Die Sennküche im Oberen Markt

von Eugen Thomma am 01.12.1995

Käseherstellung im Allgäu, „in dem Land, wo Milch und Honig fließt”, erscheint heute als Selbstverständlichkeit. Oder, ist das schon überholt und kennen viele die Käserei nur noch von Hörensagen?

Gehen wir einmal zurück zum Anfang des 19 Jahrhunderts. Damals als in Oberstdorf noch Ackerbau und Leinwandweberei betrieben wurden, spielte die Milchwirtschaft eine untergeordnete Rolle. Feldfrüchte für den Eigenbedarf und Flachs (Lein) wurden angebaut, Jungvieh, Mastvieh und Pferde zum Verkauf herangezogen. Unsere späteren Sennalpen wie Schrattenwang, Söller, Schlappold, Warmatsgund waren alle Galtalpen.

Die im Tal gewonnene Milch wurde hauptsächlich für den Eigenbedarf und zur Herstellung von Butter verwendet. Butter, als Schmalz haltbar gemacht, ist dann in den Handel gebracht worden. Meist nur aus Magermilch wurden in jedem Haus die sog. »Hüskäsle« produziert und von der häufig vielköpfigen Familie gegessen. Viehverkauf und Leinwandweberei waren die Einnahmequellen.

Der erste Einbruch in diesen bescheidenen, aber letztendlich doch ein Existenzminimum sichernden Wirtschaftsablauf brachte, so komisch das klingen mag, der Friede, der Friede von 1815. War es vorher ca. 20 Jahre lang so, daß die Bevölkerung durch immer neue Besatzungen ausgeplündert und zu immer neuen Abgaben von Geld und Naturalien gezwungen war, so brachte der Friede ein bis dahin unbekanntes Übel: Absatzschwierigkeiten beim Leinen. Nach Aufhebung der von Napoleon gegen England verhängten Kontinentalsperre überschwemmte bald das Inselreich den Kontinent mit billiger Baumwollware. Die einsetzende Mechanisierung und Industrialisierung ließen in England eine blühende Textilindustrie entstehen.

Hatten bisher die Familien der Kleinbauern - Großbauern hat es in Oberstdorf nie gegeben - mit der Bearbeitung des Flachses und der Herstellung von Leinen einige Kreuzer dazuverdienen können, so blieben sie nun auf ihrer Ware sitzen. Sklaven auf den Baumwollfeldern und versklavte Industriearbeiter produzierten noch billiger, als dies arme Bergbauern tun konnten.

Sennküche - Heft 27

Die Sennküche im ehemaligen Anwesen Nr. 82
 Brutscher (Edlmändlar)/Köcheler (Lonzar), dem heutigen Heimatmuseum.

Gerhard Hauptmann hätte die Handlung seiner »Weber« und Karl May die seines Buches »Das Buschgespenst« auch in das oberen Allgäu verlegen können. Die Not war hier wohl nicht geringer.

Peter Dörfler hat in der Allgäu-Trilogie das Elend und die Sorgen der damaligen Bewohner geschildert. Er beschreibt in den drei Bänden »Der Notwender«, »Der Zwingherr« und der »Alpkönig« auch den Wandel vom Ackerbau zur Milchwirtschaft und damit den Wandel vom »blauen Allgäu« (wegen des blaublühenden Flachses) zum »grünen Allgäu«, zum Allgäu der Weidewirtschaft.

Zaghaft begann um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Käseherstellung im großen Maße. Wohl hatten Althaus und Stadler schon ca. 20 Jahre früher im Oberallgäu Käse nach Emmentaler Art hergestellt, aber es dauerte Jahrzehnte, bis die Umstrukturierung vollzogen und neue Märkte erschlossen waren. Erst als das Dampfroß (1853 München - Lindau) ins Allgäu schnaufte, konnte Allgäuer Käse gewinnbringend auf den Markt gebracht werden.

Jetzt schossen Käsereien wie Pilze aus dem Boden. Milch war als Handelsware plötzlich gefragt. Der Ackerbau kam gänzlich zum Erliegen. Wo vorher Gerste, Hafer, Lein, Bohnen und Kartoffeln gewachsen waren, dehnten sich nun grüne Wiesen aus. Nur die Flurnamen erinnerten und erinnern noch heute an jene Zeit.

Immer mehr Milchkühe standen in den Ställen. Die Talweiden reichten nicht aus. Jungviehalpen wurden zu Sennalpen umfunktioniert. Die Schaf- und Ziegenhaltung ging zurück. Das Bergheuen wurde intensiver denn je betrieben. Milchverkauf war augenblicklich das beste Geschäft.

In vielen Oberstdorfer Häusern enstanden Sennereien. Dem Kaspar Tauscher (Hs- Nr. 167) sollen beim großen Brand für 2000 Gulden (fl) Käse zugrunde gegangen sein (als Vergleich: 1 Taglohn eines Arbeiters war zu der Zeit 30 Kreuzer, also ein halber fl).

Weitblickende Männer erkannten, daß nur der Export dem nun plötzlich auftretenden Überangebot an Butter und Käse abhelfen konnte. Jetzt ergaben sich Qualitätsprobleme, und nur große Transporte konnten rentabel gestaltet werden. Ein harter Konkurrenzkampf unter den kleinen Sennküchen setzte ein. Jeder Senn warb um neue Milchlieferanten.

Im Jahre 1908 schlossen sich dann 16 Landwirte im Oberen Markt zu einer Genossenschaft zusammen, gemeinschaftlich wollten sie eine moderne Käserei erbauen und qualtitativ bessere Ware herstellen. Außerdem war man als größerer Produzent ein wesentlich stärkerer Handelspartner.

Die junge Genossenschaft kaufte von dem Ökonomen Alois Hindelang (Babischdlar), Hs-Nr. 85, ein Teilgrundstück und errichtete 1908 darauf das Sennereigebäude an der Lorettostraße. Die drei Käskessel mit 400, 700 und 1100 Liter Fassungsvermögen lieferte die Firma Vogt aus Arbon in der Schweiz. Dort war man ja mit der Käseherstellung schon wesentlich weiter als bei uns. Ulrich Schöll aus Obermaiselstein war dann der erste Milchkäufer und hatte pro 1000 Liter Milch 115,- Mark zu entrichten. Die Sommermilch 1909 kostete dann schon 170,- Mark per 1000 Liter, denn durch die Älpung der Milchkühe war die »Ware« Milch im Tal rarer geworden, und die Nachfrage regelte auch damals schon den Preis.

Sennküche - Heft 27

Das Kornauer Milchfuhrwerk (Anton Schäffler), das die Milch zur Oberstdorfer 
Sennküche brachte (ca. 1938).

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Vor der Schöllanger Sennküche, die auch Oberstdorf angegliedert war,
warten die Molkenfässer aufs »Füllen«.

Die Genossenschaft verteidigte ihre Statuten und ging gegen Mitglieder, die aus der Reihe tanzten, mit harten »Strafen« vor. Wer z.B. Milch ab Hof an Private verkaufte, wurde mit 25,- Mark Buße belegt. Diese Bußen waren aber nicht nur angedroht, sondern wurden auch mit aller Konsequenz durchgesetzt.

Über die verarbeiteten Milchmengen geben uns die Zahlen der Jahre 1918/1919 Auskunft. Die Gesamtmilchanlieferung betrug 1918 262.449 kg und 1919 317.437 kg. Obwohl die katastrophale Ernährungslage in beiden Jahren etwa gleich war, machte sich in den Zahlen die Heimkehr vieler junger Männer bemerkbar. Die Landwirtschaft und dabei insbesondere die Bergheugewinnung konnten wesentlich intensiver betrieben werden. Welche Steigerung die Milchproduktion erfuhr, belegen die Zahlen des Rechnungsjahres 1935/36, wo die

Eigenanlieferung 974.244 Liter betrug und der
Zukauf 158.265 Liter ausmachte; es wurden also
Gesamt1.132.509 Liter Milch in dem Betrieb verarbeitet.

Im Jahre 1938 gab es eine gewaltige Steigerung in der Milchanlieferung. Die bis dahin selbständigen privaten Sennereien von Magnus Haas (Hs-Nr. 169) und Hans Jäger (Hs-Nr. 258) wurden auf »Befehl« des Milchwirtschaftsverbandes geschlossen.

Auch die Kornauer Sennerei des Michl Schmid (Bieblar) mußte unter diesem politischen Druck das Feuer unter dem Käskessel ausgehen lassen.

Um die gesteigerten Milchtransporte in eigener Regie durchführen zu können, kaufte die Genossenschaft 1939 ihr erstes Lieferauto. Unter den Zwängen der Kriegswirtschaft wurden 1940 die Sennereien Reichenbach und Schöllang der Molkerei Oberstdorf zugewiesen.

Von der Gründung bis zum Jahre 1944 hafteten die einzelnen Genossen der Gesellschaft voll für jedes Geschäftsrisiko. Dann erst wurde aus der Gesellschaft mit unbeschränkter Haftung (GmubH) eine GmbH.

Das letzte Kriegsjahr und die unmittelbare Nachkriegszeit brachten aber auch Sorgen anderer Art mit sich. So mußten z.B. wegen Kohlenmangels 250 Ster Brennholz beschafft werden. Weiter gab es Probleme mit der Milchanfuhr; das »Tankholz« für die Holzvergaser-Lastwagen war naß und ließ die Motoren Stillstehen. Beschlagnahmen durch die Besatzungsmacht und andere Probleme der Kriegswirtschaft ließen den Verantwortlichen manch graues Härchen wachsen.

Erweiterungen, Neuanschaffungen und Modernisierungen des zwischenzeitlich veralteten Betriebes kennzeichneten die fünfziger Jahre. Doch schon 1949 hatte ein Gespräch stattgefunden, in dem der Zusammenschluß des Oberen Allgäus zu einer milchwirtschaftlichen Dachorganisation und Errichtung eines Molkereigroßbetriebes in Sonthofen angeregt worden war.

Oberstdorf wollte aber selbständig bleiben, folgte den Zeichen der Zeit und brachte aus eigener Herstellung Joghurt und verschiedene Milchgetränke in den Verkauf. Daß hier Qualitätsware hergestellt wurde, dokumentieren die errungenen Ehrenpreise, wie z.B. für Frischmilch

1954 ein Siegerpreis,
1955 ein Großer Preis,
1956 ein Großer Preis.
Sennküche - Heft 27

Die Sennkiiche an der Lorettostraße im Schmuck des 50. Gründungsjubiläums 1958.

Durch dreimaliges Erringen des Ersten Preises wurde der Genossenschaft die Anton-Fehr-Medaille in Bronze zuerkannt. Eine Reihe von weiteren hohen Auszeichnungen erhielt der Betrieb für verschiedene Milcherzeugnisse in den folgenden Jahren.

Aus rechtlichen Gründen wurde schließlich der Firmenname Molkereigenossenschaft Oberstdorf GmbH in Milchversorgung Oberstdorf GmbH umgewandelt. Als der Milchhof Sonthofen 1964 konkrete Formen annahm, liefen die Gespräche bis 1966. Da entschloß sich die Oberstdorfer Genossenschaft, dem Oberallgäuer Milchwerk beizutreten. Ein Stück Oberstdorfer Heimatgeschichte hat damit ihren Abschluß gefunden. Die Molkereigenossenschaft und später die Milchversorgung Oberstdorf haben nach 58jähriger Tätigkeit ihren Betrieb eingestellt. Heute weist nur noch das Gaststättenschild »Zur alten Sennküche« auf die frühere Nutzung des Gebäudes in der Lorettostraße hin.

Sennküche - Heft 27

Ein Blick in die Flaschenfüllanlage des Oberstdorfer Betriebes

Personalien aus dem Jahr der "Verschmelzung" 1966

Joas Josef................. Vorstands-Vorsitzender
Buchenberg Leo........ Stellvertretender Vorsitzender
Brutscher Ludwig
Hofmann Hermann
Titscher Anton

Thannheimer Alois...... Aufsichtsrats-Vorsitzender
Baumüller Hermann.... Stellvertretender Vorsitzender
Berktold Anton
Bickel Franz
Huber Leo
Schratt Max

Belegschaft

Losert Hans ..............Betriebsleiter
Bisle Josef ................Buchhalter
Gruber Christa ...........Kontoristin
Wolf Alois ..................Erstgehilfe
Kunz Thilo ................ Obermeier
Schöll Erwin ..............Kraftfahrer
Lengdobler Ludwig ...Kraftfahrer
Eberhard Kathi ..........Flaschenspülerin
Schmid Maria ............Haushälterin

Lfd.Nr.Haus-NrEigentümer/BesitzerHausname       von - bis
116KellerKeller1862 - 1908
223ThannheimerGotteriedar1865 - 1906
382Brutscher/KöchelerLonzar1860 - 1908
4131JochumÜerchar1870 - 1890
5178TauscherBärdesar1872 - 1898
6201Vogler (Geschw.)Donelar1868 - 1906
7196Titscher JosefMichelar1869 - 1907
8220BrutscherGlasar1870 - 1904
9230Berktold FriedrichMändlar1873 - 1923
10258Jäger Joachim*)Geagl1890 - 1938
11281Gehring KarlGehring1876 - 1898
12179Gabriel MartinGabrele1896 - 1906
13168Buhl JosefBüel1890 - 1906
14196Haas Magnus*)Haas1898 - 1938
15Thannheimer EngelbertHansjörglar Kornau1864 - 1892
16Schmid Michl*)Bieblar Kornau1885 - 1938
17Braxmair (Geschw.)Braxmair Jauchen1876 - 1906
18266 1/2Untere Molkerei’s ünder Lokal1908 - 1919
1949 1/2Molkereigenossenschaft’s ober Lokal1908 - 1966

Die mit *) gekennzeichneten Betriebe wurden auf Anordnung des "Reichsnährstandes" aufgelöst.
(Diese Liste erhebt keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit)

Kontakt

Verschönerungsverein Oberstdorf e.V.
1. Vorsitzender
Peter Titzler
Brunnackerweg 5
87561 Oberstdorf
DEUTSCHLAND
Tel. +49 8322 6759

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Unser gemeinnütziger Verein unterstützt und fördert den Erhalt und Pflege von Landschaft, Umwelt, Geschichte, Mundart und Brauchtum in Oberstdorf. Mehr

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Seit Februar 1982 werden die Hefte der Reihe "Unser Oberstdorf" zweimal im Jahr vom Verschönerungsverein Oberstdorf herausgegeben und brachten seit dem ersten Erscheinen einen wirklichen Schub für die Heimatforschung. Mehr

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