Als Mulitreiber auf der Kemptner Hütte 1960

von Robert Wohlfahrt am 01.12.2016

Es ist heuer 125 Jahre her, als am 16. August 1891, nach nur eineinhalb Monaten Bauzeit, die Kemptner Hütte am Mädelejoch eingeweiht wurde. Die Versorgung der Hütte erfolgte, über fast acht Jahrzehnte, mit Mulis und Haflingern auf dem schwierigen und manchmal gefährlichen Weg von der Spielmannsau durch den Sperrbachtobel. Erst 1969 erfolgte der Bau der Materialbahn mit der Talstation südlich Oberau. Damit endete der „tierische” Transport, die treuen Vierbeiner gingen in den Ruhestand.

Nach mehreren Bergsommern als Alphirte, verdingte ich mich 1960, erst 16-jährig, als Mulitreiber auf der Kemptner Hütte. Ich sollte Sepp Müller, dem Schwiegersohn von Hüttenwirt Hans Schraudolf aus Reichenbach, zur Hand gehen.

Der Arbeitstag begann am frühen Morgen; das hieß um 5.00 Uhr aufstehen, Wasser ins Gesicht und gleich in den Mulistall im Nebengebäude. Zwei Mulis und ein Haflinger mussten gefüttert werden, bevor der tägliche fünfstündige Weg uns hinabführte in die Spielmannsau und wieder zurück zur Hütte. Nach der Stallarbeit gab es ein einfaches Frühstück mit Kaffee und Marmeladebrot. Die Ziegenmilch im Kaffee war nicht mein Geschmack, dafür waren aber die acht Ziegen meine Lieblingstiere, die von mir gemolken werden mussten.

So war es inzwischen 6.00 Uhr früh geworden, als wir uns, vor den ersten zweibeinigen Lebewesen – den Touristen – in Marsch setzten, um zwei Stunden später mit unseren drei Vierbeinern die Spielmannsau zu erreichen. Begleitet wurden wir vom dauernden Hufgetrampel der 12 Beine unserer Tragtiere. Im Tal angekommen, machten wir erst einmal Brotzeit und fütterten unsere Tiere, die im Freien an einer Stange angebunden waren. Dann ging es ans Aufsatteln von Lebensmitteln, Bier und sonstigen Notwendigkeiten. Frisch gestärkt ging’s dann wieder Richtung Kemptner Hütte.

Ein gefahrvoller Weg stand uns und unseren Tieren bevor, insbesondere im Frühjahr, wenn wir noch viele und lange Strecken über Lawinenaltschnee meistern mussten. Auf die erste Lawine trafen wir schon nach ca. 20 Minuten Gehzeit, gleich nach der Talstation der heutigen Materialbahn. Anfangs auf der Lawine und als diese brüchig wurde, mussten wir hinab durch ein Loch unter die Schneedecke und beim anderen Loch mit einem anstrengenden Satz wieder hinaus – und das mit gesatteltem Gepäck. Zu beachten war auch, dass beim Bergaufsteigen das Riemengeschirr vorne angezogen wurde. Wenn es hingegen zwichendurch einmal bergab ging, wie z. B. vom Knie zum Sperrbach, dann musste des Geschirr hinten fest angezogen werden, damit die Ladung – ca. zwei bis drei Zentner pro Tier – nicht nach vorne rutschte. Noch im Frühsommer hatten wir beim mittleren Knie drei steile Altschneelawinen zu meistern, in die ca. 40 cm tiefe Wegspuren in Eis und Schnee gehauen wurden.

Mulitreiber - Heft 69

Nach zweistündigem Abstieg von der Kemptner Hütte; Sepp Müller mit den Tragtieren unterwegs zur Spielmannsau.

Mulitreiber - Heft 69

Sommer 1960. Von der Alpe Oberau (mit Trettachtal im Hintergrund) steht der dreistündige Fußmarsch zur Hütte bevor.

Bei Beginn der Versorgungsgänge im Frühjahr waren wir mit dem Hüttenwirt etwa drei Wochen zu dritt, als wir, die Tiere eng am Halfter führend, mit Mut und Gottvertrauen diese steilen Schneezungen bezwangen. Einmal überquerten wir nach der Kniekapelle ein Schneefeld, als dieses plötzlich unter uns nachgab und wir ein bis zwei Meter tiefer standen. Geschehen ist uns und unseren Tieren Gott sei Dank nichts. Ein komisches Gefühl war es aber schon, eine Etage tiefer zu stehen. So mussten wir an dieser Stelle einen sicheren Übergang schaffen mit Pickel und Schaufel, die wir ständig mit uns führten. Beim Eingang zum Sperrbachtobel wurden, nach langer Rast, bei den Tieren Bauchgurte und Vordergeschirr noch einmal streng nachgezogen und weiter ging’s.

Mulitreiber - Heft 69

Auf halbem Weg angelangt beim Knie (im Bild Sepp Müller). Über dem Sattel des linken Tragtieres ist der Weg in die Trettachrinne erkennbar. Oben links Mädelegabel und Trettachspitze.

Im Frühsommer konnte man auf durchgehendem Lawinenschnee die Mulis frei laufen lassen. Doch dann zeigten Tageswärme und Sonneneinstrahlung ihre Wirkung, gefährliche Löcher aperten aus, mit Blick ins Lawineninnere mit bis zu 10 Metern Tiefe. So eine Situation erlebten wir einmal, als unser großes Muli bis an den Rand eines solchen Loches ging und dieses vorsichtig begutachtete. Uns blieb das Herz fast stehen und die Stimme versagte. Doch unser vollbeladenes Tragtier erkannte die Gefahr und machte dann um das Loch einen großen Bogen. Kreidebleich im Gesicht, aber erleichtert, begannen unsere Herzen wieder zu schlagen. Von da an hieß es tagelang, nach dem Absatteln an der Hütte, am Nachmittag ohne Tiere wieder abzusteigen in den Sperrbachtobel. Dabei hatten Sepp Müller und ich eine Waldbaumsäge, um den Sommerweg frei zu bekommen. Sepp stand oben auf der Altschneelawine und ich unten im finsteren Lawinenverließ. So zogen wir die Säge auf und ab, sodass große Schneetrümmer krachend in die Tiefe polterten. Dabei mussten wir auf der Hut sein, nicht denselben Weg ins Tal zu gehen und in den finsteren Tobel zu stürzen. Wohl kaum ein Bergtourist dachte, bei gutem Essen und Bier in der Hütte, welche Gefahren Mensch und Tier zu bestehen hatten bei den Transportgängen von der Spielmannsau zur Kemptner Hütte.

Mulitreiber - Heft 69

Blick vom Knie in den Sperrbachtobel.

Kohlen und Holz kamen ebenfalls auf dem Rücken unserer treuen Vierbeiner zur Hütte. Das Holz wurde in Talnähe geschlagen und dann ging es viermal am Tag hinab und wieder hinauf. Sogar Baumaterial wurde auf Mulirücken hinaufgeschafft, so z. B. Blechrollen à 80 Pfd. für das Dach der Obermädelealpe. Ich war damals allein mit zwei Mulis unterwegs, als sich im mittleren Steilstück unter dem Knie eine Rolle löste; der Strick war von der Blechkante zerschnitten worden. Diese kam auf dem Weg vor dem nachfolgenden Muli zu liegen, was zur Folge hatte, dass es den vor ihm gehenden „Kollegen” vor Schreck vor sich herschob und dadurch die restlichen Rollen unter dessen Bauch rutschten. Ich lud mir die losgelöste Blechrolle auf die Schulter und so stiegen wir, unter größter Absturzgefahr, bis zur Stelle unter der heutigen Kniekapelle. Mit Sicherheit habe ich den Himmel um Hilfe angefleht und ich weiß nicht, bei wem damals die Zunge weiter he- raushing, bei den Mulis oder mir. Als die Blechladung wieder richtig festgezurrt war, ging es, noch mit Schrecken in den Gliedern, weiter. Wir hatten ja erst die halbe Wegstrecke bewältigt, der ewig lange Sperrbachtobel lag noch vor uns.

Auch ein 30-Liter-Bierfass machte sich einmal beim mittleren Knie selbstständig, die Bindestricke waren vom täglichen Regen marode geworden. So raste es – ich sehe es heute noch – mit fürchterlichem Krachen den Steilhang hinab. Kommentar des Hüttenwirtes: „Ja, es isch bessr als wenn a Esel vrfalle wär!” Nach langem Suchen wurde das Fass drei Wochen später gefunden. Es schillerte, ganz unschuldig, bei der Plattenbrücke in einem Gumpen, ohne eine Delle und sozusagen „eisgekühlt”. So konnte der Inhalt doch noch auf der Hütte ausgeschenkt werden.

Mulitreiber - Heft 69

Der Sperrbachtobel mit Altschneelawinen, auf denen man im Frühsommer noch gehen konnte. Im Hintergrund der Muttlerkopf.

Mulitreiber - Heft 69

Die Kemptner Hütte (1.846 m), ca. 1960, mit (v. li.) Krottenspitzengrat, Krottenspitze, Öfnerspitze und Muttlerkopf

Gab es einmal eine sperrige Last, die man auf die Mulis nicht satteln konnte, musste ich selbst den Esel machen, zugleich mit dem Haflinger am Leitseil. Gott sei Dank hat diese Plagerei meinem „Gestell” nicht geschadet, wie ich heute, nach 56 Jahren, feststellen kann.

Bei schönem Wetter hatten Sepp und ich an so manchen Nachmittagen noch die Aufgabe die Wege auszurechen vom Fürschießersattel sowie von der Krottenkopfscharte und dem Schwarzmilzferner zur Hütte. Und das nach dem üblichen fünfstündigen Gang mit Muli und Haflinger nach Spielmannsau und zurück.

In den ersten Jahren nach der Erbauung der Kemptner Hütte erfolgte die Versorgung mit zwei Mulis zeitweise auch von Holzgau aus über das Mädelejoch. Das war, vom Gelände her, zweifellos einfacher, aber auch kein Spaziergang.

Wie schon eingangs erwähnt, ging 1969, mit dem Bau der kühn angelegten Materialbahn, die Muli-Aera zu Ende. Doch bleibt mir dieses Jahr 1960 in lebendiger Erinnerung. Als ich 2005 erstmals an der Wallfahrt übers Gebirge nach Holzgau teilnahm, erkannte ich wieder jeden Meter, den ich in anstrengenden und erlebnisreichen Tagen mit unseren Tragtieren gegangen bin – und wir zusammengewachsen sind, fast wie „ein Herz und eine Seel”.

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