Geschichte und Geschichten - was alte Häuser in Oberstdorf erzählen könnten

von Radulf Graf zu Castell-Rüdenhausen am 01.06.2002

Das heutige »Haus Castell« wurde 1923 in der Fuggerstraße 12 von dem Hamburger Kaufmannsehepaar Benatton errichtet. Die Fertigstellung erfolgte nach den Akten des Brandversicherungsamtes Kempten am 31. März 1924. Es erhielt den Namen »Pension Haus Tanneck«. Benattons wollten am zunehmenden Fremdenverkehr verdienen und suchten daher die Erstellungskosten möglichst niedrig zu halten. So nahmen sie keine einheimischen Firmen, sondern fanden in Schlachters bei Lindau einen Architekten namens Schneider. Dieser versuchte, besonders preisgünstig zu bauen, indem er zum Teil vorgefertigte Elemente verwendete.

Was mag sich der Architekt bei der Planung gedacht haben? Wahrscheinlich nichts! Ein Beispiel sind die Fenster: Im Treppenhaus ist zwar ein Fenster vorhanden, aber es läßt sich nicht öffnen. Will man die Oberlichter reinigen, braucht man drei Arme, um sie zu öffnen (und wer hat die schon). Dazu ist es ratsam, einen festen Hut zu tragen, der den Schlag auf den Kopf mildert, wenn man gleichzeitig rechts und links zwei Federn zurückdrücken muß. - Der Konstrukteur dieses vermaledeiten Systems sitzt vermutlich in der Hölle und muß zur Strafe seine selbstentworfenen Fenster putzen.

Häuser - Heft 40

Das Haus Castell in der Fuggerstraße,
erbaut 1923

Die Konzeption dieser „Schneiderhäuser” war für die Bodenseegegend gedacht mit milden Wintern und wenig Schnee. Daher ist das Dach für Oberstdorfer Verhältnisse viel zu steil. Einheimische Häuser haben flachere Dächer mit verstärktem Dachstuhl, auf denen Schnee liegenbleibt. Ursprünglich war das Dach mit Biberschwänzen gedeckt, eine am Bodensee oder in Franken ausgezeichnete und bewährte Dachdeckung, in Oberstdorf aber eine Katastrophe, da durch übergroßen Schneedruck stets ein Teil der Halterungsnasen abgedrückt wird, mit dem Effekt, daß es mal hier mal dort hereinregnet. Daher ist jetzt ein Energiespardach mit Blechdeckung angebracht worden.

Als mein Vater im November 1927 nach Oberstdorf zog, suchte er ein Objekt, das nahe dem »Haus Edelweiß« gelegen war, wo meine Tante wohnte, mit der er sich gut verstand. Da die »Pension Tanneck« zum Verkauf stand, griff er ungeachtet der Mängel des Gebäudes zu. Er war ein großer Bauherr und wollte neu bauen. Sein baldiger Tod am 1. April 1928 bewirkte, daß ein Neubau unterblieb.

Der Grund für den Verkauf des Hauses von der Familie Benatton war die Nichterfüllung ihrer finanziellen Hoffnungen. Ein Bad und ein WC pro Stockwerk, d. h. für sieben bis acht Personen, war auch in der damaligen Zeit nicht mehr genügend, trotz vorhandenem fließendem Wasser - die Gäste blieben aus.

Es gab immer wieder Überlegungen, das Haus unter Denkmalschutz zu stellen. Da es jedoch keinen typischen Oberstdorfer Stil aufweist und nicht standortgemäß ist, stellt sich die Frage nicht mehr.

Notizen zwischen Schwanberg und Oberstdorf

Der 22. August 1922, 22 Uhr: Meine Geburt war angesagt im Schloß Stein bei Nürnberg. Da ich schon immer etwas zögerlich gegen Neues war, wollte ich nicht zum Vorschein kommen, so daß unser Hausarzt Dr. Preuss die Zange einsetzen mußte. Er war mit meinem Vater befreundet und sehr wichtig als dritter Mann beim Kartenspiel. Obwohl böse Zungen behaupteten, sein eigentliches Talent läge mehr bei den Karten, hat er mich doch glücklich ans Licht der Welt befördert. Anschließend gab es im Hauptraum ziemliche Turbulenzen. Mich verräumte man ins Nebenzimmer auf ein Plumeau, wo ich das erste Gewitter meines Lebens erleben durfte. Draußen blitzte und donnerte es, was das Zeug hielt. Als sich die Turbulenzen wieder gelegt hatten, erinnerte man sich: Da war doch noch was? Natürlich - das war ich, schon leicht blau angelaufen von der ungewohnten Kälte. Vermutlich hat man dann das Badewasser etwas heißer genommen. Meine lieben Freunde behaupten, daß man das heute noch merken würde.

Wie schon erwähnt, zogen meine Eltern im November 1927 mit mir von Franken nach Oberstdorf, nachdem mein Halbbruder Roland die Firma A. W. Faber-Castell übernommen hatte. Leider war mein Vater schon schwer von Krankheit gezeichnet. Das Schloß Schwanberg war unbeheizbar und sollte auch völlig umgebaut werden, so daß wir in Oberstdorf ein Haus suchten. Die Wahl fiel auf das Haus in der Fuggerstraße 12, schräg gegenüber dem »Haus Edelweiß«, in dem Tante Elisabeth, die Witwe von Onkel Gustel, wohnte. Gustav Graf zu Castell-Castell war Oberhofmeister bei König Ludwig II. und Prinzregent Luitpold gewesen.

Onkel und Tante hatten sich damals in München rührend um meinen Vater als jungen Kadetten angenommen und ihn regelmäßig sonntags zum Essen eingeladen. Eines Sonntags waren sie vom König abberufen worden, nach Linderhof oder sonstwohin, und mein Vater stand vor verschlossener Tür. Viel Geld hatte er nicht, aber für ein Bier reichte es noch. Damals war Brot im Gasthaus noch gratis, und so aß er den ganzen Brotkorb leer. Da ging die Kellnerin zum Wirt und sagte: „Da is a Kadett, der sauft a Bier und hat den ganzen Brotkorb leerg'fressen.” „Mei”, hat da der Wirt gesagt, „wird halt an Hunger ham, der Bua, stelln's earn halt no oan hie.” Asta Scheib machte in ihrem Roman über die erste Frau meines Vaters „Eine Zierde ihres Hauses - Die Geschichte der Ottilie von Faber-Castell” aus moralischen Gründen aus dem Bier eine „Apfelschorle”. Ja verreck! Das Gesicht eines Münchner Wirtes in den Jahren um 1870/80 hätte ich sehen mögen, wenn einer bei ihm eine Apfelschorle bestellt hätte.

Häuser - Heft 40

Schloß
Schwanberg/Rödelsee,
heute Tagungs- und Bildungsstätte.

Häuser - Heft 40

Radulf Graf zu Castell-Rüdenhausen

Ein paar Jahre nach dem Tod meines Vater - er ist 1928 in Oberstdorf gestorben - kam ein kleiner Mann zu Besuch, der ziemlich angab und Witze erzählte, die vor allem von Prügeleien handelten. Uns, d. h. meinem Oberstdorfer Freund Viktor Rueß und mir, gefiel das gar nicht. Als er nach vierzehn Tagen wegfuhr, machten wir brav im Hof unseren „Diener”, rannten dann in den zweiten Stock, und als sich unten der Wagen in Bewegung setzte, machten wir drei große Kreuze hinter ihm her.

Zehn Tage später - ich war damals ein ziemliches Mamakind - eröffnete mir meine Mutter, daß sie wieder heiraten würde. Da hatte ich auch gar nichts dagegen und auch schon einen Kandidaten parat, nur war der schon mit Tante Dolly verheiratet. Es war der Onkel Friedrich Rechteren. Ging also nicht. Stattdessen präsentierte die Mutter den kleinen Mann, Rüdiger Prinz zur Lippe-Weißenfeld, den „von den drei Kreuzen”. P. S.: Leider - die Kreuze behielten recht!

Herr Fritz Reulein war Student der Pädagogik und auf seinem Gebiet sehr begabt. Er mußte sein Studium häufig unterbrechen, um für seine Mutter und seinen kleinen Bruder Geld zu verdienen. So kam er zu mir, denn Privatunterricht wurde von den Schulbehörden erlaubt, da wir ja im Sommer auf dem Schwanberg und im Winter in Oberstdorf waren und ein Anpassen an den jeweiligen Wissensstand der Klasse sehr schwierig war. Reuleins Unterricht war etwas unorthodox, aber lebensnah. Das ging ungefähr so: „Mhm, ist das heute ein schöner Tag. Wir können ja das Lateinbuch mitnehmen.” Dann stiegen wir aufs Rad und fuhren den Schwanberg hinunter, bestimmten Insekten und die Blumen auf den Wiesen, die Getreidesorten, besuchten Kirchen und machten Stilkunde, befassten uns mit der Geschichte, dazwischen mal eine Kopfrechenaufgabe. Schließlich endeten wir in Kitzingen im »Cafe Wagner«, wo er mir das Schachspielen beibrachte. Das Lateinbuch ruhte sanft. Ein Jahr bevor ich auf das Internat nach Schondorf am Ammersee kam, mußte Reulein wieder zum Studium [Anm. der Redaktion: Fritz Reulein war später Lehrer an der Oberrealschule in Oberstdorf.]

Ein Herr Denk kam jetzt zu mir, und das Lateinbuch spielte die erste Geige. In Schondorf lebte ich mich anfangs schwer ein, hatte dann aber eine herrliche Zeit. Wir alle waren traurig, als wir nach dem Abitur Schondorf verlassen mußten. Die Aussichten waren nicht rosig - es war Krieg.

Heute wohne ich teils in Schwanberg, teils in Oberstdorf, freue mich über jeden schönen Tag und die Aussicht vom Schwanberg in das weite Land, über den Steigerwald bis in die Rhön und zum Spessart - und in Oberstdorf auf die schneebedeckten Berge.

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1. Vorsitzender
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Brunnackerweg 5
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