Oberstdorf auf hohen Schulen - vom 15. bis 19. Jahrhundert (Teil 1)

von Dr. Kurt Eberhard am 01.11.1983

Am Ende des Schuljahres 1982/83 bestanden 48 Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Oberstdorf die Reifeprüfung. Von diesen wollten etwa 78 Prozent einen Beruf ergreifen, der ein Hochschulstudium voraussetzt. Damit liegt die Oberstdorfer Schule etwa im Durchschnitt der bayerischen Gymnasien. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat die Gesamtzahl der Gymnasiasten, der Abiturienten und damit die Zahl der Studierenden erheblich zugenommen. Es ist aber noch gar nicht so lange her, daß die wenigen Oberstdorfer Realschüler, die das Abitur ablegen wollten, an einer Kemptener höheren Schule vorher die Oberstufe besuchen mußten. Zum erstenmal wurde im März 1942 in Oberstdorf die Reifeprüfung abgehalten. Und vor mehr als sechzig Jahren mußten diejenigen Eltern, die an einer höheren Schulbildung ihrer Buben und Mädchen interessiert waren, ihre Kinder schon im Alter von zehn Jahren auswärts - meist in einem Internat - unterbringen.

Die Namen der Schüler aus den letzten sechzig Jahren sind bekannt. Sie sind in Personalbögen und für jedermann sichtbar in den Jahresberichten der Oberstdorfer Schule erfaßt. Wenn wir aber weiter zurückgehen, dann wird unser Wissen recht bescheiden. Und genauso wenig wissen wir natürlich von ihrem weiteren Weg als Studenten an den Universitäten.

Es soll Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, etwas Licht in dieses Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Wir wollen den Oberstdorfer Studenten auf den hohen Schulen, wie man einst die Universitäten auch nannte, nachgehen und den Gymnasiasten, soweit sie in die Matrikeln eingeschrieben waren. Erst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erfolgte die Trennung von Universität und Schule.

Ausgangspunkt unserer Darstellung war das verdienstvolle Werk des verstorbenen schwäbischen Bezirksheimatpflegers Dr. Alfred Weitnauer, das in zehnjähriger Arbeit von einer Gemeinschaft zusammengetragen wurde und 1939 in der Reihe der „Allgäuer Heimatbücher” erschien. Sehr bald ergab sich die Notwendigkeit, das „grüne Buch” Weitnauers in bezug auf die Oberstdorfer Studenten zu ergänzen, standen doch dem Verfasser z. B. keine Unterlagen der Dillinger Universität für das ganze 18. Jahrhundert zur Verfügung. Zu dem von ihm geplanten Ergänzungsband in „späteren Jahren” ist es ja nicht mehr gekommen. - Wir wollen aber auch familiengeschichtlich einige Zusammenhänge aufzeigen, soweit das mit den vorhandenen Quellen möglich ist. Weitnauer hat im Vorwort zu seinem Bändchen selbst geschrieben, daß er „nur eine Materialsammlung, ein Nachschlagebuch für den Heimatgeschichtler und Familienforscher” bieten wollte.

Ein Anliegen ist es für uns auch, wenigstens in Umrissen etwas aus dem studentischen Leben und dem, was man "Universitätsbetrieb" nennt aufzuzeigen. In einem früher erschienenen Aufsatz über „Kempter auf der Hohen Schule zu Heidelberg” sind solche Hintergründe anschaulich dargestellt. - Und schließlich gilt es, ein paar Namen „auszusortieren”. Weitnauer hat zwar eine differenzierende Betrachtungsweise bei dem Ortsnamen „Oberdorf” gefordert und dabei auf ein Betätigungsfeld der „örtlichen Heimatkundler” hingewiesen, andererseits ist er aber offensichtlich davon ausgegangen, daß es sich bei den in die Universitätsmatrikeln eingetragenen „Oberdorfensis” und „Oberstorfensis” bzw. „Oberdorf” und „Oberstorff” um feststehende geographische Bezeichnungen handelt, die damals beim Eintrag schon problemlos waren und auch heute keine weiteren Schwierigkeiten bereiten; denn nur so läßt sich verstehen, daß bei ihm z. B. ein Bernhard Frey unter Oberdorf und ein Josef Unsin unter Oberstdorf eingeordnet wird.

„Die vornehmste Quelle für die Geschichte einer Universität ist die Matrikel.” So schreibt der Herausgeber der Ingolstädter Matrikel, Professor Götz Freiherr von Pölnitz, im Vorwort. Diesen lapidaren Satz will man nicht gerne in Frage stellen. Es kommen aber doch Zweifel auf, ob diese „vornehmste Quelle” genügend Auskunft und auch immer die richtige Auskunft geben kann.

Wir haben in der vorliegenden Arbeit versucht, möglichst viele Oberstdorfer Studenten (und Gymnasiasten) für den Zeitraum von etwa vierhundert Jahren festzustellen. Daß wir alle oder auch nur annähernd alle Studiosi aus unserem Dorf angeführt haben, bilden wir uns bestimmt nicht ein. Es fühlt sich wohl jeder, der Ergebnisse seiner Arbeit mit Universitätsmatrikeln veröffentlicht, dazu verpflichtet, auf die Fehlerquellen dieser Matrikeln hinzu weisen. Manchmal lesen sich diese Hinweise wie Entschuldigungen. Vielleicht ist das auch bei uns so.

Einmal sind nicht alle Studierenden in die Matrikeln eingetragen. Die Bücher wurden zu manchen Zeiten lückenhaft geführt. Das klingt absurd, es war aber so. Ein besonders krasses Beispiel nennt der Herausgeber der Salzburger Universitätsmatrikel, P. Virgil Redlich. Demnach „stehen von 680 Hörern aus Kärnten 51 nicht in der Matrikel”. Auch seien Hunderte von Promovierten nicht in den Matrikelbänden zu finden. Und er kommt nach weiteren Beispielen zu dem Schluß, daß „die Zahl der Studenten höher angesetzt werden (muß) als die der Immatrikulierten”. Salzburg wird in dieser Hinsicht ganz bestimmt kein Ausnahmefall gewesen sein. - Manche Eintragungen waren für die Bearbeiter der Matrikeln nur schwer, gelegentlich sogar überhaupt nicht zu entziffern. Sie waren „flüchtig und schlecht geschrieben”, so daß nicht alle Namen richtig wiedergegeben sind. Zusätzlich muß hier noch erwähnt werden, daß ein und derselbe Name in der Matrikel oft verschieden geschrieben ist.

In vielen Fällen, fast immer bei den Gymnasiasten, hat der Notar, Inskriptor oder Pedell die Eintragung ins Matrikelbuch vorgenommen. Und er hat eben das niedergeschrieben, was er gehört hat oder gehört zu haben glaubte. "Die mundartliche Aussprache der Namen": hat seine Schreibarbeit auch nicht gerade erleichtert. Das betraf nicht nur die Familiennamen, sondern auch die Ortsnamen In früheren Jahrhunderten ließ man sich aber deshalb keine grauen Haare wachsen. Unvorstellbar in unserer heutigen verwalteten Welt! - Schließlich ließe sich noch anführen, daß nicht bei allen Einschreibungen der Herkunftsort des Studenten eingetragen wurde und daß die Latinisierung der Familiennamen manches Rätsel aufgibt.

Das waren alles Gründe für Fehlerquellen, die außerhalb unserer Einwirkungsmöglichkeiten liegen. Wir wollen aber nicht versäumen hinzuzufügen, daß sich Unzulänglichkeiten auch bei uns finden ließen. Vielleicht hätte man manche Matrikel noch einmal durcharbeiten und manches Universitätsarchiv oder manche Universitätsbibliothek noch eindringlicher um Quellen angehen sollen. Aber man muß auch einmal einen Schlußpunkt setzen und die bisherigen Ergebnisse zu Papier bringen.

Was wir vermeiden wollten, waren falsche Zuordnungen. Wir wollten uns nicht mit fremden Federn, d. h. Oberstdorf nicht mit Studenten aus anderen Orten schmücken. Ganz ausschließen läßt sich das freilich nicht. Auch das „Abhorchen” der Namen führt nicht immer zum gewünschten Erfolg.

Jeder Bürger Oberstdorfs, sei er nun Alteinheimischer oder Zugereister, „Gschdudierter” oder Nichtstudierter, der sich mit innerer Anteilnahme den vergangenen Ereignissen seines Dorfes zuwendet, wird ganz sicher an den Lebensläufen oder späteren Schicksalen der einzelnen Studenten interessiert sein. Hier hätten wir gerne mehr geboten, wenn wir nur könnten. Dem an sich berechtigten Wunsch vermochten wir nur teilweise nachzukommen. Wahrscheinlich läßt sich auch in Zukunft hier noch das eine oder andere „ausgraben”; im ganzen jedoch sind dem Erkenntnisdrang auf diesem Gebiet Grenzen gesetzt. Im Zusammenhang mit der geplanten Volkszählung im April dieses Jahres fiel auch das wenig schmeichelhafte Wort vom „totalen Erfassungsstaat”. Bei den Personalien der Studenten aus vergangenen Jahrhunderten ist es wohl eher umgekehrt. Hier wünschten wir uns mehr Angaben. Viel würden wir heute auch darum geben, wenn wir einen Brief, ein Tagebuch oder ein Kollegheft von einem längst verstorbenen Oberstdorfer Studenten in Händen hätten.

Weitnauer stellte für seine „Gemeinschaft von genügend vorgebildeten Mitarbeitern” und für sich fest, daß sein Thema „mehr Arbeit” machte, „als man erwartet hatte” . Auch für uns dürfen wir sagen, daß in dieser Darstellung meist nicht zutage tritt, „welche Steine und Klötze da gelegen haben”.

15. Jahrhundert: Die ersten Oberstdorfer auf hohen Schulen - die Universitäten Leipzig und Tübingen

Die Zeit, als die ersten Oberstdorfer Studenten sich an einer hohen Schule eingeschrieben haben, reicht noch bis ins ausgehende Mittelalter zurück. Im Wintersemester 1463 immatrikulierten sich an der Universität Leipzig am gleichen Tag August Flenß und Heinrich Groß; „de Oberstorff”, wie in der Matrikel steht. Da alle Universitätsmatrikeln in Latein abgefaßt waren, hießen sie Augustinus und Hinricus. Sie haben sich immatrikuliert unter dem Rektor Dionysius Flegk aus Borna. Der Eintrag nach Rektoratszeiten war allgemein üblich. Bei Flenß ist noch vermerkt: „dt. totum” (dedit totum), er hat alles gegeben, die Einschreibegebühren voll bezahlt.

Der Name „Flenß” (Flinß, Fleinß) ist in Oberstdorf für das 15. Jahrhundert mehrmals nachzuweisen, so z. B. unter den Freigelassenen des Jahres 1448, die zuvor Leibeigene des Ulrich von Heimenhofen waren. Als Schmied ist ein Hans Flenß für das Jahr 1489 bezeugt. Weit häufiger taucht in dieser Zeit der Familienname „Groß” auf: beispielsweise bei den heimenhofischen Eigenleuten von 1440, die Erkinger von Heimenhofen an das Hochstift Augsburg verkaufte. 1467 wird ein Weber dieses Namens genannt, der heimischen Flachs verarbeitete.

Wie sind August Flenß und Heinrich Groß überhaupt auf den Gedanken gekommen, ein Studium aufzunehmen? Sie hatten doch im Dorf keine Vorbilder. Was haben sie wohl empfunden, als sie zurückblickend den Oberstdorfer Kirchturm zum letztenmal gesehen haben? Für ihre Verhältnisse und unter den damaligen Umständen haben sie sich auf ein großes und gewagtes Unternehmen eingelassen. Nach mehr als fünfhundert Jahren kann man immer noch den Hut ziehen vor diesen aufgeschlossenen jungen Männern und ihren opferbereiten Eltern.

Daß beide Oberstdorfer mit demselben Ziel weggegangen sind, überrascht nicht. Man trifft das in all den vergangenen Jahrhunderten bei den Studenten öfter an: Sie fanden den „Absprung” besser, hatten mehr Sicherheit bei der Reise und in der fremden Umgebung, fanden gleich den richtigen Ansprechpartner. Unbeantwortet bleibt dabei, warum sie sich Leipzig und nicht das näher gelegene Freiburg als Studienort ausgesucht haben.

Die Fahrt, allein schon ein kleines Organisationsproblem, muß für Flenß und Groß eine Weltreise gewesen sein. Manche Strecke werden sie wohl zu Fuß zurückgelegt haben. Sie konnten über den vielen Eindrücken wahrscheinlich die Beschwerlichkeiten einer solchen Reise teilweise vergessen. Was für Augen mögen die beiden gemacht haben, als sie Kempten und dann vor allem die Wirtschaftszentren Augsburg und Nürnberg gesehen haben. Sollte ihre Fahrt über die bedeutende Reichsstadt Ulm geführt haben, war ihr Erstaunen gewiß nicht geringer. Es muß dann für sie nicht leicht gewesen sein, sich in der Handelsmetropole Leipzig mit ihren vielen Menschen zurechtzufinden. Unter den Studenten sind sie sicher auch mit Bauernsöhnen aus kleinen Dörfern, wie sie es waren, zusammengekommen, aber in der Mehrzahl doch mit den Söhnen des städtischen Bürgertums und des Adels. Und von diesen hatten sie aus den Erzählungen der Alten verschwommene Vorstellungen. Sie bemerkten dann auch die Unterschiede, die weh tun können: das Geld, die Umgangsformen und teilweise die Schulbildung.

Die Universität, die beide gewählt haben, war noch gar nicht so alt. Sie war im Jahre 1409 gegründet worden. Deutsche Magister und Scholaren hatten die Universität Prag aus nationalen Gründen verlassen und waren nach Leipzig gezogen. Der Landesherr, Markgraf Friedrich der Streitbare (seit 1423 Herzog und Kurfürst von Sachsen), forderte als Patron die neue Hochschule. Noch 1409 wurde der Stiftungsbrief die „Universitas Lipsiensis” von Papst Alexander V. ausgestellt, d. h. sie wurde mit den üblichen Rechten und Freiheiten ausgestattet. Der Besitz eines päpstlichen oder kaiserlichen Privilegs galt in Deutschland im 15. Jahrhundert „als das charakteristische Merkmal einer legitimen Universität”. Die Leipziger Universität „war wiederholt nach Besuch und geistiger Bedeutung in Deutschland führend”.

August Flenß und Heinrich Groß mußten vor dem Beginn des Hochschulstudiums ganz sicher in irgendeiner Form eine gymnasiale Ausbildung erhalten haben. Sie hätten ja sonst den lectiones (Vorlesungen) und disputationes (wissenschaftlichen Streitgesprächen), die alle in lateinischer Sprache geführt wurden, unmöglich folgen können. Noch viel weniger wären sie in der Lage gewesen, zwei Jahre nach der Immatrikulation die Bakkalaureatsprüfung abzulegen.

Eine Möglichkeit könnte gewesen sein, daß beide vor 1463 die Schulbank an einer Kloster- oder Stadtschule gedrückt haben. Hier käme z. B. die Stiftkemptische Lateinschule in Frage, weniger wohl die seit 1640 bestehende Stadtkemptische Lateinschule . Es wäre auch möglich gewesen, daß sie sich in Leipzig selbst die notwendige Vorbildung angeeignet haben: denn hier, wie an anderen Universitäten auch, war das Gymnasium in den Universitätsbetrieb eingebaut. Dem widerspricht freilich die allgemein übliche Gewohnheit, daß sich ein junger Mann nur einmal immatrikuliert hat. Wenn diese beiden Erklärungen zutreffen sollten, dann würde das allerdings bedeuten, daß beide schon fünf oder sechs Jahre früher von Oberstdorf weggegangen sind.

Eine deutsche Schule, wie sie im 15. Jahrhundert für den Markt Sonthofen nachgewiesen werden kann, hat es in Oberstdorf wahrscheinlich nicht gegeben. Es ist möglich, daß der Mesner in seiner Behausung eine Art Lehrtätigkeit ausgeübt hat. Die allgemeine Schulpflicht wurde erst Jahrhunderte später eingeführt. Ein solcher Unterricht hätte sich aber nur auf die Vermittlung von Grundwissen (Lesen, Schreiben, Rechnen, Religionslehre) für bestimmte Monate im Jahr beschränken müssen. Eine Erklärung, die man in ähnlichen Fällen gelegentlich hört, daß nämlich der Pfarrer diese gymnasiale Ausbildung vorgenommen haben könnte, ist nicht auszuschließen. Freilich muß dabei bedacht werden, daß die Lateinkenntnisse der Pfarrherrn zu jener Zeit sicher von unterschiedlicher Qualität waren, nicht jeder die notwendigen didaktischen Fähigkeiten besaß und der arbeitsreiche Tag eines Pfarrers auch nur vierundzwanzig Stunden hatte.

Nach einem zweijährigen Studium, am 14. September 1465 promovierte „Hinricus Groß de Oberstorff’ mit 58 anderen Kandidaten zum Bakkalaureus der Artistenfakultät (philosophischen Fakultät) an der Universität Leipzig. Unter dem Dekan Johannes Curiebecke von Stralsund führte Groß die vorgeschriebene Disputation mit dem Magister Udalricus de Fussen. Vor den Namen der Geprüften ist folgender Text gesetzt (hier in deutscher Übersetzung): Im Jahre des Herrn, an einem Samstag natürlich, am Fest der Erhöhung des Hl. Kreuzes, waren durch Los zum Prüfungsamt für die Bakkalaureaten die Unterzeichneten Lehrer aus vier Nationen bestimmt . Dann folgen die Namen der vier examinatores, „ de nacione Saxonum, de nacione Polonorum, de nacione Bavarorum, de nacione Misnensium”. In feierlicher Form wurde der akademische Grad verliehen und nachher mit Magistern und Scholaren - je nach Größe des Geldbeutels - gefeiert.

Wer beim Lesen des Matrikeltextes meinen sollte, hier handle es sich bei den geprüften Studenten durchwegs um Pfarrkandidaten und theologische Examina, der zieht einen falschen Schluß. Drei Punkte sind hier kurz zu erläutern.

Das Gebäude der mittelalterlichen Universität beruhte „ganz auf der Geisteswelt der kirchlich gebundenen Scholastik”. Es konnte auch nur gelehrt werden, was mit den Dogmen der Kirche nicht im Widerspruch stand. Das galt für alle Fakultäten. Diese wichtigen Voraussetzungen haben sich natürlich in der Ausdrucksweise niedergeschlagen.

Wie alle Studenten, so mußten auch die Oberstdorfer Flenß und Groß zunächst die artistische Fakultät, die Fakultät der Artes liberales absolvieren. Diese „freien Künste” bildeten die Propädeutik (vorbereitende Einführung) für die höheren Fakultäten: Theologie, Recht und Medizin. Die Rangordnung war von den französischen und italienischen Universitäten übernommen worden.

Teil 1 Hohe Schulen - Heft 4

Allegorie der sieben freien Künste
Miniatur aus dem Hortus deliciarum
der Herad von Landsberg
(entnommen aus: Weltgeschichte,
Pflugk-Harttung, Bd. Mittelalter, S. 319)

Der Schwerpunkt der mittelalterlichen Artistenfakultät lag auf dem sog. Trivium (Dialektik, Grammatik, Rhetorik); hier nahm die Rhetorik oft eine zentrale Stelle ein. Erst im Zeitalter des Humanismus, meist erst im 16. Jahrhundert, erhielt die Artistenfakultät allmählich und gegen Widerstand den gleichen Rang wie die anderen drei. Es dauerte dann noch erheblich länger, bis der Magister-Grad der philosophischen Fakultät auf die Ebene des Doktorgrades der „höheren” Fakultäten gehoben wurde.

Die Universität Leipzig hatte nach dem Beispiel von Bologna die Gliederung der Studenten in nationes (Landsmannschaften) übernommen. Bei Flenß und Groß wurde sowohl bei der Einschreibung als auch bei der Prüfung zum Bakkalaureus in der Matrikel vermerkt: „De nacione Bavarorum”, von der bayerischen Landsmannschaft, obwohl beide keine Untertanen des Herzogs von Bayern waren. Nach dem anderen großen Vorbild, dem von Paris, hatten die deutschen Universitäten die Fakultätsverfassung eingeführt.

Ein knappes halbes Jahr nach seinem Freund und Begleiter, am 14. Februar 1466, „Sabato ante Invocavit”, trat auch August Flenß „de Obersdorff” zur Bakkalaureatsprüfung an der Universität Leipzig an. In diesem Semester fehlen die Namen der Magister, mit denen die Prüflinge disputieren mußten.

Der Tag ihrer Promotion muß für Groß und Flenß ein wichtiges Ereignis gewesen sein, auf das sie mit Recht stolz sein konnten. Als Bakkalare durften sie gewisse Vorlesungen und Übungen halten und waren berechtigt, in den Bursen als Gehilfen der Magister ihren Unterhalt zu finden. Mit diesem Titel konnten sie aber auch als Stadtschreiber oder Lehrer „eine bürgerliche Existenz” gründen.

Es gibt keinen Nachweis, daß die beiden Oberstdorfer das Studium in Leipzig fortgesetzt haben. Deshalb erfolgte hier auch keine weitere akademische Graduierung. Natürlich will man jetzt wissen, was aus den beiden Oberstdorfem weiter geworden ist. Sind sie an eine andere, vielleicht ausländische Universität gegangen? Welchen Beruf haben sie ergriffen? Hat sie ihr Heimweh noch einmal nach Oberstdorf zurückgeführt? Es sind keine Quellen bekannt, die auf diese Fragen Antwort geben könnten. Wenn sie noch einmal heimgekommen sind, dann sicher nur zu einem kurzen Besuch. Geblieben ist kaum einer. Das gilt auch für die folgenden Oberstdorfer Akademiker. Ihr Heimatdorf konnte ihnen nur in den seltensten Fällen eine Existenzgrundlage bieten. Das sieht bei den Söhnen der großen Städte ganz anders aus.

Die erste der oben aufgeworfenen Fragen scheint bei einem der beiden Oberstdorfer beantwortet. Wir finden nämlich in der Ingolstädter Matrikel (die Universität Ingolstadt war 1472 eröffnet worden) für das Jahr 1474 einen „Heinricus Gross de Oberstarff baccalarius” eingetragen; allerdings ohne Angabe der Fakultät oder Studienrichtung. Solche Fälle hat es zwar selten, aber doch immer wieder einmal gegeben, daß einer nach längerer Zeit (bei unserem Heinrich Groß wären es fast neun Jahre) ein Studium wieder aufgenommen hat. Der Bearbeiter des Registers der Ingolstädter Matrikel war vorsichtig: Hier könne nicht genau bestimmt werden, „welcher der Orte gemeint sei”. Nach unserer Ansicht sind Anhaltspunkte gegeben, die für eine Verknüpfung der Nennung in Leipzig und Ingolstadt sprechen.

Am Ende des 15. Jahrhunderts begann ein weiterer Oberstdorfer das Studium in Leipzig. Im Sommersemester 1492 immatrikulierte sich Konrad Hes. Mit 327 anderen, darunter 182 „de nacione Bavarorum”, wurde er in die Matrikel eingetragen. Als Herkunftsort ist „de Obersdorff’ angegeben.

Die Schreibung „Hes” kann auch für Höß oder für Hüß/Heuß stehen. Dieser Name läßt sich in Oberstdorf im 15. Jahrhundert nachweisen. So erscheint er unter den „Hansen von Haymenhouen seligen aigenlüt zu Obersdorff’ (1477) mehrfach. Welchen Weg Conradus Hes gegangen ist, wissen wir nicht. Von einer Graduierung ist nichts bekannt.

Nach den drei „Leipzigern” muß mit einigen Sätzen das Verfahren bei der Immatrikulation, das Aufnahmeverfahren, dargestellt werden. Es war etwas umständlich. Bestimmte Zeiten für die Einschreibung, wie sie heute festgelegt sind, gab es damals nicht. Die einzelnen Schritte bei der Inskription waren jedoch überall durch die Statuten der Universitäten bestimmt.

Teil 1 Hohe Schulen - Heft 4

Kolleg eines italienischen Gelehrte
im 15. Jahrhundert - Miniatur,
(entnommen aus: Weltgeschichte,
Pflugk-Harttung, Bd. Mittelalter, S. 527)

Zunächst mußten August Flenß, Heinrich Groß und Konrad Hes ihre Gebühren für die Immatrikulation bezahlen; wahrscheinlich beim Pedell. Dann wurden sie zum Rektor geführt, der veranlaßte, daß sie in das Album studiosorum, die Matrikel, eingetragen wurden. In der Folgezeit wurde es allgemein üblich, daß die Neuaufgenommenen den vorgeschriebenen Eid (Gehorsam gegenüber dem Rektor und Beachtung der Statuten) leisten mußten. Erst danach konnten sie beim Dekan der philosophischen Fakultät durch Einschreiben die Zulassung zu dieser Fakultät erhalten. Damit waren sie „akademische Bürger” mit allen Rechten. Schließlich mußten sie sich dann noch beim Leiter der Burse melden, um eine Unterkunft zu erhalten.

Unter einer B u r s e hat man sich „eine Art Internat mit klösterlicher Hausordnung” vorzustellen. Schon früh herrschte Bursenzwang (mit wenigen Ausnahmen). In diesen Bursen, „wo die Scholaren unter Aufsicht eines Magisters gemeinsam wohnten, speisten und auch Unterricht erhielten”, muß es nicht gerade lustig zugegangen sein. In Leipzig standen freilich zwei Häuser mit Sälen für die Vorlesungen und Disputationen zur Verfügung, so daß fast nur der Elementarunterricht in den Bursen abgehalten werden mußte. Die Betreuung hatte sicher Vorteile, aber die ständige Kontrolle, die sich auch auf das Aufstehen und Ausgehen erstreckte, wird nicht jedermanns Sache gewesen sein. Und in einem öffentlichen Wirtshaus durften sich die drei Oberstdorfer auch nicht blicken lassen; der Besuch war durch das Statut von 1458 verboten.

Wenn man in dem Buch von Paul Ssymank das Aquarell betrachtet, das die Bursa bavarica darstellt und in der wahrscheinlich auch Flenß, Groß und Hes untergebracht waren, dann muß man schon vom äußeren Bild her eine solche Unterkunft erbärmlich nennen. Es gab, wie an anderen Orten auch, nur einen heizbaren Raum und „sonst bloß ungeheizte und ärmlich ausgestattete Schlafkammern”. ln Ingolstadt sind die Bursen bereits Mitte des 16. Jahrhunderts verschwunden, in anderen Universitätsstädten teilweise erst im siebzehnten; sicher mit und wegen einer „veränderten Auffassung vom Wesen des Studiums”.

Die im Jahre 1477 von Graf Eberhard von Württemberg in Tübingen gegründete Universität entwickelte sich trotz der Konkurrenz zu Basel und Freiburg zu einer bedeutenden Schule des Humanismus. Sie ist von zwei Oberstdorfern besucht worden.

Am 17. Oktober 1488 wurde ein „Georgius Kreyer de Obersdorff” in das Matrikelbuch von Tübingen eingetragen. „Crastina Galli”, am folgenden Tag nach Gallus, ist vermerkt.

Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Tiefenbacher. Es war damals keine Seltenheit, daß die Schreiber statt des kleinen, unbekannten Heimatortes einen in der Nähe gelegenen größeren Ort angegeben haben; manchmal mit dem lat. Wort „prope” (nahe bei) verbunden. Der Name Krayer kann in Tiefenbach für die Jahre 1451 und 1477 belegt werden.

Gut zehn Jahre später, Oberstdorf war inzwischen das Marktrecht verliehen worden, am 29. Mai 1497, begann „Johannes Pistoris de Oberstorff” mit dem Studium an der Universität Tübingen.

Der junge Mann hat seinen Familiennamen latinisiert. Es war dies eine Modeerscheinung in der Zeit des Humanismus, der damals nicht nur Studenten, sondern auch große Gelehrte folgten. Wenn man das lat. Wort „pistor” mit Bäcker übersetzt, dann muß man für Oberstdorf Fehlanzeige melden; denn der Name „Beck” taucht hier nicht auf. Bei der Übersetzung mit „Müller” (Miller) sieht es anders aus. Er erscheint im sog. Teilungsvertrag von 1361 (allerdings als Frauenname). Häufiger ist der Name in Tiefenbach im 15. Jahrhundert vertreten. Das Register der Tübinger Matrikel führt sowohl Kreyer als auch Pistoris unter Oberstdorf (Bezirksamt Sonthofen, Bistum Augsburg) an.

In dieser Matrikel sind in der Fußnote die zum Bakkalaureus promovierten Scholaren aufgelistet. Aber beide Oberstdorfer werden hier nicht genannt. Sie werden auch nicht in dem Verzeichnis der Magisterpromotionen erwähnt.

Über das weitere Schicksal von Kreyer und Pistoris ist nichts bekannt. Es ist bitter, wenn man nicht mehr bieten kann. Aber vergessen wir nicht, daß es in dieser Zeit viele Einwohner unseres Dorfes gibt (besonders Frauen), die wir nicht einmal dem Namen nach kennen.

Schauen wir am Ende dieses ersten Teils noch einmal kurz zurück. Es konnten nur wenige Namen von Oberstdorfer Studenten genannt werden. Nicht nur, weil ihre Zahl an den beiden Universitäten nicht höher war, sondern auch deshalb, weil es uns zum besseren Verständnis notwendig schien, bestimmte Einrichtungen und Vorgänge zu erklären, die nicht nur die „Leipziger” und „Tübinger” unmittelbar berührten. Neben der Anführung von Namen mußte Grundsätzliches erläutert werden, das im wesentlichen auch für die relativ vielen Oberstdorfer Studenten in den folgenden Jahrhunderten Gültigkeit behielt.

(Fortsetzung folgt)

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