Die bayerische Ministerialbürokratie arbeitete in den 60er und Anfang der 70er Jahre an einem Reformwerk, das den gesamten Verwaltungsapparat der Kommunen im Lande verändern sollte. Die Verwaltungs- und Gebietsreform sollte die Anzahl der Landkreise und Gemeinden verringern, die Wirtschaftskraft der einzelnen Gebietskörperschaften stärken, die Verwaltung vereinfachen, Kosten einsparen und, und . . . Der damalige Bayerische Staatsminister des Innern, Dr. Bruno Merk, war der „Vater der Gebietsreform”.
Auch unsere engere Heimat wurde von dieser Reformwelle überspült. Der Landkreis Sonthofen schloß sich mit dem Landkreis Kempten zum Landkreis Oberallgäu zusammen. Von den 34 Gemeinden des Altlandkreises haben fünfzehn das „Hochwasser” überlebt, fünf davon schlossen sich in einer Verwaltungsgemeinschaft zusammen. Wir wollen uns aber hier nur mit den Geschehnissen in den damaligen Gemeinden Oberstdorf, Schöllang und Tiefenbach beschäftigen, denn am 1. Juli 1997 jährt sich der Zusammenschluß zum 25. Male.
Im Dezember 1970 informierte das Landratsamt Sonthofen alle Landkreisgemeinden mit einem Rundschreiben. Es waren schon Beispiele genannt, wie ein künftiges Oberstdorf aussehen könnte, bzw. welche Partner für Schöllang oder Tiefenbach möglich wären: Bolsterlang - Balderschwang - Obermaiselstein - Tiefenbach; Balderschwang - Bolsterlang - Fischen - Obermaiselstein - Schöllang; Oberstdorf - Schöllang - Tiefenbach waren da die Varianten in dem Planspiel der Politiker. Die Fusionsfreudigkeit der einzelnen Gemeinden wurde durch das Versprechen höherer Schlüsselzuweisungen des Staates gefördert. Weiter hing über den „Halsstarrigen” das Damoklesschwert der „Zwangsehe” nach 1976. Eine Art Vorstufe der geplanten Gebietsreform war die Standesamtsreform, die bereits die Zusammenlegung der Standesämter vorsah. In den Jahren 1970/71 hätten die Ämter von Schöllang und Tiefenbach bereits mit dem des Marktes Oberstdorf zusammengefaßt werden sollen. Diese Neuerung kam nicht voran, weil schon die Gebietsreform ihre Schatten vorauswarf.
Im Gemeinderat Oberstdorf wurde erstmals in der Sitzung vom 4. Februar 1971 das Problem der Gebietsreform diskutiert. Das Ergebnis der Aussprache faßte Erster Bürgermeister Dr. Paul Dreher so zusammen, daß der Markt Oberstdorf den Vorschlägen des Landratsamtes offen gegenüberstehe, von sich aus aber keine Schritte unternehmen werde.
Anders reagierte der Gemeinderat Tiefenbach. Nach eingehender Debatte und teils leidenschaftlich geführten Diskussionen beauftragte der Gemeinderat den Ersten Bürgermeister Hugo Rietzler, mit der Gemeinde Oberstdorf Kontakt aufzunehmen. Kurz, bündig und ohne Umschweife war dessen Brief vom 25. November 1971:
„Die Gemeinde Tiefenbach erlaubt sich die Anfrage, ob die Gemeinde Oberstdorf mit der Gemeinde Tiefenbach eine Verwaltungsgemeinschaft eingehen würde.”
Aus Dr. Drehers Antwortschreiben (29. November 1971) sagen zwei Sätze alles aus:
„ ..., daß der Markt Oberstdorf vom Grundsätzlichen her an der Bildung von Verwaltungsgemeinschaften nicht interessiert ist. . . ., daß der Markt Oberstdorf mit einer echten zukunftsträchtigen Lösung einverstanden wäre in der Weise, daß es zwischen den beiden Gemeinden Tiefenbach und Oberstdorf zu einer echten Zusammenlegung kommt.”
Anfang Februar 1972 traf sich der Tiefenbacher Gemeinderat mit den Vertretern der örtlichen Vereine. Zu diesem Gespräch war auch ein Vertreter des Landratsamtes eingeladen, der über die Vor- und Nachteile einer kommenden Fusion referierte.
Die Quintessenz seiner Ratschläge war die, daß Tiefenbach mit möglichst vielen Schulden in die „Ehe” gehen solle.
Am 1. März 1972 fand im Landratsamt Sonthofen eine vorbereitende Besprechung statt, in der auch der „Ehevertrag” grob skizziert wurde.
Wenn die Zusammenlegung zum 1. Juli 1972 (dies war aus verschiedenen Gründen ein fixes Datum) ausgesprochen werden sollte, so mußten die Unterlagen bis zum 10. März in Augsburg bei der Regierung sein! Unter diesem Zeitdruck wurden in Tiefenbach für den 4. März eine Bürgerversammlung und für Sonntag, den 5. März, eine geheime Bürgerabstimmung anberaumt. Die Versammlung verlief harmonisch, und die Wahl brachte folgendes Ergebnis:
Wahlberechtigte 583
abgegebene Stimmen 384 = 65,85 %.
Für den Zusammenschluß mit Oberstdorf stimmten 323 Wähler (84,12 %), und 57 (14,84 %) Bürgerinnen und Bürger lehnten die Fusion ab. Vier ungültige Stimmen waren auch in den Urnen. Die Gemeinderäte von Oberstdorf und Tiefenbach votierten beide einstimmig für den Zusammenschluß. Bereits am 19. April 1972 Unterzeichnete Regierungspräsident Frank Sieder die Entscheidung, die mit folgendem Satz begann:
„1. Mit Wirkung vom 1. Juli 1972 wird die Gemeinde Tiefenbach bei Oberstdorf in den Markt Oberstdorf eingegliedert. . .”
An diesem Datum wurde eine jahrhundertealte Tradition gebrochen, aber auch eine hindernde Grenze aufgehoben: Das Naturwunder der Breitachklamm wurde das Bindeglied zwischen dem einst hochstiftisch-augsburgischen Marktflecken Oberstdorf und der ehemalig montfortisch-königseggischen Gemeinde Tiefenbach.
Von der staatlichen Verwaltung zu einer Entscheidung gedrängt, beriet der Gemeinderat Schöllang über die künftige Verwaltungsform der eigenen Gemeinde. Die Gespräche waren nicht einfach, lagen doch die Ortsteile Au, Ober und Unterthalhofen nahe bei Fischen, während Rubi und Reichenbach Oberstdorf zugewandt waren und der Hauptort Schöllang genau dazwischen lag. Eine Verwaltungsgemeinschaft (VG) mit Fischen oder Oberstdorf oder ein Zusammengehen mit einer der beiden Gemeinden waren die Alternativen.
Vom Gemeinderat beauftragt, richtete Bürgermeister Lorenz Bock am 1. Oktober 1971 ein Schreiben an den Markt Oberstdorf, dessen letzter Satz lautete:
„ . . . Sollte für einen Zusammenschluß zu einer Verwaltungsgemeinschaft kein Interesse bestehen, so bitten wir auch um Ihre Meinung für eine Zusammenlegung der Gemeinden Schöllang und Oberstdorf."
Nach entsprechender Rückversicherung beim Marktgemeinderat antwortete Dr. Paul Dreher am 28. Oktober 1971, daß Oberstdorf
„ . . . sein grundsätzliches Interesse an der Gebietsreform offenbart, jedoch nicht im Sinne einer Verwaltungsgemeinschaft, sondern im Sinne einer Gemeindezusammenlegung.'’
In Schöllang wurde für den 12. Dezember 1971 eine Volksabstimmung anberaumt. Auf den Stimmzetteln waren den Wählern folgende Fragen gestellt:
„Sind Sie dafür, daß die Gemeinde Schöllang unter Verzicht auf staatliche Fördermittel zunächst selbständig bleibt?”
...oder
„Sind Sie im Rahmen der Gebietsreform für eine baldmögliche Eingliederung der Gemeinde Schöllang in die Marktgemeinde Oberstdorf?“
Die Wahlbeteiligung lag knapp über 50 %. Es stimmten für weitere Selbständigkeit: 54 Wähler
für Eingliederung nach Oberstdorf: 219 Wähler
beide Fragen beantworteten mit nein: 104 Wähler
ungültige Stimmen: 18
Von den 104 „Doppel-Nein-Stimmen” entfielen 100 auf das Wahllokal Oberthalhofen. Diese Wähler wollten, falls Schöllang seine Selbständigkeit verliert, zur Gemeinde Fischen, das ja vor ihrer Haustüre lag.
Die Regierung von Schwaben hatte eine vorgefaßte Meinung und wollte Schöllang mit Fischen vereinigen. Der Bürgerwille war da nicht gefragt. Nach einer neuerlichen Bürgerversammlung nur im Ortsteil Schöllang kam es am 13. Februar 1972 für diesen Bereich zu einer weiteren Abstimmung. Das Ergebnis lautete:
Wahlberechtigte: 224
abgegebene Stimmen: 176 = 79 %.
Es stimmten für die Eingemeindung nach Oberstdorf: 166 Personen
für die Eingemeindung nach Fischen: 9 Personen
bei einer ungültigen Stimme.
Mit diesem klaren Votum waren - so glaubte man - die Weichen gestellt. Nach den entsprechenden Beschlüssen des Gemeinderates von Fischen, Oberstdorf und Schöllang sollten Au, Burgegg, Ober- und Unterthalhofen in die Gemeinde Fischen eingegliedert werden. Rubi, Reichenbach und Schöllang sollten die „Ehe” mit Oberstdorf eingehen. Landrat Theo Rössert stellte dazu fest, daß es gelungen sei, die Regierung von der Richtigkeit dieser Lösung zu überzeugen (daß sich auch Landräte täuschen können, sollten die Beteiligten bald darauf erfahren).
Die Bewohner von Au, Burgegg, Ober- und Unterthalhofen mußten am 5. März 1972 nochmals an die Urnen.
Wahlberechtigt waren: 214 Personen
abgegebene Stimmen: 152 Personen
für Fischen stimmten: 140 Personen
für Oberstdorf: 12 Personen
Der Weiler Burgegg stimmte gesondert ab. Von den 11 Wahlberechtigten gaben 9 einen Stimmzettel ab. Eine Stimme ging nach Fischen, und 8 Wähler entschieden sich für Oberstdorf. Das Votum der Bewohner von Burgegg wurde von den staatlichen Behörden ignoriert und der Weiler nach Fischen eingemeindet.
Eine kalte Dusche wares dann schon, als Mitte April 1972 bei der Bürgermeister- Kreisversammlung auf der »Sonnenalp« bekannt wurde, daß die Regierung die Eingemeindung des Ortes Schöllang nach Fischen weiter beabsichtige.
Oberregierungsrat Felix von Mengden brachte es auf den Punkt: „Ich befürchte, daß die Bevölkerung überhaupt kein Vertrauen mehr zu amtlichen Stellen haben wird, wenn ihr das, wozu sie sich freiwillig entschlossen hat, aus der Hand geschlagen werden soll.”
Diese und weitere klare Worte scheinen sehr schnell nach Augsburg vorgedrungen zu sein. Als Vertreter des Oberallgäus am 20. April 1972 bei der Regierung vorsprachen, war man dort schon eher bereit, den Willen der Bevölkerungsmehrheit zu akzeptieren. Ein höflicher, aber sehr bestimmter Antrag des Landratsamtes Sonthofen hatte letztendlich bei der Regierung Erfolg. Mit Entscheidung vom 24. April 1972 wurden die Gemeindeteile Rubi, Reichenbach und Schöllang in den Markt Oberstdorf und die Orte Au, Burgegg, Ober- und Unterthalhofen in die Gemeinde Fischen eingegliedert. Diese Regelung trat am 1. Juli 1972 in Kraft.
Ein Rattenschwanz von Verwaltungsarbeit folgte der Zusammenlegung. Die Gemeindegrenze zu Fischen mußte neu gezogen werden. Oberstdorf als Rechtsnachfolger hatte den Gemeindehaushalt 1972 abzuwickeln. Altes Ortsrecht galt es aufzulösen und an neues Ortsrecht anzugleichen. Da und dort traten Probleme auf, die aber mit allseits gutem Willen gelöst werden konnten.
Ob nun Schöllang, das schon Jahrhunderte zum Gericht Oberstdorf gehört hatte, ob Tiefenbach oder der Hauptort Oberstdorf selbst, alle haben aus der Reform letztendlich gewonnen. Die Gebietsreform war nach den Gemeindeedikten von 1808 und 1818, als die politischen Gemeinden geformt wurden, der einschneidendste Eingriff in die bestehenden Gebietskörperschaften unseres Landes.
Heute Dreißigjährige können sich kaum noch an die alten Gemeinden erinnern. Nochmals 25 Jahre, dann werden sich bald nur noch die Historiker mit dem Zustand von vor 1972 befassen. Sicher sind damals, als der große Hobel übers Land geschoben wurde, auch Späne gefallen. Aber Kritiker sollen bedenken: Es geschah alles mit der überwältigenden Stimmenmehrheit der damaligen Wähler.