Familie Anton und Johanna Kerber,
Anfang der dreißiger Jahre;
Nr 1 Leo Kerber, Nr 4 Alois (Lois) Kerber,
Nr 6 Gebhard Kerber.
Vorwort
Wie an vielen Orten, gab es auch in Reichenbach Geißen. Von Mitte Mai bis Allerheiligen wurden sie gehütet. Die Geißen trieb man durch „Zwenge Lucke” zum Hittebichl, über den Simmerberg, an obre Hof bis zum Gaiswald, und kehrte abends wieder nach Reichenbach zurück. Die „Geißer” schliefen in einer hinteren Kammer bei einem Bauern, gingen aber in der Kost um, das heißt, sie mußten „umeasse”. Für jede Geiß erhielt der Geißer einen Tag Verpflegung. Wenn er überall gewesen war, ging der Kostgang wieder vorne an. Das „Umeasse” war noch bis Ende der 50er Jahre für die Galthirten üblich.
Bis 1933 wurden in Reichenbach Geißen ausgetrieben.
Über die Geißhirten, meistens aus dem Lechtal oder auch aus dem Bregenzerwald, gibt es nur wenige Aufzeichnungen. Lt. Kirchenbuch starb Erhard Walch, Ziegenhirt in Reichenbach, am 31. 10. 1911 mit 12 Jahren an Diphtherie. Weiter berichtet ein Sterbebild von Guido Zangerle aus Steeg, Geißhirt in Reichenbach, der mit 12 Jahren am 9. August 1921 am oberen Geißalpsee ertrank.
Es gibt aber einige alte Bilder von Geißhirten. (Bei einem durch Zufall halb gehörten Interview über „Lechtaler Schwabenkinder” im Radio und kurzer Nachfrage kam man innerhalb kurzer Zeit an die richtige Adresse.) So zeigt das beigefügte Bild die Lechtaler Familie Anton und Johanna Kerber aus Grünau mit acht von später zehn Kindern. Einige Kinder waren im Allgäu „Lechtaler Schwabenkinder”.
Aufgrund der Bekannschaft ihres Onkels mit Otto Hindelang von Reichenbach waren drei Brüder in Reichenbach Geißen hüten. Der älteste, Lois, hütete in den Jahren 1929 und 1930, Gebhard in den Jahren 1931 und 1932 und Leo 1933 die Geißen in Reichenbach. Dieser Leo Kerber aus Grünau war der letzte Geißer in Reichenbach, und er schildert nachfolgend diesen Sommer des Jahres 1933.
Als ich das erstemal Geißerle war
Mit neun Jahren ging ich das zweitemal über den Sommer in die Fremde, und zwar nach Reichenbach. Das liegt ca. eine Stunde unterhalb von Oberstdorf. Schon sehr früh am Morgen setzte mich mein Vater auf die Fahrradstange, und wir fuhren nach Holzgau. Dann gingen wir zu Fuß mit meinem Hirtenbingele den Heabach entlang, den Roßgumpen hoch zur Kemptner Hütte. Dann den Sperrbach hinunter nach Spielmannsau. Gleich nach Spielmannsau zündete mein Vater eine Virginia an und fing an zu rauchen. Mein Vater war Nichtraucher, aber er wollte Otto Hindelang zwei Schachteln gute Zigarren bringen, die es in Deutschland nicht gab.
Kaum hatte mein Vater angefangen zu rauchen, kam ein deutscher Finanzer und kontrollierte uns. Mein Vater sagte, er sei ein starker Raucher und brauche die zwei Packungen Virginia als Reisebedarf. Der Finanzer war damit zufrieden. Wir gingen zu Fuß weiter nach Oberstdorf und noch eine Stunde nach Reichenbach. Ich mit meinen neun Jahren fühlte mich trotz der langen Wanderung keineswegs müde.
Am nächsten Tag ging mein Vater wieder heim, und ich fing an Ziegen zu hüten. Es waren 26 Geißen und ein Geißbock mit schönen Hörnern. Das Geißhüten ging recht gut, und die Bauern waren recht zufrieden, auch deshalb, weil ich gut Bockhorn blasen konnte. Ich bekam überall gutes Essen und eine gute Märend. Mir kommt gar vor, daß die Leute mit dem kleinen Geißerlein Erbarmen hatten und mich gut behandeln wollten.
Mit den gleichalterigen Buben hatte ich viel Kontakt. Wir spielten und rauften viel miteinander. Trotzdem daß ich ein zartes Büblein war, war ich allen Jungen in meinem Alter, bis auf Bärtls Hans, überlegen. Auch schulmäßig waren sie noch nicht so weit wie ich. Mit Singen waren sie alle recht gut. Sie sangen sehr viel und gern, und weil es das Jahr 1933 war, war Hitler erst kurz ihr Führer. Ich sah ihnen oft bei ihren Appellen zu und sang auch bald das Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch . . ). Die Leute waren mit der neuen Regierung zufrieden.
Mit dem Hüten ging es mir recht gut. Weil ich beim Hüten immer allein war, fiel mir auch mancher Blödsinn ein. Bärtls Geißbock lehrte ich das Stechen. Dafür mußte ich abends immer den Bock in den Stall führen, weil die Bauernkinder Angst vor ihm hatten.
Im Spätherbst schneite es einmal bis ins Feld, und ich brauchte mit den Geißen nicht ausfahren. Weil Sonntag war, ging ich nach Schöllang in die Kirche. Reichenbach gehörte schulisch und kirchlich zur Gemeinde Schöllang. Die Reichenbacher Buben erzählten den Buben von Schöllang natürlich, daß ich ein guter Raufer sei. Nach der Kirche warteten vielleicht 15 Buben von Schöllang auf mich. Ich mußte mit jedem raufen. Meistens war ich Sieger, aber manchmal lag auch ich unten auf dem Rücken und war besiegt.
Als das Geißhüten aus war, durfte ich noch den Hirtenlohn einziehen. Es war ein Lohn von 30 RM vereinbart, der Weidmeister Hindelang verrechnete aber 40 RM. So verdiente ich, weil die RM damals mit 1,50 Schilling gehandelt wurde, 60 Schilling.
Wie vereinbart, kam mich der Vater wieder holen. Als wir frühmorgens aufbrachen, war der Schnee schon bald in den Feldern von Reichenbach. Bald ging der Regen in Schnee über. Als wir in Spielmannsau waren, hatte es schon 10 cm Schnee. Wir beeilten uns sehr, den Sperrbach hinaufzukommen, denn es war große Lawinengefahr. Als wir gut auf das Klammle kamen (Grenze zwischen Österreich und Deutschland), ging dort ein eisiger Wind, und ich mußte bald weinen, weil es wie Hagel so scharf schneite und man bald keine Luft mehr bekam. Wie wir dann den Roßgumpen hinuntergingen, ging gleich alles viel besser. Es war das Wetter viel freundlicher, und bald hatte es keinen Schnee mehr.
Daheim angekommen, mußte ich am nächsten Tag wieder in die Schule. Die Schule hatte ja schon lange angefangen. Ich war nur im Frühjahr und im Herbst durch ein Ansuchen vom Schulbesuch befreit. Ich ging nur das erste Schuljahr voll in die Schule, die übrigen Jahre war ich im Frühjahr schon und im Herbst noch beim Hüten. Wenn es im Spätherbst einen „Heuzieherschnee” machte, waren wir Brüder auch vierzehn Tage vom Schulbesuch befreit. Das „Schwäbala” habe ich mir über den Sommer so angewöhnt, daß ich es perfekt konnte und vierzehn Tage brauchte, bis ich unseren Dialekt wieder sprach. Die letzten Tage in Reichenbach war ich einmal unaufmerksam, und der Geißbock hat mir zwischen die Beine gestoßen, so daß ich etwas „krämmig” ging. Ich erzählte den anderen Schülern, daß mich der Bock genepft hat, darüber wurde ich wegen meines „Schwäbala” sehr ausgelacht.
Wenn ich heute zurückdenke, war es bestimmt eine schöne Zeit. Ich war nie unglücklich darüber, daß ich immer in die Fremde mußte. Im Frühjahr ging ich gern fort, aber im Herbst ging ich wieder sehr gerne heim. Manchmal dachte ich mir doch, daß ich auch gern studieren würde, weil manche, die studieren gingen, in der Schule auch nicht gescheiter waren als ich.
Die heutige Jugend hat es bestimmt viel besser, als es in unserer Jugend war, aber wir hatten auch sehr schöne Tage. Ich möchte, glaube ich, meine Jugend mit der heutigen Jugend nicht vertauschen, wenn wir gleich sehr arm waren.”