Der „Adlergraf”

von Eugen Thomma am 01.06.2008

Als besondere Titel innerhalb des Grafenstandes kennen wir z. B. den Burggrafen, den Markgrafen, den Pfalzgrafen und den Reichsgrafen; aber der Titel eines „Adlergrafen” bedarf schon einer besonderen Erläuterung. Nicht aus der Sicht eines satten Wohlstandsmenschen heutiger Tage sollte man die folgende Geschichte sehen, nein, sondern mit den Augen eines armen Bergbäuerleins oder eines Jägers zur Mitte des 19. Jahrhunderts, also zu der Zeit, als sich das Ganze zugetragen hat.

Adler, Bär, Luchs und Wolf waren als Herdenräuber bereits über Jahrhunderte verfolgt worden. Den letzten Bären im Oberstdorfer Raum traf 1742 auf der Käseralpe im Oytal die Kugel. Den übrigen pelztragenden Würgern im oberen Allgäu schlug in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die letzte Stunde. Nur noch der Steinadler trieb sein Unwesen in den Schaf- und Geißherden auf den Alpen. Allzuviele der jungen Lämmer oder Kitze wurden zur Beute des gefiederten Räubers. Anstatt als Erlös für so ein Tier im Herbst ein paar Kreuzer zu bekommen und damit dringend notwendige Anschaffungen oder Zahlungen tätigen zu können, mußte ein Bauer erleben, daß das Jungtier von dem „König der Lüfte” zur Atzung seiner Brut geraubt worden war.

Max Förderreuther berichtet 1908 in seinem Buch »Die Allgäuer Alpen« dazu:

„Der Steinadler war wie der Luchs eine schlimme Plage für die Herden. Im Schwarzwassertal (Lechgebiet) konnten noch um 1870 die Schäfereibesitzer von 1500 Mutterschafen nur wenige Junge aufziehen, weil die Adler die meisten raubten. Von einer Herde der dortigen Gegend erbeuteten diese Raubvögel in einem einzigen Sommer sechzig Lämmer. Der Besitzer einer an den Kackenköpfen (im Rohrmooser Tal) gelegenen Alpe verlor zwei Sommer nacheinander sämtliche frischgefallenen Lämmer und Kitzen, die von den Adlern zu ihrem Horst an der Roten Wand geschleppt wurden.”

Ja, und um den Adlerhorst in dieser Roten Wand geht es in unserer Geschichte.

Dem Adler, der damals als Ungeheuer und Bestie bezeichnet wurde, galt nun das Hauptaugenmerk vieler Jäger und deren Herren, denn der große Vogel war auch ihr Konkurrent. Dutzende von Reh- und Gemskitzen, Murmeltiere, Hasen, Füchse, Birk- und Auerhühner schlug ein Adlerpaar in einem Jahr. Fördereuther schreibt, „daß dem Adler als einem schlimmen Räuber das Heimatrecht in unseren Bergen gekündigt worden ist”. Zwei Jäger taten sich bei der Adlerjagd besonders hervor. Max Speiser, der Oberjäger des Baron Heyl, hat in den Oberstdorfer Revieren seines Herrn (Gerstruben, Traufberg, Trettachtal) 59 Adlern die Kugel gegeben. Dem Oberjäger des Prinzregenten Luitpold im Ostrachtal, Leo Dorn, der in seinem langen Jägerleben 78 Steinadler erlegt hat, verlieh man den Ehrentitel „Adlerkönig”. – Heute würden beide Adlerjäger von Naturschützern und Staatsanwälten bis ins hinterste Bergtal aufgespürt und gerichtlich verfolgt werden.

Man begnügte sich in der Verfolgung des großen Vogels nicht nur mit Abschuß und Fallenjagd, sondern man bemächtigte sich auch noch seiner Gelege und der Brut. Dr. Joseph Groß, der über Jahre in Oberstdorf als Arzt gewirkt hatte, beschrieb 1856 in seinem Büchlein »Die Allgäuer Alpen um Oberstdorf und Sonthofen« einen „Adlerfang” im Oytal. Mit Plakaten war auf die Sensation hingewiesen worden. An die 2.000 Schaulustige bis aus Kempten waren zu dem Spektakel gekommen. Auf dem „Krizlesangar” – gegenüber der Adlerwand, die früher Ochsengehrenwand geheißen hat – war ein kleines Volksfest aufgebaut worden. Die Oberstdorfer Blechmusik unterhielt die Menge und zu deren Stärkung gab es heiße Würste und Bier vom Faß. Die Spannung wurde auf den Siedepunkt getrieben, bis endlich der Jagdgehilfe Franz Schafhittel von oben am langen Seil zu dem Horst abgelassen wurde, wo er den Jungadler ausnahm. Diese Tat stand nicht allein, auch am Anatsstein im Stillachtal kam es zu solchen Aushorstungen. Daß jeweils davor die Altadler abgeschossen wurden, gehörte dazu.

Diese „Adlerfänge” waren regionale Ereignisse, die aber in der gehobenen Klasse der bayerischen Jägerschaft wohl kaum zur Kenntnis genommen wurden. Ganz anders aber verhielt sich die Sache im Rohrmoostal. Das Alpgut Rohrmoos war und ist eines der schönsten Hochgebirgsreviere im Allgäu. Wer ein solch herrliches Jagdgebiet hat, der hat auch Jagdgäste; ein solcher war auch Maximilian Bernhard Graf Arco-Zinneberg. Welche Verabredungen zwischen dem Rohrmooser Jagdherrn und dem Gast vorab getroffen waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Graf war jedoch bei seiner Ankunft schon bestens informiert und mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet. Aber lassen wir den Grafen Arco selbst zu Wort kommen:

„Am 13. Juni 1860: Um 7 Uhr Früh in Rohrmoos, einer Besitzung des Fürsten Friedrich zu Waldburg-Wolfegg-Waldsee, im Allgäu, 10 Stunden vom Bodensee, angelangt, hielt ich sogleich Rath mit dem dortigen Schaffner des Fürsten, Johann Weber, der in Rohrmoos aufgewachsen, ganz lokalkundig war, – wie er glaube, daß die Expedition auf die in der sogenannten rothen Wand horstende Steinadler-Brut am besten unternommen werden könne. – Ich endete das Gespräch gleich damit, daß ich früh 8 Uhr schon mit ihm an Ort und Stelle stieg, um Alles selbst zu sehen, und dann aus eigener Anschauung handeln zu können. Die ganze Wand kann ungefähr 4 bis 500 Fuß hoch sein, hängt, an der Höhlung, in der sich der Horst befindet, mindestens 25 Fuß über, und hat eine Breite, die sich den ganzen Berg hindurch, etwa 600 Schritt lang ausdehnt. Durch diese Wand geht, ungefähr in der halben Höhe, in der mittleren Breite von 2 bis 3 Fuß, ein Gamswechsel durch, auf welchem ein sehr geübter Steiger ziemlich leicht durchkommen kann. – Näher als bis hieher, mit menschlichen Kräften zu Horste zu gelangen, war eine ganz absolute Unmöglichkeit.

Es standen auf diesem Gamssteige eine einzelne kleine Tanne unterhalb und ein Roth-Eiben-Busch oberhalb des Horstes, die ich, erstere zum Ausnehmen des Jungen, letztere zum Versteck, um die beiden Alten zu schießen, zu benützen gedachte. – Schaffner Weber und ich holten nun mühsam Äste von Fichten und Tannen herbei und erbauten den Schirm, um durch Passen zuerst die beiden alten Adler zu erlegen. – In der selben Wand befindet sich noch ein zweiter Horst, in welchem die Adler gewöhnlich schon seit mehreren Jahren waren, und dort ist das Schießen der Alten und das Ausnehmen des Jungen (äußerst selten haben sie zwei Junge) sehr leicht; an dem Horste dagegen, wo sie heuer waren, ist noch niemals ein Versuch gemacht worden, weil man es für unmöglich hielt, und ich gestehe selbst, daß es keine leichte Aufgabe ist, der erste Untersucher solcher Möglichkeit zu sein!”

So lauteten des Grafen Eintragungen am ersten Tage.

„Am 14. Juni: Morgens 4 Uhr Prachtwetter. Als ich hinaufgehen wollte, war der Adler schon herumkreisend da, ging aber nicht in die Nähe des Horstes ...”, vermerkte Graf Arco in seiner Notiz und saß wiederum bis zum Abend auf der Lauer. Den vollen Umfang der gräflichen Niederschriften zu bringen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Die Erlebnisse sollen deshalb nur auszugsweise zitiert und kurz beschrieben werden.

Den 17. und 18. Juni verbrachte der Graf, trotz Dauerregen, in seinem Versteck und bekam den Adler jeweils nur kurz und in großer Ferne zu sehen.

„Am 19. Juni: Heute ging ich, da herrliches Wetter war, schon in der Nacht um halb zwei Uhr Früh hinauf; es fror mich aber des furchtbaren Reifes halber bis 6 Uhr Morgens schon so entsetzlich, daß ich nicht glaubte, es noch sehr lange aushalten zu können, als die Ankunft des Adlers gegen 8 Uhr mich wieder etwas erwärmte. Er kreiste eine Weile herum, dann setzte er sich ganz oben auf der Wand, etwa gegen 200 Schritte entfernt, auf einen dürren Baum und verwandte nun keinen Blick mehr von meinem Versteck während voller zwei Stunden! Ich beobachtete ihn während der ganzen Zeit mit dem Fernrohr durch das kleine Schußloch aus dem Schirme und sah deutlich, daß er ununterbrochen ganz ausschließlich zu erspähen bemüht war, ob ich da drinnen sei oder nicht. Seine unzählbaren mannigfaltigen Bewegungen dabei mit Kopf, Hals und Lichtern waren höchst interessant. – Ich beschloß, so sauer es mir auch wurde, mich nicht zu rühren, da er bei seiner Schlauheit sicher die geringste Bewegung entdeckt haben würde. – Das waren zwei sehr harte Stunden. – Jetzt hob er endlich seine langen Schwingen, schoß mit einem einzigen Zuge weit von der Wand weg und verschwand hinter dem Bergrücken. – Ich dachte: Hat er mich jetzt nicht wahrgenommen, so hält er Alles für ganz sicher und holt zuverlässig Futter für den Jungen, kommt er dagegen nicht wieder, dann hat er mich doch im Schirme bemerkt. – Kaum war eine Stunde vorüber, so hörte ich plötzlich nur ein Sausen, und im selben Augenblicke war er schon hart am Horste vorbeigestrichen, hatte mit ebenso großer Schlauheit als Geschicklichkeit das Rehkitz, welches er in den Fängen brachte, dem Jungen bereits auch schon etwas seitwärts hingeworfen und fiel auch schon zugleich, seine langen Schwingen ganz an den Leib gezogen, etwa 200 Fuß senkrecht, wie ein Stein in die Tiefe, wo er dann erst plötzlich seine Schwingen mit einem Ruck ausbreitete und wieder ganz ruhig zu kreisen begann. ...”

Dieses Spiel wiederholte sich am späten Nachmittag nochmal, ohne daß der Jäger zum Schuß kam. Sechzehn Stunden war er an dem Tage unterwegs und davon vierzehn Stunden hinter der Deckung auf einem Fleck gesessen! Am 20. Juni war der Graf schon um zwei Uhr früh zu seinem Versteck aufgestiegen und kam am Vormittag, als der Adler wiederum den Horst anflog, zum Schuß. Die Erfahrungen des Vortages halfen ihm dabei.

Jetzt waren beide Altvögel erlegt. Jetzt mußte schnell gehandelt werden. Mit Schaffner Weber, dem Jagdgehilfen Vogler und zehn Holzknechten begann nun die große Aktion. Von oben wurde ein Seil über die Wand bis zu dem Gemswechsel herabgelassen, Vogler, der sich freiwillig dazu meldete, daran festgebunden und in Richtung Horst hochgezogen. Mit einer Hakenstange sollte er sich unter den Überhang an der Felswand zu dem Jungvogel hinziehen. Der Versuch mißlang. Die Stange war zu kurz und das gedrehte Seil wurde für den Jagdgehilfen zum schnell laufenden Karussell, so daß er rief: „Lont mi ra. I verlier de Verschtond. I wir gonz trimsleg!”

Adlergraf - Heft 52

Einst war dies der Sitz des fürstlichen Schaffners (Verwalters und Försters), heute ist es der Gasthof Rohrmoos.

Adlergraf - Heft 52

Der „Adlerfang” des Grafen Arco-Zinneberg 1860 an der Rothen Wand, nach einer zeitgenössischen Darstellung.

Der Graf und Weber kamen nach einigem Überlegen zu dem Ergebnis, daß dem Jungadler nur mit Hilfe einer Leiter von mindestens 100 Fuß Länge (1 Pariser Fuß = 0,325 Meter) beizukommen sein würde. Die Expedition, die sich über viele Stunden hingezogen hatte, wurde abgebrochen und auf den folgenden Tag verschoben. Die Helfer waren aber in der Nacht nicht untätig. Zwei lange Leitern wurden herbeigeschafft und zusammengebunden; eine dritte Leiter wurde angefertigt und den anderen hinzugefügt.

„21. Juni: Morgens 5 Uhr die drei Leitern nebst Handwerkszeug durch 14 Holzknechte hinauftragen lassen; den Schaffner Weber ganz oben auf der Wand zur Seil-Direktion mit 10 Mann angestellt und angewiesen: dann mit den zwei Jägern Vogler und Baader auf dem Gams=Wechsel unter dem Horst wieder hinuntergestiegen. – Von hier aus war wegen der 25 Fuß weit überhängenden Wand jede direkte Kommunikation mit der oberen Mannschaft sowohl durch Sehen als Hören unmöglich und es mußte also seitwärts ein sehender oder doch wenigsten verständlich sprechender und hörender Telegraph errichtet werden. ...”

Es folgt nun ein ellenlanger Bericht über das Hochziehen und Aufstellen der zusammengebundenen Leitern, was größte Schwierigkeiten bereitete. Als der „technische Teil” erledigt war, stellte sich die Frage, wer diese „Himmelsleiter” besteigen würde. Keiner der Burschen traute sich das Wagnis zu und selbst wenn ihnen der Fürst das ganze Rohrmoos schenken würde – so war die Stimmung. „Nun, dann muß ich eben selbst hinaufsteigen, denn verhungern lasse ich den Jungen, nachdem ich ihm die Alten weggeschossen habe, nicht; herunter muß er! gehe es wie es wolle!”, bestimmte der Graf, ließ sich anseilen und stieg in die Sprossen.

Im unteren Teil hatte die zusammengesetzte Leiter eine Anstellwinkel von ca. 60°, ging in der Mitte in die Senkrechte über und neigte sich im oberen Teil nach rückwärts. Zudem hatten sich die „Techniker” in der Höhe des Horstaufbaues total verschätzt. Nicht 2 Fuß, sondern fast 8 Fuß hoch hatten die Adler im Laufe vieler Jahre mit Ästen, Reisig und Gräsern ihre „Burg” aufgetürmt. Der Jungadler zog sich vor dem Eindringling bis in die hinterste Ecke des Horstes zurück. Nur durch eine List war ihm beizukommen. Mit einem Ast des Horstes erreichte der Graf das Tier, das sich mit seinen Waffen in dem Holzstück festkrallte und so überraschend an den vorderen Horstrand herbeigezogen werden konnte. Auf der obersten Sprosse der Leiter stehen, mit einer Hand sich an dem Geäst des Horstes festhaltend (die Leiter war zu kurz) und mit der freien Hand den sich heftig wehrenden Jungadler bindend, war schon fast Hochseilakrobatik, aber es gelang. Seine Beute an der Leine mitführend, stieg der Adlerjäger wieder in die Tiefe.

Vor den Erfolg hat der liebe Gott bekanntlich den Schweiß gesetzt und der war beim Grafen in Strömen geflossen. Aber auch die Helfer, die mitfieberten und mitbangten, haben manchen Tropfen verloren. Der gefangene Jungadler „reiste” anderntags mit seinem Erbeuter nach München und später an den Königsee, wo er zusammen mit einem vom Grafen vor zwei Jahren am Untersberg gefangenen Adler aufwuchs.

„Hier an der sogenannten rothen Wand
Schoß ich die Adlerin am ersten Tage,
Doch der Papa es meisterlich verstand,
Mir zu bereithen acht Tage Passens-Plage.
Den Jungen holen dann, war auch kein Tand,
War nur auf Leitern möglich – ohne Frage;
Doch fand sich keiner, der ihn oben band
Von vierzehn jungen Burschen in der Lage,
Bis ich mit fünfzig Jahr da oben stand!
Und ihn mit Gottes Hilf’ heruntertrage,
Wohl über hundert Fuß am Horstes-Rand! –
Die Wahrheit glich ganz einer alten Sage!
Rohrmoos, den 21. Juni 1860 M. Arco-Zinneberg”

Der Graf hat sein Rohrmoos-Erlebnis nicht nur prosaisch niedergelegt. Unter dem ersten Eindruck des Erlebten hat er auch den vorstehenden Vers verfaßt. Max Graf Arco-Zinneberg ist in die bayerische Jagdgeschichte des 19. Jahrunderts als der „Adlergraf” eingegangen. Der bekannte Jäger und Jagdschriftsteller Franz von Kobell, ein Zeitgenosse, hat in seinem Buch »Wildanger« auch über die Erlebnisse des „Adlergrafen” geschrieben und diese so einem größeren Kreis zugänglich gemacht. Mir sind vier Aushorstungen des Grafen in den bayerischen und Tiroler Alpen bekannt. Der Adlerfang zu Rohrmoos – der spektakulärste – veranlaßte Ludwig Ganghofer zu seinem Roman »Schloß Hubertus«, in dem er den Adlerjäger mit viel künstlerischer Freiheit als Graf Egge wieder auferstehen ließ. Der Roman wurde bereits einige Male verfilmt, wobei einmal das Oytal der Schauplatz der Aufnahmen war.

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