Plötzlich sah ich hoch am Himmel etwas weiß Gleißendes schweben. Fast unmerklich langsam glitt es abwärts ... „Was ist das, es kann ja nicht groß sein?”, dachte ich, denn allzu weit entfernt schien es mir nicht. Wie gebannt verharrte ich auf meinem Standplatz und sah nach oben. Jetzt gewahrte ich deutlich, wie dieses Etwas taumelnd in kreisenden Spiralen abwärts segelte. Was kann das wohl sein, was so hell in der Abendsonne leuchtet? Immer scheinbar noch langsamer glitt es auf mich zu. Wie lange sah ich wohl schon da hinauf? Ich musste das Standbein wechseln. „Federleicht muss es sein”, sagte ich mir. „Wie – federleicht? – eine Adlerfeder”, fuhr es mir durch den Kopf, „– mit schneeweißem Flaum – die gehört mir!”
Das faszinierende Spiel schlug mich derart in Bann, dass ich fast glaubte, meine Sinne würden überfordert. Ich nahm mir streng vor, den Ort und dessen Merkmale mir genau einzuprägen, an welchem mein wunderlicher Fund zur Erde kommen sollte. Doch mit einem Male tauchte die Himmelsschwinge in den Schattenraum und war wie von einem Nichts im dunklen Abgrund verschlungen. Mein Auge konnte sich nicht vom Hellen ins Dunkle zurechtfinden.
Ich rannte wild wie blind an die etwa 100 Meter entfernte Stelle, doch nichts fand ich, gar nichts. Zwar erst arg enttäuscht und doch aufs Tiefste von dem Schauspiel bewegt, setzte ich überglücklich meinen Gang durch die düsteren Latschenfelder ins Hornbachtal fort. Da unten, wo die Lichter schon längst brannten, musste irgendwo das Wirtshaus »Zum Adler« sein, wo ich mir eine fröhliche Zeche und das Nachtlager erhoffte. Nach schier endlosem Abstieg im Dunklen kam ich an.
Benedikt Meister, der Wirt und Schlüsselinhaber vom Kaufbeurer Haus, und ein paar andere „Hinterhornbächler” erzählten noch alte Geschichten über die Beziehungen Hinterhornbachs zu Oberstdorf. Bedächtig zog Benedikt an seiner Pfeife, blies ein paar blaue Schwaden über die Rotweingläser und meinte: „Ja, ja, der Gallimarkt, morge ischt er wieder.” Kaum bewegten sich seine Lippen. Das edle Profil bedeckte eine schwarze Zipfelmütze, unter der ein paar fürwitzige Silbersträhnen hervorlugten.
Lange lag ich später noch wach und dachte über das merkwürdige Ereignis vom Urbeleskar nach ... Wohl hatte es dies zu bedeuten: Etwas Herrliches durfte ich schauen, aber meine Hände sollten nicht danach greifen. Nicht das Besitzen, allein das Schauen war mir zugedacht.
Früh am nächsten Morgen setzte ich meinen Weg über das Hornbachjoch und durch das Oytal fort und traf mich mit meiner Familie zum Stelldichein beim Gallusmarkt in Oberstdorf.
25 Jahre später weilte ich mit ein paar lieben Leutchen in Hinterhornbach im Friedhof des Bergkirchleins zur „Muttergottes vom guten Rat”. Unter den vielen Namen, die alle eine Lebensgeschichte erzählen, fand sich auf einem Holzkreuz: Benedikt Meister † R.I.P.