Mittler zwischen Gott und Mensch zu sein, bis auf den heutigen Tag nicht verloren.
Die Reichenbacher werden weiterhin ihr goldenes Kleinod bewahren und verehren.
Schrifttum:
Archivalien im Pfarrarchiv Schöllang
Hans Peter Hilger, Alpenländische Galerie Kempten: Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums, München Katalog, München 1991 Albrecht Miller, Allgäuer Bildschnitzer der Spätgotik, Kempten 1969
Michael Petzet, Die Kunstdenkmäler von Schwaben, VIII. Landkr. Sonthofen, München 1964; mit Lit.-Angaben Werner Schnell, Die Kirchen der Pfarrei Schöllang im Allgäu, Schnell, Kunstführer Nr. 1042, München 19933