Ein Springen an der Haldenschanze vor mehr als 90 Jahren
Im vergangenen Winter durchschritten unsere Skisprunglauf-Fans ein Wechselbad der Gefühle. Unsere erfolgsverwöhnten „Schwarzwaldadler” bekamen zu wenig Luft unter die Schwingen oder waren gar flügellahm geworden. Jetzt konnte die „zweite Garnitur” beweisen was in ihr steckt. Der Bayerwälder Michael Uhrmann und der Oberstdorfer Georg Späth nutzten die Chance und plazierten sich mehrmals unter den ersten zehn der Weltelite (ich weiß, im heutigen Deutsch heißt das „Top ten”). „Schorschi” Späth - zur Unterscheidung von seinem Vater „Schorsch” - hat mit seinen Erfolgen die große Sprunglauftradition Oberstdorfs fortgesetzt. Denn wer kennt nicht die Namen der einstigen Größen wie Sepp Weiler, Heini Klopfer, Toni Brutscher und Max Bolkart oder in jüngerer Zeit Heini Ihle, Rudi Tusch, Peter Leitner und Andi Bauer? Doch lange schon vor all diesen hatte Oberstdorf Skispringer hervorgebracht, die sich national und international bewährten.
Einer von denen wäre heuer am 7. April 100 Jahre alt geworden:
Franz Thannheimer
Bei den Wettläufen des 1906 gegründeten »Skilauf-Verein Oberstdorf/Allgäu”, am 17./18. Januar 1914, startete beim Vereinsabfahrtslauf die B-Jugend (9 bis 12 Jahre) am Wannenköpfle. In der Ergebnisliste dieser Klasse finden wir den 9 Jahre alten Franz Thannheimer auf dem 8. Rang; 11 Minuten und 58 Sekunden war er unterwegs gewesen - nun, er war auch einer der jüngsten. Die Abfahrt war es auch nicht, bei der sich der kleine Franz beweisen wollte. Er hatte andere sportliche Interessen.
Im Jahr 1909 hatte der »Verkehrs- und Kurverein« an den „Halden” einen kleinen und einen großen „Sprunghügel” erbauen lassen. Dort haben sich einige mutige Burschen in der von den Nordländern her bekannten Sportart des Skispringens geübt. Von zu Hause aus, von der Schrofengasse, konnte Franz Thannheimer das beobachten. Skispringen faszinierte ihn, und er sprang nicht nur auf der kleinen Schanze, er ging auch über die große und gehörte dort alsbald zu den Besten. Der große „Sprunghügel”, der Weiten bis zu 30 Meter zuließ, konnte nicht von jedermann genutzt werden, weil er mit einer Kette verschlossen war. Den Schlüssel dafür mußte man sich bei Fritz Gschwender im »Trettachhotel« (im späteren »Nebelhornbahnhotel«) abholen.
Diesen Schlüssel muß sich Franz öfter besorgt haben um zu trainieren, denn in den Siegerlisten der Allgäuer Verbandswettkämpfe im Februar 1921, die - wegen Schneemangel im ganzen Allgäu - auf Schrattenwang ausgetragen wurden, tauchte Franz Thannheimer als Gewinner in der Klasse IIIb auf. Ein Jahr später errang er bei der gleichen Veranstaltung in Nesselwang, hier aber schon in der Klasse lila, den Sieg. Bereits in die Klasse II aufgestiegen, errang er bei den Bayerischen Meisterschaften 1923, mit drei gestandenen 30-Meter-Sprüngen, in Berchtesgaden den 2. Platz.
Beim internationalen Springen in Klingenthal 1924 gewann er die Juniorenklasse und erzielte in Metern die gleiche Leistung wie der Sieger der Klasse I. Ein Jahr später, bei den Schwäbischen Meisterschaften, schaffte der junge Sportler in Isny den Aufstieg in die Klasse I. Jetzt konnte er sich mit den Besten des Landes messen.
Seine sportlichen Erfolge und der Wunsch der „Tourismusmanager”, große Wintersportveranstaltungen nach Oberstdorf zu holen, ermutigten die Clubleitung und den Marktgemeinderat 1925 zum Bau der Schattenbergschanze. Bei deren Eröffnung setzte Franz den ersten Sprung. Bei den Schweizer Meisterschaften 1927 in Chateau d’Oex schraubte der junge Oberstdorfer den dortigen Schanzenrekord auf 55 Meter und wurde danach in die Deutsche Nationalmannschaft berufen.
Er gehörte somit zu der Mannschaft, die Deutschland 1928 bei den Olympischen Winterspielen in St. Moritz vertrat. Beim Training auf der Schanze in Pontresina stand Franz mit 75 Meter den bis dahin weitesten Sprung. Nachdem diese Leistung aber im Probespringen erreicht worden war, konnte sie nicht als Rekord anerkannt werden. In der eigentlichen Konkurrenz, die, wie alle Springen damals, von den Skandinaviern beherrscht wurde, kam er auf den 17. Rang.
Bei vielen Springen im Allgäu sowie im gesamten deutschen Raum finden wir den Namen Thannheimer in den Siegerlisten. In den Jahren 1929 und 1932 errang er im Sprunglauf jeweils den Allgäuer Meistertitel.
In den späten dreißiger Jahren war nur noch wenig vom Oberstdorfer Skispringer Franz Thannheimer zu hören. Sein Beruf hat ihn nach Augsburg geführt, wo er dann für den dortigen Verein startete. Für seinen Sport gab es da keine Trainingsmöglichkeiten und so blieben die großen Erfolge aus.
Er war noch ein waschechter Amateur: von der heimischen Hobelbank weg zum Training und später vom Herd in der Wirtschaft zum Wettkampf führte der Weg des Sportsmannes. Über die Trainingsmöglichkeiten des jungen Mannes habe ich aus einem fliegenden Blatt, das mit „Geschichten aus Hindelang” überschrieben ist und dessen Autor ich nicht kenne, folgende Anekdote entnommen:
„Not macht erfinderisch:
Als die Menschen noch nicht so mobil waren und es keine Mattenschanze gab, hatten Skispringer im Sommer wenig Trainingsmöglichkeiten. Aber wahre Berufung findet immer Mittel und Wege. Und so kam es, daß man dem jungen Franz Thannheimer - gebürtiger Oberstdorfer und beim Hindelanger Sonnenwirt in Lohn und Brot - zuschauen konnte, wie er barfuß aus vier Meter Höhe in den Misthaufen sprang. Immer wieder. In tadelloser Haltung. Sehr zur Verwunderung der Gäste.
Das war im Jahr 1923, und der authentische Bericht ist von Adolf Meier, einem alten Hindelanger Skilehrer.
Dieses Training war von Erfolg gekrönt. Denn bei der Olympiade 1928 in St. Moritz war Franz Thannheimer einer der zwei deutschen Skispringer, die an den Nordischen Wettbewerben teilnehmen durften.
Trotzdem: Nicht jeder wird Olympiateilnehmer, der in einen Misthaufen springt.”
Im März 1962 wurde in der Zeitschrift »Der Winter« über die soeben abgelaufene Nordische Skiweltmeisterschaft in Zakopane berichtet, wo unter anderen auch der Oberstdorfer Max Bolkart an den Start gegangen war. Eine Bildseite, mit der Überschrift „Weltmeisterschaft unserer Väter in Zakopane 1929”, war dem Bericht vorgeschaltet. Ein Foto, mit der Unterschrift: „Die DSV-Mannschaft”, zeigt eine Dame und 12 Herren, wovon einer unschwer als Franz Thannheimer zu erkennen ist. Franz war also auch Teilnehmer an diesem großen Sportwettbewerb gewesen.
Lange nach seiner aktiven Zeit erreichte Franz eine in etwas holperigem Deutsch geschriebene Postkarte mit folgendem Text:
„Kyoto 25. Sept. 1963
Lieber Franz. Es hat mich einen überraschende Freude gemacht als Heini mir erzählte daß Du auch von denselben Ort wie er wohnst. Gruße Dich herzlichst von Deinem alten Ski-Kamerad Take.”
Darunter war mit anderer Schrift zu lesen:
„Dir, Deiner Frau + Merath’s viele herzl. Grüße Heini Klopfer.”
Zur Erklärung sei gesagt: Der Skispringer und Architekt Heini Klopfer hatte die Sprungschanze in Sapporo in Japan geplant und war im Herbst 1963 zur Kontrolle an der Baustelle. Dort traf er mit dem einstigen japanischen Skispringer Take Aso zusammen, der nun eine Funktion im dortigen Skiverband inne hatte. Take Aso war Heini Klopfers ständiger Begleiter bei seinem Japan-Aufenthalt und konnte sich noch bestens an Franz Thannheimer erinnern, mit dem er sich z.B. 1928 auf der Bernina- Schanze in Pontresina sportliche Duelle geliefert hatte.
Franz Thannheimer, Sohn des Schreinermeisters Magnus Thannheimer und dessen Ehefrau Maria, geb. Seelos, verlor schon früh seinen Vater und hat sich als kleiner Knecht in der Landwirtschaft sein Brot verdient. Er erlernte später bei seinem Stiefvater Michael Haug das Schreinerhandwerk. Doch schien dieser Beruf ihn nicht zu erfüllen. Mit 20 Jahren begann er eine Lehre als Koch und Konditor und arbeitete über Jahre in verschiedenen Betrieben im Allgäu und in Augsburg. Doch zog es ihn zu den „Holzwürmern” zurück. Er legte die Meisterprüfung ab und übernahm letztlich die elterliche Schreinerei, die heute sein Sohn Alfons führt. Am 27. Juni 1971 trat der Sportsmann Franz Thannheimer seinen letzten Weg an.