Der Marktflecken Oberstdorf im bayrischen Algäu ist neuerdings eine der beliebtesten Sommerfrischen am nördlichen Fuße der deutschen Alpen geworden und verdient auch in der That durch seine reizvolle Lage, wie durch die Schönheiten seiner Umgebung diese Bevorzugung. Das Thalbecken von Oberstdorf ist beinahe ringsum von schönen hohen Bergen umgeben, welche theilweise bewaldet sind, theilweise die prächtigsten Alpenweiden darbieten, auf denen im Sommer zahlreiche Heerden von Rindvieh weiden, denn Viehzucht bildet ja den Haupterwerb des schönen Algäu. Man hat daher in Oberstdorf reichlich Gelegenheit zur Beobachtung des Aelplerlebens, welche, auch der Physiognomie des Ortes und seiner Bewohner seinen Charakter aufgeprägt hat.
Die besten Charakterstudien kann man jedoch machen bei dem alljährlich am 13. September stattfindenden Volksfest, der sogenannten „Viehscheide”. Die prächtigen fetten Oberstdorfer Almen werden mit Anfang des Sommers von weit her mit dem schönen Algäuer Rindviehschlag zur Sommerweide beschickt, und der Auftrieb auf die Alm findet nach alter Sitte in der Nacht vor dem Johannistag (24. Juni) statt, um das Vieh, das oft schon von fern herkommt, in der Sommerhitze nicht zu sehr zu ermüden.
Bei schönem Wetter und an sonnigen Tagen führen die Hirten auf der Alm ein recht ungebundenes und vergnügtes Leben und unterhalten sich durch Singen und Hornsignale von Alm zu Alm mit einander. Wenn dagegen drunten im Thal Regen und Nebel anhalten, so herrschen oben auf den Hochalmen heftige Schneestürme und machen dann den Hirten viel zu schaffen, welche oft mit Gefahr ihres Lebens die erschreckten Thiere zusammen und nach den Sennhütten treiben müssen, damit sie sich nicht verstürzen. Oft wird es bei anhaltendem Schneetreiben sogar nöthig, die Heerde auf eine niedriger gelegene Alm herunterzuführen, was ebenfalls zuweilen mit erheblichen Gefahren verbunden ist.
So bleiben die einzelnen Heerden auf den Almen bis Anfang September, werden dann herunter nach Oberstdorf getrieben und auf dem weiten Wiesenplan bei der St. Loretto-Wallfahrtskapelle untergebracht bis zum 13. September, wo die erwähnte große „Viehscheide” stattfindet, welche längst im ganzen Algäu zu einem allgemeinen Volksfest und einer Art Jahrmarkt geworden ist.
Die „Viehscheide” ist nämlich die Austheilung oder Zurückgabe des von den Almen kommenden Vieh, an die Eigenthümer, die sich zur Empfangnahme desselben in Oberstdorf einfinden. Außer den Eigenthümern erscheinen Zuschauer und Betheiligte, besonders aber Viehhändler, um auserlesen schöne Kühe und Färsen zu kaufen. Dabei geht es natürlich höchst lebendig zu.
In verschiedenen Gehegen - meist jede Alm für sich - steht das Jungvieh zur Scheide bereit. Ein Gehege nach dem andern wird geleert, indem der Hirte Stück für Stück vorführt und den Besitzer zur Empfangnahme aufruft, während die Hirtenjungen die anderen Stücke zurückdrängen. Hat ein Hirte alle ihm anvertrauten Thiere unversehrt und feist von der Alm gebracht, so wird er und seine schönste Kuh festlich bekränzt, worauf sich der Hirte viel zugut thut, die so prämiierte Kuh aber das vielbegehrte Objekt der zahlreich erschienenen fremden Viehhändler ist.”