Das weiße Segel

von Adolf Schleich am 01.06.2009

Leicht wiegten sich die fehlfarbenen Grasbüschel über dem Abgrund im sanften Abendwind. Hoch über dem Balschtetobel hatten sie um diese Zeit schon längst ihre Samen verstreut. Hier, bei meiner Rast auf dem Weg zur nahen Hermann-von-Barth-Hütte, kehrte in mir jene wunderbare Ruhe ein, die nur dem einsamen Bergwanderer geschenkt wird.

Ab und an trug der Wind das Rauschen des Balschtebaches im Grundton des Lechs zu mir herauf, der sich jetzt schemenhaft im dunkelnden Tale meinem Blick entwandte. Jenseits darüber röteten sich die Felsen der Ruitlspitzen im Gold der letzten Sonnenstrahlen. Auf der Hütte war ich, außer ein paar Handwerkern, der letzte und einzige Gast, der sich für die Nacht auf 2.131 m Seehöhe unter der kühnen Wolfebnerspitze eine Bleibe erbat.

Die Lechtaler hießen ihn den „tollen Barth”, jenen Alleingänger, der die Hornbachkette erschloss und nach welchem die heimelige Hütte in diesem Felszirkus benannt wurde. Voniers, die freundlichen, jungen Wirtsleute, bereiteten mir ein köstliches Essen, und beim Roten ergab sich mit den Lechtlern am runden Tisch eine nette Unterhaltung. Man schrieb schon den 13. Oktober 1966 und an der Hütte war noch Verschiedenes für den Winter und den nächsten Bergsommer herzurichten.

Nach einer gut verbrachten Nacht machte ich mich beim Morgengrauen auf den Enzenspergerweg, der die wilde Region der Hornbachkette erschließt. Beim Aufstieg zum Balschtesattel begegnete ich einem alten Lechtler, der nach seinen Schafen sah, die längst ins Tal gebracht werden sollten. Er war an diesem Tag mein einziger Gesprächspartner und keine Menschenseele außer ihm kreuzte meinen Weg. Wie gut ist doch eine kleine, unbeschwerte Unterhaltung mit solchen geraden, einfachen Menschen! Später, wieder allein, merkte ich zunehmend, wie meine Sinne alles wahrnahmen, meine Augen die Felsformationen absuchten. Außer dem monotonen Tritt meiner Griffschuhe vernahm ich nichts als hin und wieder den hellen Ruf der schwarzen Bergdohlen, der mit brechendem Echo in den Felswänden verebbte.

Der kühle Morgen leitete einen strahlenden Sonntag ein. Bei der ersten Brotzeit auf dem Luxnacher Sattel über dem Haglertal spürte ich dankbar die erste, wohlige Wärme. Vom grünen Talgrund grüßten sie herauf, die Zeugen der ältesten Pfarre des Lechtals: die Kirche mit dem Pfarrhof, südlich das Frühmesnerhaus und die alte Martinskapelle mit dem Beinhaus und dem Totentanz von Anton Falger im Friedhof unweit des Dorfes Elbigenalp. Allein standen sie da, inmitten der Fluren, noch unbeeinträchtigt von den Wohlstandsbauten der nachkommenden Zeit. Beim Anblick des schmalen Talstreifens, hinter welchem sich die Seitentäler zu den hohen Lechtalern hinauffurchen, erinnerte ich mich an die landläufige Redensart: „Der Lech ist der eigentliche Grundherr des Tales”.

Segel - Heft 54

Flug über die Hornbachkette:

Im Vordergrund die Gliegerkarspitze mit gelber Felspartie in der Südwand. Ein steiler Grat leitet halbrund zur Bretterspitze, rechts. Vom Gipfel der Bretterspitze führt deren Ostgrat hinab zur Schwärzerscharte (über dem Schneefeld). Von hier zieht sich der Enzenspergerweg steil hinunter durch das große Urbeleskar zum Kaufbeurer Haus.

Über der Schwärzerscharte die bei der Vogelschau wenig hervortretende Urbeleskarspitze.
Links von dieser Elferspitze (2.512 m),
Schwellenspitze (2.496 m)
und Klimmspitze (2.465 m).

Hinter diesen Gipfeln die Liegfeistgruppe mit der Knittelkarspitze (2.376 m), rechts über dem Namloser Tal.

Ganz rechts im Hintergrund, über allen Formationen erhaben, die Zugspitze (2.963 m). Linkerhand der Klimmspitze wird der Blick frei ins Lechtal mit den Orten Forchach und Weißenbach.

Zum linken Bildrand nach unten verläuft die Straße nach Hinterhornbach. Darüber die Grubachspitze (2.100 m), der Roßzahngruppe zugehörig.

Foto: Adolf Schleich

Der weitere Weg windet sich mehrmals auf wenig unterschiedlicher Höhe durch Szenen, die einander gleichen und meine Einsamkeit noch deutlicher machten. Nach einer Linksbiegung um einen Grat oder eine Schulter hat man im Halbkreis nach rechts ein großes Kar auszugehen, dann, wieder nach einer Linksbiegung, wiederholt sich dasselbe mehrmals. Unter den schroffen, weglosen Kalkspitzen breiten sie sich aus: Noppenkar, Sattelkar, Wolekleskar und Gliegerkar. Plötzlich ändert sich diese Rhythmik und mit Hilfe mäßiger Sicherungen bewegt man sich über dunklen Dolomitkalk steil hinauf zur Schwärzerscharte (2.433 m) und wenig links weiter zur Bretterscharte.

Ein neuer Blick nach Westen tut sich auf, majestätisch der Hochvogel und unter dem weiten Urbeleskar, winzig auf grünen Matten noch hoch über dem tief eingeschnittenen Hornbachtal, das Kaufbeurer Haus (2.008 m). Von der Scharte aus türmt sich die trutzige Felsburg der Urbeleskarspitze (2.636 m) auf. Den leichten Ostgrat nach der Scharte verfolgend, gelangte ich bald auf die Bretterspitze ( 2.608 m) und konnte noch bei klarer Sicht im späten Sonnenschein eine prächtige Gipfelschau erleben. Doch der fliehende Tag drängte mich und ich suchte nun auf schnellem Bergab ins Hornbachtal zu kommen. Nach der Scharte aber zeigte sich die Nordflanke für meinen Abstieg vereist und es war höchste Vorsicht geboten. Bei der Überquerung eines steilen Eisfeldes, das aus unzähligen, wie ausgeleckt scheinenden Kalotten bestand, konnte ich dankbar meinen Pickel gebrauchen. Nachdem diese heikle Strecke überwunden war, legte ich auf einer aperen Schutthalde eine Verschnaufpause ein. Die untergehende Sonne hatte mich schon in den abendlichen Schatten gedrängt. Aber das Leuchten des gewaltigen Gipfelblockes der Urbeleskarspitze zog meinen Blick magisch hinauf in den glasklar blauen Äther.

Plötzlich sah ich hoch am Himmel etwas weiß Gleißendes schweben. Fast unmerklich langsam glitt es abwärts ... „Was ist das, es kann ja nicht groß sein?”, dachte ich, denn allzu weit entfernt schien es mir nicht. Wie gebannt verharrte ich auf meinem Standplatz und sah nach oben. Jetzt gewahrte ich deutlich, wie dieses Etwas taumelnd in kreisenden Spiralen abwärts segelte. Was kann das wohl sein, was so hell in der Abendsonne leuchtet? Immer scheinbar noch langsamer glitt es auf mich zu. Wie lange sah ich wohl schon da hinauf? Ich musste das Standbein wechseln. „Federleicht muss es sein”, sagte ich mir. „Wie – federleicht? – eine Adlerfeder”, fuhr es mir durch den Kopf, „– mit schneeweißem Flaum – die gehört mir!”

Das faszinierende Spiel schlug mich derart in Bann, dass ich fast glaubte, meine Sinne würden überfordert. Ich nahm mir streng vor, den Ort und dessen Merkmale mir genau einzuprägen, an welchem mein wunderlicher Fund zur Erde kommen sollte. Doch mit einem Male tauchte die Himmelsschwinge in den Schattenraum und war wie von einem Nichts im dunklen Abgrund verschlungen. Mein Auge konnte sich nicht vom Hellen ins Dunkle zurechtfinden.

Ich rannte wild wie blind an die etwa 100 Meter entfernte Stelle, doch nichts fand ich, gar nichts. Zwar erst arg enttäuscht und doch aufs Tiefste von dem Schauspiel bewegt, setzte ich überglücklich meinen Gang durch die düsteren Latschenfelder ins Hornbachtal fort. Da unten, wo die Lichter schon längst brannten, musste irgendwo das Wirtshaus »Zum Adler« sein, wo ich mir eine fröhliche Zeche und das Nachtlager erhoffte. Nach schier endlosem Abstieg im Dunklen kam ich an.

Benedikt Meister, der Wirt und Schlüsselinhaber vom Kaufbeurer Haus, und ein paar andere „Hinterhornbächler” erzählten noch alte Geschichten über die Beziehungen Hinterhornbachs zu Oberstdorf. Bedächtig zog Benedikt an seiner Pfeife, blies ein paar blaue Schwaden über die Rotweingläser und meinte: „Ja, ja, der Gallimarkt, morge ischt er wieder.” Kaum bewegten sich seine Lippen. Das edle Profil bedeckte eine schwarze Zipfelmütze, unter der ein paar fürwitzige Silbersträhnen hervorlugten.

Lange lag ich später noch wach und dachte über das merkwürdige Ereignis vom Urbeleskar nach ... Wohl hatte es dies zu bedeuten: Etwas Herrliches durfte ich schauen, aber meine Hände sollten nicht danach greifen. Nicht das Besitzen, allein das Schauen war mir zugedacht.

Früh am nächsten Morgen setzte ich meinen Weg über das Hornbachjoch und durch das Oytal fort und traf mich mit meiner Familie zum Stelldichein beim Gallusmarkt in Oberstdorf.

25 Jahre später weilte ich mit ein paar lieben Leutchen in Hinterhornbach im Friedhof des Bergkirchleins zur „Muttergottes vom guten Rat”. Unter den vielen Namen, die alle eine Lebensgeschichte erzählen, fand sich auf einem Holzkreuz: Benedikt Meister † R.I.P.

Kontakt

Verschönerungsverein Oberstdorf e.V.
1. Vorsitzender
Peter Titzler
Brunnackerweg 5
87561 Oberstdorf
DEUTSCHLAND
Tel. +49 8322 6759

Der Verein

Unser gemeinnütziger Verein unterstützt und fördert den Erhalt und Pflege von Landschaft, Umwelt, Geschichte, Mundart und Brauchtum in Oberstdorf. Mehr

Unser Oberstdorf

Seit Februar 1982 werden die Hefte der Reihe "Unser Oberstdorf" zweimal im Jahr vom Verschönerungsverein Oberstdorf herausgegeben und brachten seit dem ersten Erscheinen einen wirklichen Schub für die Heimatforschung. Mehr

Wir verwenden Cookies
Wir und unsere Partner verwenden Cookies und vergleichbare Technologien, um unsere Webseite optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern. Dabei können personenbezogene Daten wie Browserinformationen erfasst und analysiert werden. Durch Klicken auf „Alle akzeptieren“ stimmen Sie der Verwendung zu. Durch Klicken auf „Einstellungen“ können Sie eine individuelle Auswahl treffen und erteilte Einwilligungen für die Zukunft widerrufen. Weitere Informationen erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Einstellungen  ·  Datenschutzerklärung  ·  Impressum
zurück
Cookie-Einstellungen
Cookies die für den Betrieb der Webseite unbedingt notwendig sind. weitere Details
Website
Verwendungszweck:

Unbedingt erforderliche Cookies gewährleisten Funktionen, ohne die Sie unsere Webseite nicht wie vorgesehen nutzen können. Das Cookie »TraminoCartSession« dient zur Speicherung des Warenkorbs und der Gefällt-mir Angaben auf dieser Website. Das Cookie »TraminoSession« dient zur Speicherung einer Usersitzung, falls eine vorhanden ist. Das Cookie »Consent« dient zur Speicherung Ihrer Entscheidung hinsichtlich der Verwendung der Cookies. Diese Cookies werden von Verschönerungsverein Oberstdorf auf Basis des eingestezten Redaktionssystems angeboten. Die Cookies werden bis zu 1 Jahr gespeichert.

Cookies die wir benötigen um den Aufenthalt auf unserer Seite noch besser zugestalten. weitere Details
Google Analytics
Verwendungszweck:

Cookies von Google für die Generierung statischer Daten zur Analyse des Website-Verhaltens.

Anbieter: Google LLC (Vereinigte Staaten von Amerika)

Verwendete Technologien: Cookies

verwendete Cookies: ga, _gat, gid, _ga, _gat, _gid,

Ablaufzeit: Die Cookies werden bis zu 730 Tage gespeichert.

Datenschutzhinweise: https://policies.google.com/privacy?fg=1

Externe Videodienste
Verwendungszweck:

Cookies die benötigt werden um YouTube Videos auf der Webseite zu integrieren und vom Benutzer abgespielt werden können.
Anbieter: Google LLC
Verwendte Technologien: Cookies
Ablaufzeit: Die Cookies werden bis zu 179 Tage gespeichert.
Datenschutzerklärung: https://policies.google.com/privacy?hl=de&gl=de

Cookies die benötigt werden um Vimeo Videos auf der Webseite zu integrieren und vom Benutzer abgespielt werden können.
Anbieter: Vimeo LLC
Verwendte Technologien: Cookies
Ablaufzeit: Die Cookies werden bis zu 1 Jahr gespeichert.

Datenschutzerklärung: https://vimeo.com/privacy