Am 17. April 1899 wurde Anna Jäger als zweites von vier Kindern aus dem alten Oberstdorfer Geschlecht der „Geagl” geboren. Ihre Eltern, Martin und Barbara Jäger, lebten von einer kleinen Landwirtschaft mit Fremdenvermietung in der Freibergstraße.
Ihre künstlerische Ader mag Anna von ihrer Großmutterseite in die Wiege gelegt bekommen haben: Es handelt sich um die Familie Zobel, die durch mehrere Generationen immer wieder Kunstschmiede und Schlosser hervorbrachte, darunter auch Dominikus und Augustin Zobel, welche u. a. das Chorgitter im Wiener Stefansdom schmiedeten. Auch Bildhauer und Maler Wilhelm Berktold entstammt dieser künstlerisch veranlagten Sippe - mit Anna Jäger verbinden ihn die gemeinsamen Urgroßeltern.
Schon als Kind zeigte Anna auffallende Begabung im Handarbeiten und Zeichnen. Nach der Volksschule erlernte sie das Schneiderhandwerk und begann 1922 unter den Klosterschwestern des Städtischen Seminars in Augsburg die Ausbildung zur Handarbeitslehrerin. Ihre Prüfung legte sie dort 1925 in allen Fächern mit der Bestnote „Hervorragend” ab.
Von 1925 bis 1930 besuchte Anna Jäger in München in der staatlichen Kunstgewerbeschule die Klasse für angewandte religiöse Kunst unter Professor Franz Klemmer. Freskomalerei, Batik, Mosaik, Glasmalerei, Paramentik (Meßgewänder) gehörten u. a. zu ihren Fächern.
1931 bis 1935 belegte sie die Semester der Akademie der bildenden Künste in München und beteiligte sich dort erfolgreich an Kunstausstellungen, u. a. auch mit Meßgewändern an der Ausstellung der deutschen Gesellschaft für christliche Kunst.
Größte Beachtung und Anerkennung für ihr Talent und ihren Fleiß fand Anna Jäger nicht nur bei ihren Mitstudenten. Auch den Lehrern fiel die junge Oberstdorferin auf, wie aus Briefwechseln hervorgeht, u. a. mit Professor Franz Klemmer, Kirchenmaler und Restaurator Hias Cronwitter, Professor Max Spielmann (Innsbruck), Kunstmaler und Lehrer Hans Prinster (Meran) und Adolf Lehmann (München).
Gering waren die finanziellen Mittel, die Anna Jäger seitens ihres Elternhauses zur Verfügung standen. Geradezu vom Munde ab sparte sich die Lernbegierige in asketischer Lebensweise das Geld für Französisch-Kurse sowie den Unterricht auf spanischer Gitarre bei einem portugiesischen Lehrmeister.
1935, im Alter von 36 Jahren, schlug Anna Jäger ein Angebot, als Lehrerin an einer Augsburger Kunstschule tätig zu sein, aus und kehrte nach Oberstdorf zurück. Wie bei so vielen Gebirgsmenschen war es die Liebe zu ihrer Heimat, die überwog.
Für sie als hauptberufliche Malerin sicher keine gute Entscheidung; ihr moderner, großzügiger Malstil stieß damals auf wenig Verständnis. Um ihren Bekanntheitsgrad auszubauen, fehlte das Umfeld für größere Arbeiten und Aufträge.
Die Maltechniken von Anna Jäger waren mannigfaltig: Kohlezeichnungen, Aquarelle, Ölfarben, am liebsten aber Tempera - mit dem Mörser selbst hergestellte Naturfarben aus Mineralien, welche nach einem Überzug mit Firnis große Leuchtkraft und Intensität erhielten.
Oft ging die zierliche Frau, ausgerüstet mit Malzeug und Leinwand, auf einsamen, zum Teil gefährlichen Pfaden in die Bergwelt, um ihre geliebte Höfats oder Trettach von allen Seiten im Bild festzuhalten oder um auf dem ,,Heubaum” am Linkerskopf einen uralten Ahornbaum zu malen.
Es entstanden Blumen- und Landschaftsbilder, Portraits, doch immer wieder befaßte sie sich mit religiösen Themen, was auf ihre tiefe Gottverbundenheit zurückzuführen war. Ein Jugendwunsch von Anna Jäger war es, dem Kloster beizutreten. Ein Arzt brachte sie von diesem Vorhaben ab. Er hielt das damals harte Klosterleben für lebensbedrohlich für die junge Künstlerin, die von schwächlicher Konstitution war.
Längere Zeit befaßte sich Anna Jäger mit der Gestaltung von Mosaiken, deren farbige Steine sie ausschließlich aus unseren drei heimischen Flüssen Trettach, Stillach und Breitach sammelte. Geradezu Ablehnung rief sie 1953 hervor, als sie für das Grabmal ihres Schwagers Karl Schedler einen modernen, bartlosen Christus am Kreuz schuf.
Doch der Bogen ihrer Arbeiten spannte sich noch viel weiter. Sie modellierte und brannte Plastiken, meist religiöse Darstellungen, aus Ton, den sie einem alten Lehmloch am Karatsbichl entnahm. Sie kannte die Stelle von ihrem Vater Martin, der den besonders reinen, blaugrauen Lehm zu Heilzwecken für Mensch und Tier holte.
Anna Jäger fertigte künstlerische Batikarbeiten nach einer alten Technik aus Java, auf Seide: wunderschöne Schals sowie Bilder auf Seidenpapier und Pergament.
Herrliche Stick- und Handarbeiten entstanden in ihrer Werkstatt, wo sie mit bewundernswerter Ausdauer und Selbstdisziplin arbeitete, stunden-, tage- und oft nächtelang. Ein Muttergottesgewand für St. Loretto befindet sich heute im Oberstdorfer Heimatmuseum. Neben Meßgewändern, die Anna Jäger entwarf und ausarbeitete, bestickte sie zahlreiche Mieder und Hosenträger für die historische Tracht. Durch ihre Zähigkeit und Ausdauer gelang es, in Zusammenarbeit mit Heimatpfleger Wilhelm Math und Trachtenschneiderin Fanny Seeweg, unsere Altoberstdorfer Tracht zu rekonstruieren. Über Jahre forschte sie hierfür in Museen und alten Schriften sowie anhand von Votivtafeln in Kirchen und Kapellen.
Von den Holz- und Linolschnitten, die ebenfalls einer ihrer Schaffensperioden entstammen, sind leider nur noch wenige Exemplare vorhanden. Wie aus einer unerschöpflichen Quelle sprudelten ihre Ideen, die sie verstand, in Form zu bringen und sichtbar zu gestalten.
Ein immenses Allgemeinwissen, verbunden mit großer Toleranz und Offenheit für andere Weltanschauungen und Ansichten, paarte sich bei Anna Jäger mit großer Menschen-, Tier- und Naturliebe. Sie besaß die wunderbare Gabe des Zuhörens ebenso wie die Freude an der Diskussion. Wie soll man einen Menschen von diesem Format und mit soviel Talenten angemessen beschreiben?
In den fünfziger Jahren begann ein Rheumaleiden, das Anna Jäger in den folgenden Jahren immer mehr zu schaffen machte. Trotzdem bewahrte sie stets ihren Humor und ihr heiteres Wesen. Sie arbeitete bis zu ihrem 78. Lebensjahr und verdiente ihren Unterhalt im vorgerückten Alter hauptsächlich mit Hinterglasmalerei, der sie sich nun zu wandte. Es entstanden zahlreiche eigene Entwürfe sowie meisterliche Abbildungen alter Vorbilder.
Anna Jäger beherrschte eine Vielzahl von Kunstformen, die stets vom christlichen Glauben und ihrer Heimatliebe gekennzeichnet waren. Am 1. Juli 1981 vollendete die bescheidene, hochbegabte Künstlerin, wie immer wenig bemerkt von der Öffentlichkeit, ihr nahezu asketisches Leben.